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Wilmy Verhage: Geschwisterlichkeit: Tochter Europa

Als ich eine Passage aus einem Kapitel Rosenstock-Huessys vorlas, wurde allen Anwesenden plötzlich klar, dass er als Mann an Männer schrieb. Die Stimme einer Frau, meine Stimme, klang entfremdet. Uns wird klar, dass also auch das Lesen für eine Frau anders ist. Ich werde anders angesprochen, eigentlich nicht, aber ich lese über seine Schultern mit. Und ich glaube ihm.

Otto Kroesen hat mir die Frage gestellt: die ganze Gesellschaft wird in die Rolle der Tochter gestellt, was bedeutet das?

Rosenstock-Huessy hat gesagt - ich meine in der Soziologie - das Schlüsselwort für die Tochter ist das Wort ‘bitte’. Als Frage und als Antwort. Das Kernwort für die Mutter ist Danke, und für den Vater und den Sohn sind es Ja und Nein.

Bitte und Danke sind Worte, die in der Zeit wirken: Bitte verändert die Zukunft, Danke würdigt die Vergangenheit. Ja und Nein sind Raumwörter, sie organisieren Räume, obwohl sie natürlich auch in der Zeit wirken: Wenn man ja sagt, kann etwas existieren/leben/wachsen, wenn man nein sagt, tötet man eine Möglichkeit. Nun habe ich im Laufe meines Lebens - ich bin jetzt 79 Jahre alt - gelernt, Ja und Nein zu sagen, zu leben, also muss es auch für Männer möglich sein, Bitte und Danke zu sagen, im richtigen Augenblick.

Der Mensch wird in erster Linie vom männlichen Standpunkt aus verstanden. Ihr Männer habt die Schrift erfunden. Adam bekommt eine Hilfe: Eva, diese Geschichte aus der Bibel wird in jeder Generation neu erzählt und geglaubt, von Christen und Muslimen. So habe ich auch meine bezahlte Arbeit begonnen: als Helferin, als Sekretärin des Geschäftsführers. (Diese Funktion konnte ich dann auch mühelos im Vorstand übernehmen, bitte sehr). Ich bekam auch keine Rente, weil ich heiraten sollte. Zum Glück waren die meisten paternalistischen Praktiken zu meiner Zeit schon verschwunden, aber im Ernst, wir Frauen wurden nicht als gleichwertig angesehen. Eher objektiviert und klassifiziert. Aber genau das wollte ich: ernst genommen werden und mitmachen. Und der Weg führte über Ko Vos und Eugen Rosenstock-Huessy.

Sicher, seit Luther und seiner Katharina ist die Welt der Frauen und Männer zweigeteilt: die Frau hütet das Haus, die Innenwelt, und der Mann geht nach außen. Und zu ihrer Zeit war die Hausarbeit genauso schwer und wichtig wie die Arbeit des Mannes, damit die Familie überleben konnte. Aber die industrielle Revolution erleichterte die Hausarbeit so sehr und reduzierte die Kinderzahl so sehr, dass sie die Frau von ihrem Fluch befreite. Die Frauen hatten Zeit, sich zu bilden, Geld zu verdienen und unabhängig zu werden. Das hat die Beziehung zwischen Männern und Frauen grundlegend verändert. Wir sind weniger verschieden geworden, aber wir bleiben füreinander ein Gegenüber.

Die Art und Weise, wie Frauen und Männer ihren Teil der Welt organisieren, ist unterschiedlich. Männer neigen dazu, von oben herab hervorzugehen, vertikal, siehe in extremis Putin und jetzt auch Trump, und Frauen neigen dazu, zu kooperieren, horizontal: Jede gibt, was sie will und kann, und gemeinsam wird die Arbeit leicht. Ihr Deutschen habt ein Wort dafür: Geschwisterlichkeit. Jetzt, wo die Welt ein Haushalt wird, eine innere Welt, wird die Hausfrau, die weibliche Art, sich zu organisieren, die Geschwisterlichkeit, wichtig.

Um zu überleben, muss Europa zusammenarbeiten, politisch und wirtschaftlich, und das geschieht hier und jetzt. Tochter Europa ist bereits 80 Jahre nach dem 2. Weltkrieg im Werden. Seit dem 10. Februar 1953, als sich sechs Staaten, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien und die Niederlande, Belgien und Luxemburg zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zusammenschlossen. Daraus entwickelte sich später die immer größer und enger zusammenwachsende Europäische Union. 27 Mitglieder sind es heute, und die Ukraine möchte Nr. 28 werden. Eine Familie wird sie, sie ist im Werden, mit allem Ärger und Streit, der dazu gehört. Von außen gezwungen (Russland und Amerika) und von innen gewollt, europäisch zu werden. Geschwisterlich eben. Töchterlich auch.

Aus Revolutionen ist es entstanden, Europa, ein Teil nach dem anderen. Mit dem Papst hat es angefangen, mit Russland hat es aufgehört. Jetzt hätte jeder Staat seinen eigenen Charakter, und gibt seine Ausstattung den anderen in der EU, und so werden wir immer mehr erst Europäer und dann Deutsche oder Niederländer.

Rosenstock-Huessy hat „Die Tochter“ geprägt nach seiner Frau Margrit. Sie hat ihn gerettet, sagt er, weil sie, christlich erzogen (sage ich), in der Lage war, ihm zu glauben, zu verstehen und zu lieben und ihn so aus seiner Einsamkeit zu erlösen. Und nicht nur ihn.

Sie ist eben lebensfähig und liebenswürdig, die Tochter.

Also bitte.

Wilmy Verhage

aus dem Mitgliederbrief 2025-05