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Mitteilungen 2025-05

Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft e.V.

„We’ll see, gentlemen, why Christianity has these two fronts against the empires, and against the tribesman. And let me throw out to make the whole thing more pointed, at this moment. In the tribe, the dead men speak to the living and give them direction. In an empire, the living men speak to the dead and give them direction. It’s very strange. And in Christianity, which has risen above the two superstitions, Christ speaks to the living and the dead. That is, nothing past is already final in its righteousness, and nothing living is.
But in the ancient order, it’s different, gentlemen. In the tribe, the dead are always right. The living are always wrong. Or in danger of going wrong. They have always to be coerced. They always have to be kept in the narrow path. And therefore, gentlemen, really the fiction in this respect, the legal fiction is that everything new has to follow precedent.
The modern judges in America are that part of the modern order which is tribal, because they go by precedent. And you can’t – one branch of life has to go by precedent in order that we have life at all. To live by precedent is today the legal fiction. And the same legal fiction is in a greater score embodied in the medicine man who makes sure that the dead man speaks to the living. Gentlemen, this is terribly important, because there is one task before your generation: to limit the power of corporations. Now corporations are masks. Take that down: corporations, legal persons are masks. They are legal fictions. They don’t exist, unless some living people give them their living blood, their lifeblood. You have no General Motors without Mr. Wilson. Today it seems that we only have Wilsons, because we have General Motors, and that’s why he is in the Cabinet. But it is the other way around, too. That is, the relation of the real life of living people, gentlemen, and the existence of corporations, is the great problem of America. It’s much more important than the problem of capitalism or socialism.
Obviously the problem today is not between any such branch like socialism or Communism on the one-hand side and free enterprise on the other. But the whole problem is: is there still a free entrepreneur, or are there only corporations?” Eugen Rosenstock-Huessy, Universal History, 1954, p.236-238

Vorstand/board/bestuur: Dr. Jürgen Müller (Vorsitzender);
Sven Bergmann; Thomas Dreessen; Dr. Otto Kroesen
Antwortadresse: Jürgen Müller, Vermeerstraat 17, 5691 ED Son, Niederlande,
Tel: 0(031) 499 32 40 59

Mitteilungen Mai 2025

Inhalt

  1. Einleitung - Jürgen Müller
  2. Arbeitsgemeinschaft, bloß von gestern? - Sven Bergmann
  3. Sterbend leben ist das ganze Evangelium - Respondeo etsi Mutabor - Thomas Dreessen
  4. Die vier Evangelien und die Frucht der Lippen - Otto Kroesen
  5. Geschwisterlichkeit: Tochter Europa - Wilmy Verhage
  6. Vormerken der Jahrestagung 17.10. - 19.10.2025 - Jürgen Müller
  7. Adressenänderungen - Thomas Dreessen
  8. Hinweis zum Postversand - Thomas Dreessen

1. Einleitung

Liebe Mitglieder und Freunde,

in den amerikanischen Vorlesungen, ich lese gerade Universal History von 1954, fällt auf wie deutlich Eugen Rosenstock-Huessy die genaue Beachtung der zeitlichen Perspektiven und Abfolgen für die Geschichte pointiert, ja sogar zum Maßstab für Geschichte bestimmtt “Gentlemen, history is that part of the past which is still future. Without which your own aims and goals would make no sense. The discovery of America obviously is the condition under which it only makes sense that you can perhaps travel to Mars tomorrow. If the earth isn’t at least one, you couldn’t possibly figure out the idea to fly on Mars.” (p.32) Dem Kreuz der Wirklichkeit folgend, stellt er im Verlauf der Vorlesung jeden Schritt aus vier Perspektiven mit jeweils neuen Beispielen vor. Eckart Wilkens markiert in seiner Bearbeitung das Präjektiv mit 1, das Innere mit 2, das Trajektiv mit 3 und das Äußere mit 4. Durch die Art der Darstellung ergibt sich ein Reichtum an Referenzen, Beispielen und Neuformulierungen. “… we will add now one more distinction between antiquity and our own era. (1) There were innumerable tribes. A hundred thousand is a low guess. And hundred thousand languages. There were at least thirty different empires, that’s going by the score, not by the hundred thousands. And then there has been the philosophy and the poetry and the art of the Greeks, and there has been the prayer of the Bible, people of the Bible, of Israel. (2) Now in all these four cases, gentlemen, every member of the group was encased and imprisoned totally into its own grouping. If you were a Greek, you couldn’t be a barbarian. If you were a Sioux, you couldn’t become an Apache without – there was some ceremonial, but it was very difficult. … (3) I had a friend among the Indians, a chieftain, who said to me that he managed to make his whole tribe turn Lutheran, because he said it was the only way, Christianity, of making his tribe able to change into a new era, to give up the rituals, the chants, the magic, the dances – but at least be free again to be people like you and me. Very serious, and very fine man. … (4) This is very serious. Take this down, gentlemen. In antiquity, every man was only one thing, and no other.” (p.119-120) Im weiteren zeigt er auf, wie es nicht nur möglich wurde, daß der Sohn einen anderen Beruf wählte als der Vater, sondern, daß wir heute wegen der industriellen Dynamik mehrmals in unserem Leben von neuem beginnen müssen. Dies gehe nicht ohne Schmerzen, erzeuge aber, wenn es gelingt, eine innere Kraft, die im Altertum nur von Neugründern von Stämmen (Helden) gefordert wurde. Das ist das Ermutigende, daß das historische Erbe der vier Altertümer uns befähigen kann und soll, selber neue Schritte zu gehen.

Jürgen Müller

2. Arbeitsgemeinschaft, bloß von gestern?

Aber zum Unterschied von damals gerieten sie in die Gewalt konkurrierender Nationalstaaten, die in ständigem friedlichen und kriegerischen Kampf um die Macht lagen. Dieser Konkurrenzkampf schuf dem neuzeitlich-abendländischen Kapitalismus die größten Chancen. Der einzelne Staat musste um das freizügige Kapital konkurrieren, das ihm die Bedingungen vorschrieb, unter denen es ihm zur Macht verhelfen wollte. Aus dem notgedrungenen Bündnis des Staates mit dem Kapital ging der nationale Bürgerstand hervor, die Bourgeoisie im modernen Sinn des Wortes. Der geschlossene nationale Staat also ist es, der dem Kapitalismus die Chancen des Fortbestehens gewährleistet; solange er nicht einem Weltreich Platz macht, wird also auch der Kapitalismus dauern.1

Wenn ein goldenes Zeitalter ausgerufen wird und das wirksamste Mittel, dieses Ziel zu erreichen Zölle sein sollen, ist vielleicht die beste Alternative, zunächst einmal geistig Atem zu holen und Abstand zu gewinnen. Schon einmal haben die wechselseitige Abschottung einzelner Staaten und der Primat nationaler Egoismen in den Abgrund geführt und nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 unendliches Leid über die Erde gebracht.

Mitten- im Schlachtenlärm holen Handelsämter, Handelskammern, Politiker und Kriegsschriftsteller zur Organisation des wirtschaftlichen Widerstandes aus. Man nennt das: den Frieden vorbereiten. Ein mitteleuropäischer, ein westeuropäischer, ein panamerikanischer, vielleicht ein russisch-ostasiatischer Wirtschaftsblock, all das taucht aus dem Zwielicht der Kriegsläufte auf. Diesen trustartigen Gebilden soll, sobald ihnen der Friede den Lebensodem eingeflößt hat, der große Vorteil innewohnen, dem Gegner mit ganz andern Machtmitteln zu begegnen, als es die alten einzelstaatlichen Einrichtungen vermochten. Vor dem Kriege ging das Streben der Staaten nach Meistbegünstigung und offener Tür; jede Hemmung wurde als Versuch der Kaltstellung, der Einkreisung empfunden. Das soll nun anders werden. Da der Weltkrieg keine Lösung bringt, versucht man den Weltboykott. Man hat dafür manches Vorbild. Vor allem: die Kontinentalsperre Napoleon.2

Es ist ein untrügliches Zeichen für die Fehlsteuerung des Kapitalismus in der Praxis, wenn es wenigen Oligarchen gelingt, märchenhafte Gewinne zu realisieren und gleichzeitig ihre Dienstleister unter Brücken schlafen müssen. Bei funktionierendem Wettbewerb und einer funktionierenden Ordnungspolitik dürfte es solche Verwerfungen gar nicht geben. Aber wen stört das schon, wenn Peter Thiel, der nie viel gearbeitet hat, aber immer gut vernetzt und einen richtigen Riecher für kommende Marktchampions hatte, tolldreist Monopole preist. Und mit ihren durch Arbeit nicht gerechtfertigten Megavermögen kaufen sich Oligarchen weltweit Macht und Meinungsmacht, übernehmen Zeitungen und Verlage, verschaffen sogenannten NGOs das Spielgeld, um Menschen in ihre Richtung zu drehen und setzen Politiker und Parteien unter Druck, die bekanntlich immer ein Problem haben: finanzielle Engpässe. Donald Trumps Kabinett der Raubtiere stellt alles in Frage, was bisher als Lehren aus dem 19. Jahrhundert, dem ungezügelten Walten roher Kräfte und den Lehren der beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezogen worden waren. Eine regelbasierte internationale Zusammenarbeit, die zumindest in ihrem Anspruch für alle Teilnehmer am internationalen Handel gleiche Spielregeln vorsah, selbst wenn die Wirklichkeit gelegentlich deutlich von diesem Anspruch abwich.

Dieser Staat, der auf Diplomatie und Imperialismus gestellt ist, dessen Form und Wesen zum großen Teil aus diesen beiden Tendenzen der Selbstbehauptung durch alle Mittel und der Übervorteilung andrer Gemeinwesen durch alle Mittel hervorgingen, dieser Staat steht, so wie er heute ist, in einem radikalen Gegensatz zu den beiden Ideen, die, wie mir scheint, dem Völkerbunde zu Grunde liegen sollten: zur Idee der unbedingten Heiligkeit des Rechts und zur Idee der unbedingten Heiligkeit der menschlichen Arbeit.3

Von einem „wohlmeinenden Hegemon“ (Charles Kindelberger) kann man angesichts von Donald Trumps Aktionismus, sämtliche Regeln des internationalen Handels unter Vorbehalt zu stellen, kaum mehr sprechen. Noch schwerer wiegt, daß die gesamte Argumentation der MAGA Politik ausschließlich auf Ressentiments baut und kaum die wirklichen Kräfte des internationalen Handels und des mit diesem unverbrüchlich verbundenen unhintergehbaren technischen Fortschritt analysiert:

und zwar sind es ganz bestimmte, dauernd wirksame Ursachen, Grundtatsachen der modernen Wirtschaft, die gleichzeitig den Zerfall der mittelalterlichen Organisationen und die Herrschaft der zwei Tendenzen zur Vergrößerung und zur Spezialisierung der einzelnen Arbeitsprozesse herbei führten: die großen Entdeckungen, da überall neue Märkte und Rohstoffe gefunden wurden, die großen Erfindungen, die immer gewaltigere Maschinen und Hilfsmittel erforderten, die ungeheure Vermehrung der Menschheit, die die Massenfabrikation möglich und nötig machte, schließlich, alles beherrschend und durchdringend, das unerhört vermehrte und verflüssigte Kapital und die Ausbreitung der kapitalistischen Wirtschaftsform über die ganze Erde.4

Wie nachhaltig der „Totengräber der Handelsordnung“ sein wird und was nach dem Wüten von Abrißbirnen und Kettensägen noch Bestand haben wird, bleibt abzuwarten.5 Kommt dann die Guillotine auch zurück? Immerhin lohnt sich der Blick auf alternative Konzepte globaler Ordnung, die, mit einer ähnlichen Herausforderung konfrontiert, die wirklichen Mächte und Kräfte ins Auge fassen, um eine Lösung anzudeuten. Eugen Rosenstock-Huessy stellte 1920 das Konzept der „Arbeitsgemeinschaft“ vor, „ein Vorkriegswort“, „dessen Geschichte geschrieben zu werden verdiente“.6 Ernüchtert durch die Auswüchse des „liberalen“ 19. Jahrhunderts und erschüttert in der Menschenmühle des 1. Weltkriegs deutete er einen alternativen Entwicklungspfad an. Und anders als bisher in der Literatur angedeutet, geht sein Konzept weit über den engeren Rahmen der Erwachsenenbildung hinaus.

Waren und Maschinen sind nicht „du selber“. Es wird aber immer wieder in der Nationalökonomie so hingestellt, als ob Dienste aller Art auch in die Quanten des Rechnungsexempels eingerechnet werden könnten, das sich auf Heller und Pfennig berechnen ließe. Solange Sie diesen Ihren Kollegenirrtum aus der Wirtschaftslehre weiterschleppen, nämlich daß Dienste in Geld abgegolten, dargestellt und verstanden werden können, kann der Weltfriedensdienst nicht funktionieren. Denn dann ist er ja bezahlbar. Man kauft sich Söldner, wie Friedrich Wilhelm I., für den Weltfriedensdienst. Und alles ist in Ordnung.7

Die Zukunft der Arbeitsgemeinschaft

Es mag überraschend klingen, aber der heute geläufige Begriff der „Arbeitsgemeinschaft“ war Mitte des 19. Jahrhunderts nahezu inexistent. In Goethes Sprachuniversum fehlt er ganz. Recherchen in großen Datenbanken zeigen, daß der Begriff erst in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg in Gebrauch kam. In marxistischer Weltsicht klang dieser Begriff schon prinzipiell hohl, da Kapital und Arbeit als unversöhnliche Größen definiert wurden. Vor allem in technischen, medizinischen und bildungspolitischen Zusammenhängen kommen Ende des 19. Jahrhunderts Arbeitsgemeinschaften auf, nahm der Begriff einen rasanten Aufschwung. Für die immer arbeitsteiligere Großforschung in den Natur- und Geisteswissenschaften sprach Theodor Mommsen 1890 von „Arbeitsgemeinschaften”. Mit seiner philologischen Bedachtsamkeit hat der junge Eugen Rosenstock diese Indikatoren registriert und systematisch erwogen, welche gesellschaftlichen Kräfte hinter diesem Aufstieg stehen. Zweifellos erreichte der Begriff seinen Zenit rund um die Revolution von 1918, also im Übergang vom monarchischen Obrigkeitsstaat zur demokratischen Nachkriegsordnung. Schon als Zeitgenosse hatte Eugen Rosenstock konstatiert:

Zum Wesen der Arbeitsgemeinschaft gehört es – soll dies wichtigste Wort der letzten zwei Jahre überhaupt einen geistigen Sinn behalten - , daß ihrem innerstem Wesen verschiedene Menschen sich um des Friedens und der Vereinigung willen zusammen an einen Tisch setzen.8

Eugen Rosenstocks erstes „politisches“ Buch nach der kopernikanischen Wende des Philologen und Historikers mit Blickrichtung auf das dritte Jahrtausend, die planetarische Zukunft, schließt mit drei Prognosen für das Dritte Jahrtausend und das obwohl 1920 das 20. Jahrhundert noch kaum begonnen hatte! Diese drei Kapitel tragen unter dem Mantel „Im Frieden“ die Überschriften „Arbeitsgemeinschaft“, „Die Tochter“ sowie „Menschheit und Menschengeschlecht“. In ihnen beschreibt der Autor wesentliche Tendenzen gesellschaftlicher Entwicklung. Knapp einhundert Jahre später verblüfft die Treffsicherheit – auch der Begriff der Prophetie fiel in diesem Zusammenhang – mit der der Autor wesentliche Tendenzen aus der Fülle der Wirklichkeit destillieren konnte.

Im folgenden wollen wir uns dem Begriff der Arbeitsgemeinschaft nähern, der zwar verschiedentlich schon thematisiert worden ist, ohne aber dessen Bedeutung und historische Dimension zu erfassen.9 Dabei bietet gerade dieser Begriff einige bisher übersehene Einblicke in die Schreibstube und die Arbeitsbibliothek des frühen Soziologen. Gerade der unscheinbare und heute allgegenwärtige Begriff der Arbeitsgemeinschaft ist alles andere als gewöhnlich. Es bleibt richtig: Das der Volksbildung eigentümliche Mittel der Bildung – gegenüber den bisherigen Mächten der geistlichen und der akademischen Bildung – ist die Arbeitsgemeinschaft.10 Aber die Arbeitsgemeinschaft im Verständnis Eugen Rosenstock-Huessys geht weit über diese „pädagogische“ Verankerung in der Erwachsenenbildung hinaus. Im Kern geht es für ihn um die „Politische Bildung“ der Gesellschaft über den bisherigen dominierenden nationalen Kontext der Bildung hinaus. Dies demonstriert er fundamental an einem Satz: „Es soll nicht ein Volk darben, das andere prassen.“11 Hatten bisher die Geistlichkeit und die Akademiker als Vormund des Volkes bestimmt und sind in dieser Form vom Volk auch anerkannt worden, so sei diese Konstellation seit der Revolution von 1918 hinfällig und das nicht nur in Deutschland. Die patriarchale Ordnung habe ihre „natürliche“ Autorität eingebüßt. Bevor wir diesen Gedanken weiter ausführen, widmen wir uns zunächst einmal dem zeitgenössischem Umfeld. Wann taucht der Begriff erstmals auf, in welchem Kontext wird er benutzt und was ist das Neue was in diesem Begriff zum Ausdruck kommt?

Begriffsgeschichte Arbeitsgemeinschaft

Eine Generation bevor Alfred Müller-Armack 1946 den Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft“ „mit großem S“ prägte, deutete Eugen Rosenstock Huessy auf die besondere Konjunktur des Begriffs der Arbeitsgemeinschaft hin, just in dem Moment, des Übergangs des monarchischen (elitären) Obrigkeitsstaats zur demokratischen (Massen-) Gesellschaft. Im zeitgenössischen Begriff der Arbeitsgemeinschaft verdichtete sich für ihn eine Entwicklung, die nach der seelischen Bildung durch die Geistlichkeit des ersten Jahrtausends und der auf naturwissenschaftlichen Erkenntnis beruhenden akademischen Bildung des zweiten Jahrtausends eine neue Lage ergeben hatte. Entsprechend tauchte der Begriff der Arbeitsgemeinschaft weder bei Luther noch bei Goethe oder sonst vor Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Ja, erst in dessen letzten Drittel finden sich vereinzelt Belege, bevor der Begriff dann nach 1900 geradezu explosionsartig Verbreitung fand.

Einer der ersten Belege überhaupt ist vielleicht weniger überraschend als bezeichnend. Der Schüler und Student Eugen Rosenstock war in einem Ausmaß begeistert von Wissenschaft und Forschung, wie wir uns das heute kaum mehr vorstellen können. Und es dürfte nicht zu gewagt sein, in Theodor Mommsen und Heinrich von Treitschke seine frühen wissenschaftlichen Fixsterne zu erkennen. Für Treitschkes Deutsche Geschichte erstellte der Schüler eigens ein Register und er wird auch die anderen Beiträge Treitschkes in seiner Bibliothek gesammelt haben. Treitschkes fünfbändige „Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert“ verklärte die preußische Perspektive auf die Reichseinigung von 1870/71, nahm aber auch durch seine umfangreichen Archivstudien für sich ein. Ganze Generationen von Studenten waren begeistert von seiner heroischen Darstellung der Studentenbewegung im Kampf gegen Napoleon, in der Revolution von 1848 und dann wieder in den drei Kriegen zur Reichsgründung. Hier war die Weltgeltung deutscher Wissenschaft und Forschung auf ihrem Zenit vor dem ersten Weltkrieg schwarz auf weiß in Worte gefaßt. Vielleicht noch prägender für den Schüler war der in Charlottenburger Nachbarschaft wirkende Althistoriker Theodor Mommsen, der für seine dreibändige „Römische Geschichte“ 1902 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, als erster Deutscher überhaupt! Bis heute gilt das Werk als literarischer Klassiker der antiken Geschichte, vergleichbar Jacob Burckhardts „Die Zeit Constantins des Großen“ oder dessen bekanntestem Werk: „Die Kultur der Renaissance in Italien“. Jedenfalls erschien 1905 eine Ausgabe von Reden und Aufsätzen Mommsens in der dieser auf die Arbeitsgemeinschaft in der wissenschaftliche Forschung hinwies, und das just in seiner Antwort auf die Antrittsrede von Adolf von Harnack vor der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften:

Ich meine ihre Gabe, jüngere Genossen zu fruchtbarer Arbeitsgemeinschaft zu gewinnen und bei derjenigen Organisation, welche die heutige Wissenschaft vor allem bedarf, als Führer aufzutreten.12

Dabei hob er besonders die Leistungen Harnacks hervor, die Gegenwart verständlich zu machen, indem er „die gegensätzliche Verschmelzung“ der griechisch-römischen Civilisation mit dem im Orient wurzelnden Christentum verständlich mache.13 Schon 1889 war Max Webers Doktorarbeit zur „Handelsgesellschaft im Mittelalter“ erschienen, die gleich an mehreren Stellen auf die Arbeitsgemeinschaft verweist, die sich aus den ursprünglicheren Familienunternehmen herausentwickelt hatte.

Das ökonomische Problem, diese industriellen Vereinigungen durch die Generationen hindurch zu erhalten, war auch das legislatorische Problem der Zunftstatuten. Zweifellos tritt in den ersten Stadien der Entwicklung der Güterumsatz gegen die Produktion zurück, und wir werden demgemäß eine kräftige Entwicklung der Arbeitsgemeinschaften erwarten, speziell der Familiengemeinschaften; - d.h. die Familie ist die natürliche Basis der industriellen Gemeinschaft, und nur die von den Vätern auf die Söhne und Enkel sich fortsetzende straffe Zusammenfassung der großen Kapitalien konnte deren Machtstellung Dauer verleihen.14

Die Arbeitsgemeinschaften und noch die späteren großen industriellen Associationen haben in ihren ersten Entwicklungsstadien ein auch der Familie eigentümliches Moment, den gemeinsamen Haushalt, mit seinen Konsequenzen in sich aufgenommen, die Familie aber hat sich als Societät konstituiert…15

Die Beziehungen der Arbeitsgenossen waren der Natur der Sache nach dem Verhältnis zwischen Gliedern eines Familienhaushalts ähnlich, und andererseits war der Familienhaushalt, wollte er zugleich Grundlage eines Gewerbebetriebes sein, genötigt, seine Buchführung, sein Auftreten nach außen, kurz: alle in vermögensrechtlicher Beziehung erheblichen Momente, nach Art einer Gewerbegesellschaft zu gestalten. So koinzidierten bei beiden die rechtlich-relevanten Momente. Nur daß bei der Familiengemeinschaft die Grundlage der gemeinsame Haushalt, schon a priori besteht, welcher bei der Arbeitsgemeinschaft inter extraneos erst gewillkürt und geschaffen werden muß.16

Ein weiterer instruktiver Beleg verweist auf Goethes Wilhelm Meister, der Eugen Rosenstock sehr vertraut war, denn er zitierte ihn 1919 selbst beim Rückzug aus seiner Leipziger juristischen Professur.

Anläßlich der Darstellung der idealen Gesellschaft in Goethes Wilhelm Meister wird der Lastträger Christophorus geschildert, der singend mit seiner Last über die Berge geht. In seiner Gestalt wird die schwerste körperliche Arbeitsleistung symbolisiert – und diese fundamentale Arbeitsleistung wird von der Gesellschaft in besonderer Weise gefeiert und vergütet, daß sie mit ganz besonderer Freudigkeit ausgeführt wird. In der Schöpfung dieser symbolischen Gestalt hat Goethe die ganze Weite seines sozialen Horizontes offenbart: Von Tausenden, die auf den Höhen der Wissenschaft oder der Kunst stehen, wird heute die soziale Frage mit der aristokratischen Redensart abgetan: „Es muß eben immer Leute geben, die schmutzige und grobe Arbeit verrichten.“ Damit hat man sein Gewissen beruhigt und sein Zimmer gelüftet von dem Geruch armer Leute. Goethe aber beweist sich darin als ein wahrhaft universeller Genius, daß er, ein Fürst im Reiche des Geistes, voll tiefer Pietät erkennt, daß auch die höchste Kultur ihre Lebensbedingung in der treuen Arbeitsgemeinschaft, dem Zusammenwirken bis hinab zum schlichtesten Lastträger hat und daß gerade das Leben dieses „Letzten“ in besonderer Weise erleuchtete sein muß vor dem Danke all derer, die seine Mühe zu höherer Arbeit frei gemacht hat.17

Die Schrift von Friedrich Wilhelm Förster „Christentum und Klassenkampf“ ist ähnlich instruktiv wie der Sammelband Theodor Mommsens. Förster bringt viele Beispiele der sozialen Frage und des englischen Lösungsversuchs der Hochschulausdehnung (Toynbee Hall u.a.), mit dem sich die Pioniere der Erwachsenenbildung Eugen Rosenstock und sein Heidelberger Studienfreund Werner Picht intensiv beschäftigt haben. Unter anderem verweist er auf die höheren Töchter aus dem Londoner Westend, die sich den Anordnungen ihrer wohlhabenden Eltern widersetzen, um Studien in den schmutzigen, verwahrlosten Ghettos des Eastends zu betreiben. Darüber hinaus gleicht das Verständnis des Christentums, das Förster anmerkt, frappierend dem Ansatz Eugen Rosenstock-Huessys:

Das Christentum kann in unserem „realistischen“ Zeitalter nur dadurch wieder Gehör gewinnen, daß wir Christus nicht nur von oben predigen und seine Autorität für alle Gebiete menschlichen Handelns verkündigen, sondern vor allem dadurch, daß wir induktiv von einzelnen konkreten Lebensproblemen ausgehen und zeigen, daß sie aus ihrer eigensten Natur heraus zu den Lösungen drängen, die allein die christliche Religion darbietet – und daß sich ohne die geistigen Kräfte und Einsichten, die von dieser Seite kommen, zu völlig unentwirrbaren Konflikten auswachsen müssen.18

Ebenfalls auf die wirtschaftliche Bedeutung des Begriffs Arbeitsgemeinschaft verweist 1909 Richard Ehrenberg in dem von ihm herausgegebenen Thünen Archiv.19 Allerdings hat der Begriff bei Ehrenberg eine gänzlich andere Bedeutung, da dieser sich auf die Arbeitsgemeinschaft des jeweils einzelnen Betriebs beschränkt und nicht die nationale oder planetarische Dimension der modernen Arbeitswelt einbezieht. Mit seiner angeblich exakten, objektiven Ökonomik und seiner Nähe zu fördernden Unternehmern zog sich Ehrenberg insbesondere die Kritik Max Webers zu.

Der Kulturwissenschaftler Kurt Breysig auf den Eugen Rosenstock-Huessy verschiedentlich verweist, definiert die Arbeitsgemeinschaft vor dem Weltkrieg vollkommen anders und zweifelt wegen der steigenden Mechanisierung die Zukunft von Arbeitsgemeinschaften grundsätzlich an:

Die Werkgemeinschaft, ihr Gefüge und ihr Geist, sie sind es, auf die es zum zweiten und für alle Schwachen noch viel mehr ankommt als auf jenen Schutz der zu Fördernden. Denn diese sind die Ausnahme, jene aber bedingen den Zustand der Regel; die Werkgemeinschaft genügt beiden Forderungen der zweiten Gruppe: der höheren eines guten Aufbaus der Gesellschaft, der niederen einer Pflege des Bedürfnisses der Schwachen. Und freilich kommt hier auf die Ordnungen und Abgrenzungen viel an. Die heutige Arbeitsgemeinschaft, soweit sie gesunderweise auf Gefolgschaft beruht, d.h. auf der Unterordnung einer Körperschaft unter das Haupt eines Führers, kann in einem großen Teil der Fälle ihres menschlich wichtigsten und wertvollsten Amtes nicht mehr walten, weil sie zu groß geworden ist. Die Mechanisierung des Lebens hat hier die einfachste Form angenommen, die aber an sich schon verderblich genug ist: die der Steigerung von Umfang und Kopfzahl der Wirtschafts-, der Arbeitseinheiten.20

Von besonderem Interesse ist der Verweis von Jürgen Henningsen auf die 1902 erschienene deutsche Übersetzung des Buches von Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes, denn schon Key sieht die Parallele zwischen Ehe und Arbeitsgemeinschaft, die Eugen Rosenstock zwanzig Jahre später aufgreifen sollte.21 Typische Stimmen zur Arbeitsgemeinschaft nach dem Zusammenbruch von 1918 lauten etwa so:

Die Not der Zeit offenbart so eindringlich wie denkbar die Notwendigkeit der Arbeitsgemeinschaft aller Volkskreise. Wir müssen Brücken schlagen zwischen dem kleineren Volksteil, der geistig arbeitet, und dem größer bleibenden Teil unserer Volksgenossen, der mit der Hand schafft, aber geistig hungrig ist.22

Die alten internationalen Arbeitsgemeinschaften zu erhalten und neue ihnen anzugliedern, in ihren Konflikten gerechte Schiedssprüche zu fällen, durch eine systematische Erziehung der geistigen Führer dem Zynismus der Hetzpresse vorzubeugen: in der Rückwirkung einer solchen Tätigkeit auf die großen Nationalstaaten liegt ein Friedensziel, das realer und dauerhafter ist als das aller Absperrungsfreunde.23

Das Kapitel von Ferdinand Tönnies und Eugen Rosenstock-Huessy ist noch nicht geschrieben. Es kann aber gar nicht anders sein, daß das Hauptwerk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ eines der Väter der Soziologie, ein Werk in dem Haus und Haushalt eine Schlüsselrolle spielen, auch ihn beschäftigt hat. Insbesondere die Paragraphen 37 bis 40 des ersten Buches, die dem Thema der Arbeit gewidmet sind, dürften das Interesse des Jüngeren gefunden haben:

Mithin ist eine verbundene Menschheit als natürliches und notwendiges Dasein vorausgesetzt, ja es ist ein Protoplasma des Rechtes vorausgesetzt, als ursprüngliches und notwendiges Produkt ihres Zusammenlebens und Zusammendenkens, dessen fernere Entwicklung wesentlich durch seine gleichsam eigene Tätigkeit, nämlich durch den vernünftigen Gebrauch seines Urhebers geschehen sei.24

Im ersten Band von Eugen Rosenstocks Soziologie von 1925 finden wir folgende Ausführungen:

Berühmt ist die Einteilung aller menschlichen Sozialformen in „Gesellschaft” oder „Gemeinschaft” durch Tönnies geworden. Sie ist zwar nicht ohne Kritik geblieben, aber beherrscht doch sehr weitgehend die populäre Sozialliteratur. Tönnies nennt — roh ausgedrückt — Gemeinschaft die gewachsenen, organischen, unbewußten Gebilde, Gesellschaft alles bloß organisierte, zweckhafte, technische Zusammenleben. Die Tönniessche Einteilung — die auch im Ausland sehr beachtet worden ist — ist neuerdings gefördert worden, indem Hermann Schmalenbach, (an Max Weber anknüpfend), als dritte Kategorie — durch gewisse moderne Bünde und Gemeinschaften aufmerksam geworden — die des „Bundes” als der Begeisterungsform des Zusammenlebens herausgearbeitet hat. Derselbe Schmalenbach hat bereits eine vierte rein religiöse Grundform angedeutet, die er aber ohne Namen läßt und auf Altertum, Mittelalter, Neuzeit und Spätzeit der Völker bezogen. In demselben Band der Dioskuren (1922) gebraucht Joachimsen für diese vierte Form das Wort „Gemeinde”.25

Auch Tönnies führt den Begriff der Arbeitsgemeinschaft in seinem Hauptwerk an:

Wilbrandt sieht als „soziologisch entscheidende formale Gegenüberstellung: ob nun Einer wirtschaftet, oder ob mehrere (zwei oder mehr) wirtschaftend gedacht sind …“. Erstere Form nennt er „Alleinwirtschaft“, letztere „Tauschwirtschaft“ (Wilbrandt 1920: 107). Bei der Beschreibung beider Formen bezieht Wilbrandt sich auch auf Tönnies: „Die Gesellschaft ersetzt nun im großen, was nur die engen Gemeinschaften geboten hatten, so lang Alleinwirtschaft herrschte: sie macht, in weit größerem Maßstab, die Arbeitsgemeinschaft und Arbeitsteilung möglich, in ihr hat jeder nun seinen Platz, er ist nicht mehr angewiesen auf jene früher ihn tragenden und damit fesselnden Gemeinschaftsarten. Die Gemeinschaft löst sich in die Gesellschaft auf (Tönnies).“ (ebd., S.117).26

In diesem Verständnis wäre Arbeitsgemeinschaft eine neue Erscheinungsform gesellschaftlicher Ordnung, die von der eigentlichen Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft bei Tönnies abweicht.

In das engere Umfeld der Volksbildung führt der Gebrauch der Arbeitsgemeinschaft bei Robert von Erdberg.

Die Protagonisten dieser reformpädagogischen Konzepte um Robert von Erdberg, Werner Picht, Walter Hofmann, Theodor Bäuerle, Eugen Rosenstock und Wilhelm Flitner – zeitweise auch Martin Buber – schlossen sich im „Hohenrodter Bund“ zusammen und prägten die deutsche Volksbildungs-Bewegung.27

Dem Pionier der Erwachsenenbildung widmete Eugen Rosenstock-Huessy eine Ehrung zum 80. Geburtstag, außerdem ist ihm die Gemeinschaftsschrift mit Werner Picht gewidmet.28 Schon 1910 gab Erdberg im „Verlag der Arbeitsgemeinschaft“ sein Volksbildungsarchiv heraus und unter seiner Leitung wurde ab 1919 die Zeitschrift „Die Arbeitsgemeinschaft“ herausgegeben, bis zur Umbenennung 1924 in „Archiv für Erwachsenenbildung“.29 Eugens
Freund Werner Picht zog seit 1919 als Referent im preußischen Kultusministerium die Fäden bei der Institutionalisierung der Erwachsenenbildung.30 Im Begriff der Arbeitsgemeinschaft sah der Kreis um Robert von Erdberg den Gedanken der Erwachsenenbildung überhaupt auf den Punkt gebracht:

Die überschaubare Zahl – „die Arbeitsgemeinschaft“ – wird zum Verwirklichungsprinzip. Aber ein Ausgehen vom Menschen und das Prinzip der Lebensnähe erfordern auch, daß nicht gebende Lehrer und nehmende Hörer, sondern der Austausch, das gegenseitige Geben und Nehmen die Situation in der Arbeitsgemeinschaft prägen.31

Die Arbeitsgemeinschaft ersetzt nicht die geistliche oder die akademische Bildung, aber sie zeigt deren grundsätzliche Begrenzungen. In diesem Zusammenhang soll ein Schatten nicht verschwiegen werden, der auf den Begriff der Arbeitsgemeinschaft fällt. In den heimlich abgehörten Gesprächen der deutschen Generäle in englischer Kriegsgefangenschaft fällt der Hinweis auf die außerordentlichen Leistung Hitlers, die Arbeiter an den Staat herangeführt zu haben:

Denn dieses Prinzip der Arbeitsgemeinschaft, dieser Gedanke, dass der Unternehmer eigentlich der Treuhänder ist des Kapitals der deutschen Arbeit und des sonstigen Kapitals, das klingt so einfach, und das hat noch niemand fertiggebracht.32

Besonders aufschlußreich ist der Kommentar von Friedrich Naumann zum ersten Soziologentag „Technik und Kultur“, der vom 19. bis 22. Oktober 1910 in Frankfurt am Main stattgefunden hatte. Hier wird der Begriff der Arbeitsgemeinschaft in dem Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung von der Familie über den Stamm bis zu Staat und Partei eingeordnet. Obwohl es sich um eine besonders lange Passage handelt, sei sie hier vollständig dokumentiert, da sie nicht leicht zugänglich ist und plastisch das Umfeld beschreibt, in dem sich der Student Eugen Rosenstock orientierte. Später sollte er selbst drei Aufsätze zu Naumanns Zeitschrift „Die Hilfe“ beisteuern. Sein Schwager, der Jurist Hermann Kantorowicz hielt selbst ein Referat in Frankfurt. Ist es übertrieben in diesem Kommentar den Anknüpfungspunkt für den Soziologen Eugen Rosenstock-Huessy zu finden, der fünfzig Jahre später sein soziologisches Hauptwerk vorlegen konnte?

Im Herbste des vorigen Jahres fand in Frankfurt a.M. eine Versammlung statt, die eine Verständigung über die neue Wissenschaft der Soziologie herbeiführen sollte. Der erste Eindruck war kein besonders günstiger, denn es zeigte sich, daß über die allerersten Elemente des neuen Untersuchungsgebietes eine auch nur notdürftige Übereinstimmung nicht vorhanden war. Immerhin zeigte die Tagung, daß vielerlei Geistes lebendig sind, die etwas Gemeinsames suchen. Es ist das Gebiet, auf dem in der Vergangenheit Comte, Spencer, Schäffle, Gumplowicz und Ratzenhofen sich betätigt haben, und welches heute besonders von den Brüdern Max und Alfred Weber, Tröltsch, Sombart, Simmel, Tönnies, Barth und Michels bearbeitet wird. Schon die Nennung dieser Namen zeigt, daß ein großes, sehr vielgestaltiges Problem vorliegt und daß es sich nicht bloß um eine wissenschaftliche Spielerei handelt. Die menschliche Erkenntnis sucht nach einer neuen Art, die Einsicht in das menschliche Wesen zu vermehren. Was ist das Neue?

Als seinerzeit Schäffle langatmige und schwer verständliche Bücher über „Bau und Leben des sozialen Körpers“ veröffentlichte, verlor er sich in übertriebener Ausnutzung eines an sich richtigen Grundgedankens. Er ging davon aus, daß in der menschlichen Gesellschaft etwas ähnliches sich findet wie beim Aufbau des menschlichen oder tierischen Körpers: aus vielen Einzelzellen erbaut sich ein Lebewesen, das noch etwas anderes ist als bloß die Summe seiner einzelnen Teile. Wie der Körper sich aus Zellen zusammenfügt, so setzt sich die Gesellschaft (die Familie, der Volksstamm, die Arbeitsgemeinschaft, die Partei, der Staat) aus Einzelmenschen zusammen, wie aber auch das sorgfältige Studium der Zellen noch keine Physiologie des lebenden Organismus schafft, so schafft auch die bloße Einzelbeobachtung des Menschen noch keine Gesellschaftslehre. Die Arbeitsteilung und gegenseitige Abhängigkeit im Körper ist ein Wissen für sich. Das, was Schäffle übersah, ist aber die Verschiedenheit, die darin liegt, daß die Entstehung der Menschengesellschaft nicht ohne weiteres nach dem Vorbilde der Zellengesellschaft vor sich geht. Der Stoffwechsel im Körper und in der Gesellschaft sind nur äußerlich ähnlich, aber nicht gleich; es gibt in der Gesellschaft nicht Magen, Herz, Lunge, Gehirn als feste örtlich begrenzte Apparate. Man muß deshalb den Vergleich nicht behandeln, als ob er mehr als ein Gleichnis sei. Das heißt mit anderen Worten: der Physiologe hat dem Soziologen nur wenig zusagen.

Etwas mehr schon würde der Zoologe zu sagen haben, wenn er selbst über das Gesellschaftsleben der Tiere bis zu vollen Einsichten gelangt wäre. Aber hier fehlt es bisher. Wir erfahren viel Schönes und Interessantes vom Ameisenstaat, vom Bienenstock, von der Affengesellschaft, vom Hühnerhof, aber eine Art Naturlehre der Tierverfassung an sich scheint sich aus dem allem nicht zu ergeben, da die Tiergesellschaften unter sich außerordentlich verschieden sind. Wie kann auch eine Gesellschaft von Fliegern und eine solche von Vierbeinern dasselbe sein! Der Mensch aber als Zweibeiner und Handverwender ist wiederum eine Nummer völlig für sich. Es wird auch auf diesem Gebiete zwar Ähnlichkeiten geben, aber schwerlich gemeinsame Gesetzte.

Läßt man deshalb Physiologie und Zoologie hinter sich, so meldet sich die vergleichende Volkskunde, die Wissenschaft von den Sitten, Gebräuchen, Rechten der untergegangenen und der noch lebenden Völker. Auf diesem Gebiet haben wir Deutschen in der Person von Adolf Bastian das größte Sammlertalent gehabt, das es überhaupt geben kann. Die Summe der aufgespeicherten Kenntnisse ist Legion, nur wächst mit der Menge des Stoffes die Schwierigkeit, etwas Bestimmtes aus ihm zu lernen. Es entsteht der Eindruck, daß überall unter allen Himmelsstrichen sich gelegentlich verwandte Entwicklungen wiederholen, daß aber daneben jeder Stamm und jeder Winkel seine Absonderlichkeiten hat, die vorläufig nichts sind als Kuriositäten. Der Versuch, den Häckel in der „generellen Morphologie der Organismen“ gemacht hat, die Pflanzen und Tiere nach Stammbäumen und Verwandtschaften zu ordnen, kann innerhalb der Menschengesellschaften noch nicht mit Erfolg unternommen werden. Trotz aller Mühe, die Gobineau und seine Nachfolger, darunter auch Woltmann, sich gegeben haben, die Ursprünge und Gegenseitigkeiten der Rassen zu klären, gibt es hier noch viel Dunkel und wenig Licht. Was weiß man denn eigentlich vom Ursprung der Menschheit? Es ist fast nichts. Der Ausgangspunkt ist in unverkennbarer Ferne, und deshalb fehlt die Möglichkeit einer festen theoretischen Betrachtung.

Die ganze Sache wäre natürlich sehr viel einfacher, wenn die Theorie der reinen Marxisten als des Rätsels letzte Lösung gelten dürfte. Nach ihr nämlich sind alle Unterschiede des Rechtes und der Sitte nur Folgeerscheinungen wirtschaftlicher Vorbedingungen. Ein Stamm erhält seine Eigenart von der Wüste, ein anderer vom Hochgebirge, der eine arbeitet ohne Feuer, der andere versteht Bronze zu schmelzen usw. Aus der Mischung von Geographie und Technik entsteht alles übrige. Das wäre sehr nett, wenn es ausreichend wäre, denn dann könnte man Klassen von Bodenbeschaffenheiten und Feuerverwertungsstufen machen, aus denen man die Herrschafts- und Gesellschaftsverhältnisse ableitet. Ohne die Stärke der materialistischen Theorie ganz zu bestreiten, wird doch heute kein ernsthafter Forscher mit ihr allein auskommen. Die Gruppen von Gelehrten, die sich heute Soziologen nennen, sind bei aller Unterschiedlichkeit darin einig, daß sie keine reinen Materialisten sind. Sie suchen nach gesellschaftbildenden Kräften, die im Blut oder in der Seele liegen, und stehen darum wieder einmal vor den uralten dunklen Mächten: Rasse und Religion. Das neue Buch Sombarts über das Judentum ist sehr charakteristisch für diesen Vorgang. Sombart war von Haus aus Marxist und Materialist, und auch jetzt noch finden sich bei ihm Nachwirkungen dieser Denkweise, aber im Vordergrund seiner neuesten Arbeit steht etwas andres, ein Suchen nach Völkerpsychologie: Gesellschaftswissenschaft als Seelenkunde. Der Kapitalismus, der ihm und andern früher als eine Betriebs-, Rechts- und Wirtschaftsform erschien, wird ihm zur Gesinnungsangelegenheit. Die Moral hält wieder ihren Einzug, aber sie kommt diesmal als geschichtliche Wissenschaft, als die Lehre von den Denkweisen der arbeitenden und handelnden Menschen. Der wollende Mensch ist Subjekt der Menschheitsgeschichte. Als Wollender aber ist er Gesellschaftswesen. Der Wille ist Gemeinschaftserscheinung. Wer kann ihn fassen, deuten, erklären?

In gewissem Sinne nähert sich damit die Wissenschaft wieder dem älteren Liberalismus, aber eben nur in gewisser Art. Das seelische Element steigt wieder im Wert, nur wird es sozialer gefaßt. Der alte Liberalismus ging vom Einzelmenschen aus, als sei er das A und O der Begebenheiten. Dieser Einzelmensch ist für uns zur Erscheinungsform geworden. Er ist nichts als ein Stück innerhalb einer gesellschaftlichen Bewegung. Es gibt keinen Einzelgeist für sich. Aber es gibt Geist. Vom Marxismus ist der Materialismus hinweggestrichen und vom liberalen Idealismus der Individualismus. Damit ist die allgemeine Richtung der Soziologen gegeben. Es kommt etwas wie eine neue Geschichtsauffassung , noch aber kommt es nebelhaft und tappend. Immerhin ist es bedeutungsvoll, daß selbst eine so ehrwürdige Organisation wie der von Professor Schmoller geleitete Verein für Sozialpolitik sich in den Dienst dieser Arbeit stellt, indem er Untersuchungen über das geistige, familiäre, gesellschaftliche Leben der Industriearbeiter veranstaltet, die in den alten Begriff von Volkswirtschaft nicht hineinpassen. Hoffen wir, daß etwas Wertvolles dabei herauskommt.33

Eugen Rosenstocks Sicht der Arbeitsgemeinschaft

Der Text Arbeitsgemeinschaft, der 1920 zunächst in der Schrift „Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution“ erschien und kurz darauf in einer unwesentlich verkürzten Fassung in der von Eugen Rosenstock als Chefredakteur betreuten Daimler Werkzeitung, ist mehr als ungewöhnlich. Zwar greift der Autor die gerade von Arbeitgebern und Arbeitern auf nationaler Ebene vereinbarte Arbeitsgemeinschaft auf, aber die Beispiele die er anführt sind ungewöhnlich drastisch und eigentlich absurd. Er spricht von der Feindschaft zwischen Feuer und Wasser, ja von ihrem Haß. Wie können sich Elemente hassen? Dann wiederum vergleicht er den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit mit einer Ehe. Dabei treibt er den Konflikt auf die Spitze indem er den Kampf der Geschlechter als den heftigsten und rücksichtslosesten beschreibt, zu dem Menschen fähig sind:

Nichts klafft so himmelweit auseinander unter aller Menschenart, wie Weib und Mann, wie die beiden Geschlechter.34

Hier flössen „die heißesten Schmerzens- und Reuetränen“, hier drohten Unterjochung und Verrat. Was hat das alles mit der Wirtschaft zu schaffen, muß sich der verdutzte Leser fragen. Aber gerade hier liegt der Kern der Argumentation von Eugen Rosenstock-Huessy. Er sieht den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital, zwischen Arbeitern und Unternehmern nur als einen Unterfall des leidenschaftlichsten Kampfes, dessen Menschen fähig sind, dem Kampf der Geschlechter.

Denn die Trennung zwischen den Menschen ist tausendfältig. Nicht nur Mann und Weib, auch Eltern und Kinder, Führer und Geführte, Geistliche und Laien, Offiziere und Soldaten, Arbeitgeber und Arbeiter leben sich auseinander; und das Volksleben droht sich so immer, ganz wie die blinde Natur, in seine Bestandteile aufzulösen.35

Ähnlich drastisch formulierte etwa gleichzeitig Max Weber:

Die Kapitalrechnung in ihrer formal rationalsten Gestalt setzt daher den Kampf des Menschen mit dem Menschen voraus.36

Just bei den Geschlechtern sieht Eugen Rosenstock den Ansatz einer Lösung oder zumindest einer Befriedigung dieses leidenschaftlichen Konfliktes. Die Ehe zwischen Mann und Frau ist für ihn maßstabsetzend für alle menschlichen Friedensschlüsse, also auch im Fall des Gegensatzes von Kapital und Arbeit:

Wie die erste technische Erfindung vorbildlich bleibt für all die viel größeren nach ihr, so bliebt die Ehe das erste Beispiele eines geglückten geistigen Gesetztes. Auf sie wird jeder blicken müssen, der den Schlüssel zum Friedenstore seines eigenen Streitfalles sucht.37

So wie der Mensch die natürlichen Elemente Feuer und Wasser in der Dampfmaschine und in der Schmiede zu produktiver Arbeit gebändigt habe, so sollte auch die Arbeitsgemeinschaft zu fruchtbarer Zusammenarbeit von Arbeitern und Unternehmern führen.

Der durch die Verblendung der Leidenschaften entstandene Riß in der Natur wird durch die Großtat der Ehe, ihre Erfindung und Einsetzung geheilt.38

Im Konflikt zwischen Kapital und Arbeit übersetze sich die Ehe als Arbeitsgemeinschaft. In der Zentralarbeitsgemeinschaft zwischen den Verbänden der Industriellen und der Arbeiterschaft sieht er den zentralen Ansatz einer Wirkensgemeinschaft just zu dem Zeitpunkt wo die bisherige Wirkensgemeinschaft des deutschen Volkes zerbrochen war.

Die Gegenparteien vereinigen sich in einem Zimmer; sie setzen sich einer dauernden gegenseitigen Berührung, Reibung und Beeinflussung aus, so unbequem das auch sein mag.39

Von diesem Beginn aus habe sich der Grundgedanke in einer gewaltigen Pyramide über die gesamte Arbeitswelt in Deutschland verbreitet und sei schon kurz darauf auch vom Gesetzgeber aufgegriffen worden: „Heut ist sie längst der Kern einer ganz neuen Rechtsepoche geworden“.40 Ab diesem Zeitpunkt würde die Arbeit auf eine vollkommen neue Grundlage gestellt und geistig geordnet. Hätten die Unternehmer bisher ausschließlich mit den Arbeitern ihres Betriebes verhandelt, so entstehe nun ein vollkommen neues System mit Betriebsräten und Tarifverhandlungen, das allerdings erst weiter in der Praxis erprobt werden müsse. Und dessen Bedeutung gehe weit über die Welt der Arbeit hinaus.

Das Wort Arbeit wird in einem übertragenen Sinne gebraucht und bedeutet Politik, Planen und Entschlußfassen. Diese „Arbeit“ soll jetzt gemeinsam vollführt werden, in Form gemeinsamer Auseinandersetzung und Aussprache.41

Jetzt kehre sich das Verhältnis von Regel und Ausnahme um. Der gemeinsame Geist, der mit der Arbeitsteilung verloren gegangen sei, könne auf einer höheren Ebene geheilt werden, zum gemeinsamen Nutzen. Überhaupt werde das gemeinsame Sprechen wiederhergestellt.

Denn nur wenn Menschen miteinander sprechen, können sie sich verständigen, wie es in dem ersten Aufsatz der Werkzeitung heißt, die zuerst auf dem neuen Boden praktisch zu bauen versucht.42

Beide Seiten hätten so die Möglichkeit, ein Verständnis für die Lage des anderen zu gewinnen, um auf einer gesicherten Basis zu verhandeln und sich nicht nur gegenseitig die bösartigsten Absichten zu unterstellen. Zum bisher stummen Arbeiten der Hände trete nun das Sprechen der Geister hinzu. Und wie in einem Nukleus zeigen die Beiträge der Daimler Werkzeitung die Komplexität der Welt der Arbeit, von den Pionierleistungen einzelner Unternehmer, über kreative Ansätze bei der Wohnraumbeschaffung sowie technische Eigenarten bis hin zur Frage, wie ein Verkehrsfahrplan entsteht.43

Aber die Bedeutung der Arbeitsgemeinschaft gehe weit über diesen nationalen Rahmen in der Sondersituation Deutschlands nach dem verlorenen Krieg und der Revolution hinaus. Im freien Spiel der Kräfte, in blinder Natur seien im 19. Jahrhundert gigantische Kräfte entfesselt und enorme Massen in Bewegung gesetzt worden, Städte aus dem Boden gestampft und Fabriken errichtet worden. Im alten Staat war die Welt der Technik ein Fremdkörper, die Welt der Wellen, des Dampfes, der Elektrizität, der Luft und Gase. Diese Elemente der Natur seien in das menschliche Leben hineingerissen worden, aber bisher unbewältigt geblieben.

Freilich stürmen diese Kräfte über die ganze Erde hinweg und umspannen sie mit Leichtigkeit. Darum einigen sie die ganze Erde; darum zwingen sie das ganze Menschengeschlecht zum Zusammenwirken.44

Die mittelalterliche katholische Kirche habe zunächst die Seelen erobert und den Menschen vor der Natur geschützt, der neuzeitliche protestantische Staat habe die Natur als seinen Häftling zurechtgestutzt. Aber beide hätten keinen Sinn für die moderne Technik aufgebracht, so wie auch die „Männer der Technik“ keinen Sinn für Kirche und Staat aufbringen könnten. Für sie sei die Welt der Arbeit nur ein Unterfall der über die ganzen Erde tätigen Gesellschaft: „Denn ihre Kräfte, ihre Funken, ihre Drähte, ihre Flugzeuge, ihre Schiffe, ihre Meßapparate überstürmen die ganze Erde.“45

Grundlage der Marktintegration ist die Arbeitsteilung zwischen Wirtschaftseinheiten: Durch sie werden alle Glieder der Produktionstotalität, die subsistenzwirtschaftlich ein isoliertes Eigenleben mit nur sporadisch-äußerlichem Kontakt zu den übrigen Gliedern führen würden, tendenziell zu einem strukturierten Ganzen zusammengeschlossen. Zur wesentlichen Steuerungsinstanz der marktintegrierten Gesellschaft wird der objektive Mechanismus des Wertes und Preises.46

Aber mit der Arbeitsgemeinschaft beginne wenigstens in Deutschland die bewußte Festsetzung einer neuen Gesellschaftsordnung, die weder staatliche Veranstaltung noch kirchliche Gemeinde sei. Das klinge banal, aber die Arbeitsgemeinschaft sei das Einzige, was Deutschland von den anderen Ländern, vor allem von Rußland und Amerika, unterscheide. Wäre sie nicht, so könnte einer glauben, wir steuerten in ein Fahrwasser, wo wir nur bei einer bolschewistischen Filiale oder einer amerikanischen Kolonie landen müßten.47

Deutschland habe sich immerhin auf den Weg gemacht. Arbeitsgemeinschaft sei der richtige Name für den ersten Schritt auf einem weiten Weg für ein formlos gewordenes Volk der Arbeit. Immerhin bestehe die Hoffnung, daß dem deutschen Beispiel dereinst weitere Länder folgen würden.

Das Naturgesetz der Menschen, daß ein jeder im Schweiße seines Angesichts arbeiten muß, findet seine Lösung in dem neuen, dem ausdrücklichen, dem menschlichen Gesetz von der Gemeinschaft aller Arbeit an der Vollendung der Erde.48

Und auf diesem Wege befinden wir uns noch immer und es ist weniger denn je absehbar, daß die Völker der Welt diesem Beispiel folgen wollen oder folgen können. In seiner fast zeitgleich mit der Arbeitsgemeinschaft erschienenen Schrift Ostblock oder Sibirien führte Eugen Rosenstock aus:

Das aber heißt in Erdteilen denken: Auch in dem entferntesten Volk ein Grenz- und Nachbarvolk erkennen und die Nachbarn umgekehrt plötzlich als bloße Weltteile wie andere auch zu sehen. Die Erde ist rund geworden. Wie in dem Reisetagebuch eines Philosophen, so ist es auch in der Politik, daß uns das Ferne zeitweise nah, die Nähe zeitweise fern rücken muß, auf daß auf diesem Wege der Ineinanderverwandlung das Ausland für uns nicht mehr bloß in perspektivischer Verkürzung sichtbar werde, sondern in seiner wechselnden Eigengewichtigkeit; wir müssen lernen, die Erde nicht mehr nach den Kilometerentfernungen der einzelnen Länder von uns fort zu überblicken (das ist perspektivisch), sondern nach ihrer eigentümlich wechselnden Bestimmung und Leistung im Zusammenleben der Menschheit. An einer Stelle nun hätte der Deutsche zu einer solchen Sehweise vorgeschult werden können: An seiner östlichen Flanke.49

Damit wandelte Eugen Rosenstock in seiner Verständnis einer Arbeitsgemeinschaft auf den Pfaden Johann Wolfgang Goethes und Alexander de Tocquevilles, die die Herausforderung ähnlich auf den Punkt gebracht hatten:

Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt. Diese sind unter sich oft im Widerstreit, und indem sie sich zu zerstören suchen, hält sie die Natur zusammen, und bringt sie wieder hervor.50

In demokratischen Zeitaltern bewirkt die gesteigerte Beweglichkeit der Menschen und die Ungeduld ihrer Wünsche, daß sie unaufhörlich ihren Standort wechseln und daß die Bewohner der verschiedenen Länder sich vermischen, sich sehen, sich angehören und nachahmen. Nicht nur die Angehörigen eines gleichen Volkes werden sich so ähnlich; die Völker selber gleichen sich wechselseitig an, und alle zusammen bilden für das Auge des Betrachters nur mehr eine umfassende Demokratie, in der jeder Bürger ein Volk ist. Das rückt zum ersten Male die Gestalt des Menschengeschlechts ins helle Licht.51

Und hierbei ergibt sich überhaupt das Charakteristische im Verständnis der Arbeitsgemeinschaft durch Eugen Rosenstock-Huessy. Nur bei ihm gewinnt der Begriff eine planetarische, fast heilsgeschichtliche Dimension und diese Perspektive kann nur gesehen werden, wenn man sie im Kontext der beiden Schwestertexte „Die Tochter“ und „Menschheit und Menschengeschlecht“ deutet. Denn, zusammen betrachtet, interpretieren sich die drei Studien wechselseitig und bilden zusammen den Nukleus der späteren Soziologie, die den Titel „Kreuz der Wirklichkeit“ tragen sollte, vielleicht könnte der eine Text auch Margrit, der andere Franz und der dritte Eugen heißen! Die Fragen, die in diesen drei Aufsätzen behandelt werden, finden ihre zeitgenössische Entsprechung nur in Max Webers „Religionssoziologie“ und Carl Schmitts Exkurs über „Politische Theologie“, der erstmals in der posthum veröffentlichten Festschrift für Max Weber erschienen war.52 Allein der abschließende Aufsatz über „Menschheit und Menschengeschlecht“ bietet eine Politische Theologie in sich. Schon zu Beginn wird die Metamorphose der zwei Schwerter thematisiert, die von den Gegensatzpaaren göttlich/kaiserlich, über christlich/heidnisch, zu geistlich/weltlich und Kirche und Staat führte. In der Gegenwart erschließe sich dieses elementare Verhältnis als Seele/Geist. Und aus dieser Konstellation erwuchs deshalb konsequent sein, bis heute bekanntestes Werk über die europäischen Revolutionen:

Seele ist Sprengstoff, Dynamit. Sie hat sich bisher in großen äußeren gemeinsamen geistigen Bewegungen entladen müssen, in Revolutionen.53

In dieser heilsgeschichtlichen Perspektive deutet der Autor letztlich auch die Arbeitsgemeinschaft. Wir können hier nicht näher auf seine Nietzsche Interpretation eingehen, die grundlegend für die Gegenwartsanalyse ist (Die Lektüre Selma Lagerlöfs und Solovjews fällt in diesen Zusammenhang). Dabei greift er die Geschlechterkonstellation der Arbeitsgemeinschaft auf. Männer und Frauen sollten ihre Unterschiede nicht leugnen und sich unter ihrem Niveau verkaufen, denn damit büßten beide Seiten der Medaille Mensch ihren Sinn ein:

Sobald Mann und Weib sich parallel schalten statt auf Wechselstrom, wird ihr Gedankenaustausch platonisch.54

Fruchtbar sind beide Geschlechter nur in ihrer Eigenart, wie immer auch die konkrete Ausgestaltung aussehen mag:

Denn Mensch sein heißt nicht geschlechtslos sein, sondern zwieschlächtig Mannes und Weibes Art in sich verschmelzen. Der Hang zur Mannsenhaftigkeit und Weibsenhaftigkeit muß also immer wieder überwunden werden. So bedeuten die Namen für die zwei Schwerter Verbindungen höherer Ordnung gegen die Entartung und zur Erneuerung unserer Art. Unser Wachstum und Aufstieg als Träger des Lebens auf der Erde hängt ab von dem Gleichgewicht dieser beiden Kräfte des Menschentums.55

„Heute“, also nach dem Untergang der alten patriarchalischen Ordnungen von Kirche und Staat, drehe sich das Verhältnis der Geschlechter um, wie der Autor aus persönlicher Erfahrungen seiner Studienzeit und noch mehr aus den zeitgenössischen Beispielen der Emanzipation der Frauen herauslesen konnte. Diesen Aspekt hat er in seinem Beitrag „Die Tochter“ herausgearbeitet.

Alle Ordnung und Gliederung des Menschengeschlechts wird verkehrt: dem Manne entsinkt das Schwert, das Weib aber lernt kämpfen, denn es tritt ein in die Politik. Aller Geschlechter- und aller elterlichen Zucht hat sich die Gegenwart auf der ganzen Erde entwunden. Die Menschennatur wird eingestampft zu bloßer Rohmasse.56

Und als wäre dies noch noch nicht genug, findet sich in diese drei Artikel unterschwellig, aber kaum versteckt, die leidenschaftliche Liebesbeziehung Margrit Rosenstocks, Franz Rosenzweigs und Eugen Rosenstock einverwoben, der Vertrauensbruch, die „Todfeindschaft”, die Vergebung und Anerkennung und Versöhnung!

Als sein heilsgeschichtliches Resümee wird man folgende Passage lesen können, die die planetarische Dimension des Dritten Jahrtausend in den Blick nimmt und gerade deshalb nicht nur hochaktuell klingt. Das Christentum in der Deutung Eugen Rosenstock-Huessys ist in eine neue Phase eingetreten: „Solange die Christenheit erst missionierend die Welt erschloß, durfte ihr verhüllt bleiben, dass jeder Mensch auch ein Lügner ist, durften die Christen ihren Namen naiv als Zauberetikett gebrauchen. Aber der Antichrist versiegelt diese Stufe der Namenchristenheit, richtiger: der Wortchristenheit.“57 Dieser Antichrist ist in seiner Sicht mit der zutiefst christlich geprägten Person Nietzsches erschienen, der 1889 dem Wahnsinn verfiel und 1900 verstarb.

In diesem Augenblick brechen darum all die außerchristlichen Religionen des Buddhismus, der Naturvölker, usw. herein über die christliche Welt. Denn erst jetzt ist die Christenheit fähig, bei der Bekanntschaft mit den Schätzen dieses Heidentums über sich selbst zu stutzen. Erschüttert erkennt sie in all ihrem eigenen Bemühen um Mystik, Askese, Kreuzzüge, Wallfahrten, Ablässe, Gebet die Formen des natürlichen Glaubens und Hoffens. All das sind natürliche Mittel und Ausdrücke aller Völker, überall am Werke. Die Christen haben in sich den Fidschiinsulaner, den Buddhisten, den Ägypter, den Parsen und die ganze Fülle des „Aber“glaubens, auch wenn ihn der Mantel der christlichen Liebe verdeckt.58

Aktueller könnte man kaum formulieren, da in Oxford Denkmäler gestürzt werden, allerorts Straßennamen exorziert werden oder kulturhistorische Museen sich mehr mit ihrer Provenienzforschung beschäftigen, als mit der Ausdruckskraft der Kunstwerke selbst, während die wechselwirksame Verschlingung der Völker durch den Kolonialismus heruntergespielt wird. Das war nicht die Perspektive Eugen Rosenstocks. Wollen wir uns wirklich zurückentwickeln zu den brutalen Stammeskulturen, ohne verbindendes Ganzes. Es ist ein erstaunliches Paradox auf das Eugen Rosenstock-Huessy wiederholt hingewiesen hat (vor allem in seiner Göttinger Nachkriegsvorlesung), daß parallel zur Weitung der Perspektive in die Zukunft auch das Interesse für weiter zurückliegende Phasen der Menschheitsgeschichte wächst. Wollen wir eine angeblich heile Welt zurück? Ja, wir wollen all die Schmerzen und das Leid zur Kenntnis nehmen, die Verfolgung, die Diskriminierung und das Unrecht. Aber müssen wir deshalb die Vergangenheit auslöschen?

Der Heiland hat gesiegt. Die Erde ist rund geworden für alle Zeiten. Die Zeit ist eine geworden für alle Zonen. Das Menschengeschlecht ist eins geworden für alle Zonen und Zeiten. Die Bande des Bluts, der Nation, der Rasse, können nie mehr Herr werden über die Einheit des Schicksals. Als ein Mann schreitet die Menschheit der Zukunft entgegen. Sie schickt sich ja an, rund über die Erde hin den Kampf ums Dasein einheitlich auszufechten. Die ersten Keime zu einer Arbeitsgemeinschaft der Menschheit werden gelegt. Die drahtlosen Wellen, die den Funkspruch „an alle“ über die Erden tragen, eben an alle und zu allen, stellen die Menschheit vor die Wahl: irrsinnig zu werden oder aber Eines Geistes an die Arbeit zu gehen. Irrsinnig wird der Mensch, in dessen Kopf sich täglich ein unverständliches Stimmengewirr von Todfeinden zu Worte meldet. Jedes Zeitungsblatt ist aber so mit teuflischen Krähenfüßen besät, die zeigen, daß wir mit ewigen Gegnern zusammengeschmiedet sind in Eine Wirklichkeit, in ein einheitliches Erdenleben. Da hilft uns zur Gesundheit nur die Wendung, die auch im Feind, gerade im Feind und den Mitarbeiter zeigt; die Einheit des Schicksals überreicht die Getrennten. Wir verstehen: gerade die rücksichtslose Gegnerschaft schenkt uns selbst den Ansporn und Reiz des Lebens.59

Seine Eingangsfrage der seelisch-geistigen Gegenüberstellung aufgreifend, deutet Eugen Rosenstock seine Version der Säkularisierungthese an:

Die Gabel: christlich-unchristlich hört auf, die leiblichen Menschen wirksam von außen einzuteilen und räumlich wahrnehmbar zu gliedern. Denn der Unterschied besteht nicht mehr zwischen verschiedenen Personen, seitdem der Herr gesiegt hat. Sondern heut ist der Kampf in jedes einzelnen Menschen Brust verlegt: Da ist heut keiner mehr, der nicht christliche Gedanken in sich trüge, auch wenn er auf eine heidnische „Weltanschauung“ selbstbewußt schwört. Und da ist kein selbstbewußter Orthodoxer, der nicht unchristliches Geistesleben neben oder hinter seiner Orthodoxie birgt. Bisher schien im <in> Bekenntnisschriften das Bewußtsein einwandfrei christlich. Aber gerade sein Bewußtsein wird heut leblos und unchristlich; es verleugnet das Eintreffen des Antichrists, der doch ein Teil der Offenbarung ist. Im Ungläubigen schien das Bewußtsein bisher unzweideutig unchristlich. Aber gerade er schöpft sein gesamtes geistiges Rüstzeug aus den christlichen Denk- und Lebensformen, so wie sie das 19. Jahrhundert, allen voran Goethe, feuereifrig ins „Natürliche“ umgeschrieben hat. Heute gibt es keine außerchristlichen Unterschlupfe mehr.60

Ob es in Dunkeldeutschland noch solch Unterschlupfe gibt, vielleicht in Schnellroda? Jedenfalls ist der Ansatz, den Eugen Rosenstock wählt, klar und deutlich, argumentativ stringent und nicht organisch verschwurbelt oder verquastet. Auf deutlichen Widerspruch wird der vielleicht sehr zeitgenössische Verweis auf den Sozialismus stoßen:

Der Sozialismus, das Evangelium des Hungers, kommt am Ende der christlichen Mission als ihr Non plus ultra: Hier überwältigt das Christentum seinen Gegenpol.61

Übergreifend gemeint ist, dass die Erneuerung der Erde im christlichen Sinn immer vom Geringsten her erfolgt ist und erfolgen muß. In diesem Zusammenhang spricht er von der „Brüderlichkeit der Hungernden“.

Das Argument mag für die westlichen Industrieländer nicht weiter ins Gewicht fallen, aber im globalen Süden sind weiter Millionen Menschen von dieser existentionellen physischen Notlage bedroht. Ist es ein Zufall, daß das Christentum im satten Westen degeneriert und in Afrika und Asien nach wie vor Zulauf findet?

Hatte die Idee der Arbeitsgemeinschaft bei Eugen Rosenstock vor allem die Emanzipation der Gesellschaft von der akademischen Bevormundung im Obrigkeitsstaat im Blick, so scheint diese Hoffnung weiter entfernt denn je. In einer stark geistig gestörten Bildungslandschaft soll inzwischen der „Experte“ den Maßstab für praktisch jeden Gesellschaftsbereich liefern, ob Politik, Medizin oder Erziehung. Schon dem Begriff der „Erziehungs-Arbeit“ ist die darunter liegende Täuschung unschwer anzusehen. Dagegen wurde Eugen Rosenstock-Huessy nicht müde, zu betonen, wer allein die Maßstäbe setzen kann:

Die Mutter pflegt ihr Kind; Nonnen pflegen ihre Schutzbefohlenen; gewerkschaftliche organisierte Schwestern pflegen Patienten. Alles geht in Ordnung, solange die bezahlten und berufsmäßigen Krankenpflegerinnen zugeben, daß die unbezahlte Mutter und die unbezahlte Nonne den Maßstab für das „Pflegen“ errichtet haben und daß nur sie diesen Maßstab aufrecht erhalten.62

Auch er erkennt die Bedeutung der Experten, welcher Fachrichtung und Schublade auch immer an. Aber niemals kann der Experte den Maßstab liefern. So würde der Bock zum Gärtner. Den Maßstab für die Erziehung können nur die Eltern sein, der Maßstab für die Medizin können nur die pflegenden Angehörigen liefern und den Maßstab für Wirtschaft und Politik können nur die Mensch zu Mensch verhandelten und verantworteten Probleme liefern, keine freischwebenden Traumtänzer mit Festanstellung oder Demokratieförderungsprojekte zur Alimentierung abgehalfteter Politiker. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis diese bildungspatentierte Kaste Gespräche in der Öffentlichkeit nur noch nach DIN 666 zuläßt oder bei der Kindererziehung DIN 4711 vorschreibt. Was Erzieher in ihrem Studium lernen müssen, geht jedenfalls genau in diese menschenverachtende Richtung. Zuwendung wird da zur Abrichtung nach rein „theoretischen“ Erkenntnissen, für die es umso mehr Drittmittel regnet. Hier feiert ein angeblich überwundener naiver Idealismus fröhliche Urständ. Und es ist leider zu befürchten, daß bei dieser vollkommen verzerrten Prioritätensetzung über kurz oder lang eine vollkommene Implusion dieser Art von Gesellschaft zu erwarten ist. Frei mit Friedrich Nietzsche: Und dieses Nichts bildet sich ein, den Gipfel der Menschheitsgeschichte erreicht zu haben. Und sie blinzeln und sie haben sich alle lieb.

Es ist ein schlechtes Volk, das heut kraftvoll sein Geschäft betreibt und losbricht zur Arbeit mit schäumender <Marketing-> Kraft: Schieber sind es, ob nun in Wissenschaft, Politik oder Künsten oder Handel.63

Eine andere grundlegende Frage bleibt, selbst nachdem es dereinst eine globale Arbeitsgemeinschaft geben sollte, vollkommen offen:

Die Industriearbeiterschaft ist tendenziell zu einer Interessengruppe unter andern geworden; die Existenzbedingungen im Industriesystem erscheinen als naturwüchsige Lebensformen der modernen Welt. Daß dies möglich wurde, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass ein ökonomischer Kompromiß zwischen Arbeit und Kapital auf Kosten der Natur geschlossen wurde.64

Die Zentralarbeitsgemeinschaft

Befragt man die historische Literatur zur Zentralarbeitsgemeinschaft von 1919 so ist das Urteil durchweg ernüchternd.

Die ZAG war keine erfolgreiche Organisation, und was noch schlimmer ist, nach 1920 war sie noch nicht einmal mehr eine bedeutende Organisation. Viele ihrer täglichen Aktivitäten zwischen 1920 und ihrem Ende Anfang 1924 beschränkten sich auf mehr oder minder langweilige Routine-Geschäfte.65

Es werden kaum Perspektiven zur Tarifpartnerschaft nach dem Zweiten Weltkrieg gezogen, auch wenn die Ausgangssituation für die Arbeiter in ihren Betrieben drastisch geschildert wird:

Noch im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg bekämpften Polizeibehörden, Staatsanwälte und Gerichte Arbeitsniederlegungen durch Verwaltungsschikanen und eine extensive Auslegung des Strafrechts bis an die Grenze zur Rechtsbeugung.66

Als warnendes Beispiel galt deutschen Unternehmern in der Metallindustrie das englische Beispiel, indem dort die Gewerkschaft einen produktivitätsfeindlichen Einfluß erlangt hätten. „Daher lehnte man Tarifverträge in Deutschland ab. Gleichzeitig trafen die Arbeitgeber untereinander immer wieder Absprachen über Löhne, Arbeitszeiten und -bedingungen – wenn man so will, also einseitige Tarifvereinbarungen.“67 Jedenfalls war vor dem Krieg das Interesse der Industrie mehr als reserviert:

Die Gründung einer Kriegsarbeitsgemeinschaft der Unternehmer und Gewerkschaften in der schon vor dem Krieg tarifvertragsaffinen Holzindustrie im August 1914 blieb ein Solitär. Leipart sah darin ein Vorbild für alle anderen Branchen. Die Generalkommission der Gewerkschaften schlug den Arbeitgeberverbänden im September 1914 deshalb die Ausweitung auf alle Branchen vor, erhielt jedoch keine Antwort.68

Während Eugen Rosenstock vor allem den nichtstaatlichen, gesellschaftlichen Impuls der Arbeitsgemeinschaft betont, wertet einer der besten Kenner der Verhandlungen den politischen Druck auf die Tarifparteien deutlich höher:

Am wichtigsten war jedoch, daß der Staat entdeckte, wie notwendig die Gewerkschaften für die Mobilisierung der Kriegswirtschaft und für die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens waren. Während die Schwerindustrie nur sehr langsam zu dieser Überzeugung kam, überwanden staatlicher Druck, die revolutionäre Situation und die Unruhen nach 1917 den Widerstand der Arbeitgeber gegen kollektive Lohnverhandlungen – was sich am 15. November im Stinnes-Legien-Abkommen manifestierte. In Zukunft sollten die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf dem Wege der Übereinkunft zwischen ihren jeweiligen Organisationen geregelt werden, wodurch die Entwicklung von Arbeiter- und Arbeitgeberorganisationen starken Auftrieb erhielt.69

Auswahlliteratur

3. Sterbend leben ist das ganze Evangelium - Respondeo etsi Mutabor

„Was ist denn das Evangelium? Sterbend leben, mein lieber Mensch! Und Gott gibt Dir die Kraft dazu!“ So predigte Christoph Blumhardt (1842-1919) als sein Schwiegersohn Richard Wilhelm Abschied nahm, um nach China zu reisen. Blumhardt predigte über Jesu Tod und gab dem Schwiegersohn mit, dass “im Tode Jesu eine Lebenskraft liegt… denn durch das sterbende Leben führt ein Weg mit Jesus Christus aus dem Tode heraus.“ (ders: Ansprachen, Predigten Briefe Bd 2,p.130; 31.3.1899)

Ich denke, Rosenstock-Huessy nannte Blumhardt seinen „alten Schutzpatron“ (Sprache MGI,p.311), weil der den überwundenen Tod an den Anfang eines ewigen Lebens, einer neuen Epoche, glaubte. Sterbend leben aber ist Inhalt von Rosenstock-Huessys Leitwort für unsere Epoche: Repondeo etsi mutabor, denn keiner lebt für sich allein. Die Verwandlung wird in das Leben eines jeden Menschen eingebaut – nicht nur weniger Eliten. Dann werden Glauben – Hoffen – Lieben wieder erkannt als die Kräfte, die das Leben in der Gesellschaft zusammenhalten und zusammenbringen und erneuern über den Tod der einzelnen Mitglieder hinaus. Dem entspricht auch das Symbol der Tochter als notwendige Erweiterung der Heiligen Familie: Sie verkörpert ja den freiwilligen Namenswechsel, Götterwechsel. In des Christen Zukunft schrieb er:

„Im Zentrum des christlichen Glaubensbekenntnisses steht der Glaube an Tod und Auferstehung. Christen glauben an das Ende der Welt, nicht nur einmal, sondern wieder und wieder. Dies und dies allein ist die Kraft die uns befähigt unseren alten Gewohnheiten und Idealen zu sterben, herauszukommen aus unseren alten Wurzeln, unsere toten Selbste hinter uns zu lassen und den ersten Schritt in eine echte Zukunft zu gehen.“ (Des Christen Zukunft)

Und in seinen Nachkriegsvorlesungen Universal History 6: „Die Christenheit kam nicht in die Welt irgendetwas zu lehren. Sie ist keine Doktrin. Sie kam, wie Du weißt, etwas zu offenbaren: die Verbindung von Tod und Leben.“

Unser Zeitpunkt: Crux haec ipse crucifigenda est

Orosco Fries In Out of Revolution hat Eugen Rosenstock-Huessy ein Bild aus dem Orosco Fries in Dartmouth veröffentlicht um unseren Zeitpunkt zu benennen. Er deutete es mit Worten des heiligen Augustinus: Cruc haec ipse crucifigend est. – Das Kreuz selbst ist ein zu kreuzigendes. Dem entspricht die Profezeiung des heiligen Paulus im 1.Korintherbrief 15, 20-28.42-49. „Der erste Mensch, Adam, wurde zu einem lebendigen Wesen, und der letzte Adam zum Geist, der lebendig macht. Der erste Mensch ist von der Erde und irdisch; der zweite Mensch ist vom Himmel….“

Eugen Rosenstock hat uns noch mit einer anderen Geschichte diese Anerkennung des Todes als Teil und Bedingung des geschichtlichen Lebens erzählt. Er erinnert an Scipio Africanus, der vom Feldherrnhügel auf das zerstörte Karthago blickte und weinte. Sein Adjutant habe ihn angesprochen: „Warum weinst Du Herr? Du wirst in Rom durch den Triumphbogen geführt und als Gott verehrt.“ – Scipio antwortete: „Ich sehe Rom darniederliegen wie Karthago, denn es glaubt es wäre immer!“ „Der Höhepunkt in der Eroberung des Todes, und deshalb in der Menschen Wissen von Gott, war die Kreuzigung und Auferstehung von Christus. Von ihm, zuletzt, wurde der Tod als ein positiver Faktor ins Leben hineingenommen, und ward dadurch endgültig und komplett überwunden: der Tod wurde zum Torweg zur Zukunft, zu neuem Leben.“ (Des Christen Zukunft)

In Glaube und Hoffnung, hat Rosenstock-Huessy unseren Zeitpunkt, das Epochenende und die neue Epoche skizziert : „Die Gabel christlich oder unchristlich hört auf, die leiblichen Menschen wirksam von außen einzuteilen und räumlich wahrnehmbar zu gliedern. Denn der Unterschied besteht nicht mehr zwischen verschiedenen Personen, seitdem der Herr gesiegt hat. Sondern heute ist der Kampf in jedes einzelnen Menschen Brust verlegt. …“ (Geheimnis der Universität, p.272)

Konkretionen anderer

Huub Oosterhuis

Er hat uns das Lied geschenkt: Wer leben will wie Gott auf dieser Erde / muß sterben wie ein Weizenkorn/ muß sterben um zu leben…… (1965 dt. 1969)

Christoph Blumhardt

Sterbend leben wird konkret in der Weisung an Richard Wilhelm keinen Chinesen zu taufen, es würde als europäischer Imperialismus mißverstanden. Er solle mit Feuer und Heiligem Geist taufen. Richard Wilhelms Leistungen für die Übersetzung und Begegnung mit China sind m.E. bis heute unübertroffen. In einem anderen Brief : „Einerseits immer isolierter von allem, was Christentum heute heißt, und andererseits immer reicher an Beziehungen zu allerhand Menschen, die Gottes Eigentum sind in allen Ländern und Sprachen, das ist das Bezeichnende in unserer heutigen Lage. … Die Harmonie zwischen Menschen und Natur muß kommen. Dann findet jeder seine Befriedigung. Und das wird die Lösung der sozialen Frage sein.“
„Darin liegt das Geheimnis der Zukunft des Reiches Gottes; mit Ideen kann es nicht kommen, sondern mit Leiblichkeit in rechter Art.“

Nathan Söderblom

Er erzählte daß ein Bauer ihn erkannt habe und dann sprach: „Bischof, die Zeit des Priesters ist vorbei. Das war Rom und die alte Kirche; die Zeit des Leviten ist vorbei – das waren Wittenberg und Genf; jetzt hat das Zeitalter des barmherzigen Samariters angefangen. (s. Des Christen Zukunft u.ö.)

Jacques Loew

Er gründete nach dem 2.Weltkrieg die Missio ouvriere St.Pierre St.Paul. Statt logischer und theologischer Wahrheit suchen sie Bewährung und leben in verschiedenen Kontexten mit den Menschen unter deren Bedingungen – zum Beispiel in einer Favela. Sie tun das maximal zehn Jahre und kehren dann höchstens zu Besuch zurück. Sie fragen dann nicht: Warum habt ihr unsere gute Initiative nicht weitergeführt, sondern: Warum haben wir sie so fest an uns gebunden, daß niemand sie erben konnte.

Goethe

Sein Gedicht „Selige Sehnsucht“ aus dem west-östlichen Diwan belegt, dass der Islam nach Christus lebt, denn das „Stirb und werde“ ist die Grundmelodie der Sufis im Islam. Rosenstock-Huessy stellt deshalb in Comparative Religion (1954) fest, dass keine Mission nötig und möglich sei.

Reshad Feild zitiert in seinem Buch Ich ging den Weg des Derwisch seinen Sufimeister: „Jedesmal, wenn ein Mensch zum wahren Wissen vordringt, wird eine besondere Art von Energie freigesetzt und für diesen großen Prozeß der wechselseitigen Erhaltung zugänglich. In genügendem Ausmaß wird diese Energie normalerweise nur in den Augenblicken großer Krisen und Erschütterungen frei, vor allem im Augenblick des Todes. Doch jetzt haben wir im Leben unseres Planeten einen Punkt erreicht, wo wir lernen müssen, für uns selbst zu sterben in jedem Augenblick, in jedem Augenblick neu geboren zu werden, mit Bewußtheit zu leben und zu sterben, damit die Evolution der Erde fortschreiten kann.“

Hölderlin

Im Gedicht: Versöhnender, der Du nimmergeglaubt… (erste Fassung) finde ich den folgenden Vers indem mir die ganze gesellschaftliche Sprechlehre Rosenstock-Huessys vorleuchtet: „So ist schnell vergänglich alles Himmlische, aber umsonst nicht. Des Maßes allzeit kundig rührt mit schonender Hand/ Die Wohnungen der Menschen / Ein Gott an, einen Augenblick nur, / und sie wissen es nicht, doch lange/ Gedenken sie des, und fragen, wer es gewesen./ Wenn aber eine Zeit vorbei ist, kennen sie es./“

Thomas Dreessen

4. Die vier Evangelien und die Frucht der Lippen

Rosenstock-Huessys Lesart der Evangelien hat einen ungewöhnlichen Blickwinkel. Er ist mit den Ansichten der Neutestamentler über die vier Evangelien vertraut, aber sein Blickwinkel ist ein anderer, und so bekommt auch der Leser etwas ganz anderes zu sehen. Wie unterscheidet sich Rosenstock-Huessys Lesart der Evangelien von der gängigen Lesart der Neutestamentler seiner Zeit? Darum geht es in diesem Beitrag. Der Beitrag befasst sich auch mit einigen neueren Entwicklungen in der neutestamentlichen Wissenschaft nach seiner Zeit. Schließlich ziehe ich die Geschichte von der Versuchung in der Wüste als Beispiel heran, um den manchmal etwas abstrakten Ansätzen einen konkreten Inhalt zu geben.

Die Perspektive von Rosenstock-Huessy

Rosenstock-Huessy misst den vier Evangelien große Bedeutung bei. Jesus Christus ist Grundstein und Prüfstein für sein gesamtes Geschichtsbild. Ohne das Kreuz Christi hätte die Menschheit nicht zu einer gemeinsamen Geschichte gelangen können, denn jeder Mensch wäre geistig und körperlich unter dem Schutz seiner Gruppe geblieben, unfähig, außerhalb seiner selbst und der Gruppe zu denken und zu handeln 70. Immer wieder kehrt Rosenstock-Huessy in seinem Werk zu dieser zentralen Bedeutung von Christus zurück. Schon in dem 1923 erschienenen Artikel „Angewandte Seelenkunde“ steht Jesus Christus im Mittelpunkt 71. In diesem Artikel stellt er seine grammatikalische Methode vor, die er später das Kreuz der Wirklichkeit nennt. Aber, so argumentiert er, die Wirklichkeit des Kreuzes ist die zugrunde liegende Motivation für das Kreuz der Wirklichkeit. Im Kreuz Christi kippen die Richtungssymbole der gesamten Kultur. In der Antike war die Autarkie ein zentrales Element jeder Stadt und jedes menschliches Lebens. Man ist nur dann ein Mensch, wenn man autark ist, d.h. unabhängig, nichts von anderen oder von außen benötigend. Auch die Götter sind autark. Sie brauchen nichts. Sie existieren in und durch sich selbst. Deshalb kümmern sie sich auch nicht um die Menschen. Nur das, was in und durch sich selbst existiert, ist wirklich unabhängig, hat Substanz. Substanz, dieses Wort selbst bedeutet in und durch sich selbst zu existieren.

Von Christus an wird die Kultur jedoch durch ein anderes Symbol geleitet: Man existiert durch und für andere. Das sogenannte Selbst ist ein Knotenpunkt des Empfangens und Weitergebens. In diesem Prozess des Empfangens und, auf neue Weise, Weitergebens wird das Selbst erst wachgerufen, - wachgerufen werde ich, daß ich bin, weil „das“ Ich nicht existiert. Ich existiere als ein antwortendes Wesen. Und die Antwort von mir und meiner Zeit nimmt schließlich in der äußeren Welt Gestalt an. Sehen wir uns das Kreuz der Wirklichkeit an: von der Vergangenheit empfangen und in die Zukunft weitergeben; im Gespräch mit anderen gleichzeitig werden und der Antwort dieser Gleichzeitigkeit in der Außenwelt Gestalt geben. Ich möchte für diese Form der Existenz den Begriff Substitution vorschlagen: durch, für und mit anderen existieren. Auch Rosenstock-Huessy verwendet dieses Wort so dann und wann, aber erst bei Levinas hat der Begriff der Substitution seine volle Wirkung entfaltet 72. Wörtlich bedeutet es: ersetzen. Das ist auch seine Bedeutung in der Mathematik. Ich trete für den anderen ein, und das - für den anderen eintreten - bin ich. Ich bin, in meinem Wesen, ganz und gar Referenz. Diese Wendung von der Autarkie und Substanz zur Substitution und Stellvertretung wird in den Evangelien erzählt.

Rosenstock-Huessy setzt nun jedes Evangelium mit einer der vier Traditionen der Antike (Stämme, Reiche, Israel, Hellas) in Beziehung. Seine These ist, dass diese vier Traditionen durch die Evangelien miteinander verbunden sind. Bis vor der christlichen Zeitrechnung waren sie getrennte Welten. Sie stehen in einem seltsamen Gegensatz zueinander und bilden gegeneinander abgeschlossene Größenordnungen. Auch wenn diese Gesellschaftsformen scheinbar miteinander verwoben sind, ist das nur eine pragmatische Tatsache 73. Sie sind nicht wirklich offen füreinander. Man denke an den modernen Begriff der Toleranz. Menschen, die sich nur gegenseitig tolerieren, lieben sich nicht wirklich. Das Gleiche gilt für Formen des Zusammenlebens. Dieser Zustand wird nun durch Jesus Christus, durch die Evangelien, aufgeschlossen. Von nun an können Menschen die Lebensweisen anderer Menschen und Gruppen zu ihren eigenen machen. Sie werden zu Formen, die die Liebe zum Anderen annehmen kann. So werden diese vier Ströme der Kultur für alle zugänglich. Die Bedingung ist, dass man sie nur vorübergehend benutzt und sie im Laufe der Zeit wechselt.

Denn in keiner dieser vier Formen darf die Liebe eingesperrt oder verschlossen bleiben. Denn jede dieser Formen impliziert auch eine Begrenzung. Die Liebe braucht ein Bett, aber sie muss auch immer wieder über ihre Ufer treten. Unter diesem Gesichtspunkt weist Rosenstock-Huessys Konzeption der Evangelien eine Reihe von Besonderheiten auf:

  1. Dass in jedem Evangelium ein Traditionsstrom aufgebrochen wird, bedeutet, dass auch der Schreiber des jeweiligen Evangeliums einen tiefgreifenden Veränderungsprozess durchläuft. Das zeigt sich auch in den Evangelien selbst. Sie gehen aus dem Schreibprozess anders hervor, als sie vorher waren.
  2. Die drei synoptischen Evangelien wurden vor 70 geschrieben, Johannes wahrscheinlich danach. Alle drei Evangelien sind Originale, geschrieben von den Autoren, deren Namen sie tragen. Sie tragen die Namen ihrer Verfasser.
  3. Alle vier Evangelien haben ihren Ursprung in bestimmten historischen Umständen, die ihre Abfassung unumgänglich machten. Die Evangelisten waren nicht so sehr darauf bedacht, ein Evangelium zu schreiben. Sie waren vielmehr misstrauisch gegenüber dem geschriebenen Wort. Schließlich waren die Schriftgelehrten ihrer Zeit zu geistlichen Bürokraten geworden. Dem setzten sie das neue Leben in der Nachfolge Christi entgegen. Aber sie mussten schließlich doch selbst schreiben, um die Sache zu retten. Matthäus schreibt während den Verfolgungen nach die Ermordung von Stephanus, Markus schreibt unter der Leitung und Führung von Petrus in Rom unter dem Druck der Verfolgung. Deshalb schreibt er auch gegen die Herrschaft der Göttersöhne des Römischen Reiches an. Lukas rettet die jüdische Inspiration, indem er sie den von Paulus gegründeten griechisch-sprachigen Gemeinden dosiert verabreicht, Johannes gibt der wackeligen Sprache der Philosophie eine Orientierung und Verwurzelung in Jesus als dem Wort womit alles anfängt.
  4. Jede neue Epoche beginnt mit einem Sprung, einem Ursprung, einem plötzlich vernommenen und befolgten Imperativ. Dieses Feuer erlahmt langsam, aber es wird auch langsam und Schritt für Schritt verwirklicht. Mit dieser methodischen Herangehensweise als Wünschelrute können Sie die Evangelien mit den folgenden Fragen belauschen:
    a) Wo findet die erste Explosion statt? In der grammatischen Methode von Rosenstock-Huessy wird das angedeutet als der Imperativ.
    b) Wie wird diese Stimme weitergetragen? Grammatisch ist das die Phase des Dialogs, der Poesie, der Lyrik.
    c) Wann wird diese Stimme in einer Gemeinschaft gehört, die sich bewährt? Grammatisch die Phase der Partizipativ.
    d) Wie wird diese Stimme auch in der Außenwelt wahrgenommen? Grammatisch die Phase der Indikativ 74.

Rosenstock-Huessy sieht im Matthäusevangelium den Imperativ. Der Gerechte, der König Israels, der Messias wird geboren und verworfen. Diese Verwerfung des wahren Menschen beherrscht sein Evangelium. Markus ist Phase zwei, das lyrische Evangelium 75, wo alles direkt und heute ist, wo die Gläubigen angesprochen werden auf ihre Leidensbereitschaft, ihr Wachen mit Christus. Lukas erzählt die Geschichte, in der ein Wir sich schon konstituiert hat, die Phase des Partizipativs. Schließlich ist es Johannes, der die ganze Geschichte vom Anfang bis zum Ende abdeckt und fast wissenschaftlich feststellt, dass Jesus Christus von Anfang an das Wort Gottes ist und dass dieses Wort schließlich zum Ende Roms und zum Kommen des neuen Jerusalems auf der Erde führen wird (Johannes und die Offenbarung des Johannes), und somit ist die objektive Realität der Außenwelt auf das Ende ausgerichtet.

Es gibt Argumente dafür die Reihenfolge von Markus und Lukas hier umzudrehen, anders als Rosenstock-Huessy, also Lukas als zweite Stimme und Markus als dritte zu verstehen. Denn Lukas bringt den neuen Impuls von Matthäus ins Gespräch mit den Christen aus den Nationen und vollzieht damit einen Übergang, eine Umdeutung von Matthäus in eine neue Situation, in der Nachfolge des Paulus: dosierte Weitergabe der Botschaft des wahren Israel an die Völker aus den Nationen, in einem fortlaufenden Prozess. Das ist historisch besser zu deuten als die zweite Phase, die Phase des Dialogs. Denn wo Matthäus mit dem eigenen Gruppe das Wir-Gefühl der israelischen Schriftgelehrten bricht (und auf diese Weise bricht er mit dem Stamm!), überbrückt Lukas die Kluft zwischen zwei Lebensweisen, die seitdem miteinander sprechen und ringen, in Dialog weiter bestehen. Markus schreibt dann als dritter für die verfolgten Christen in Rom, er versucht, die manchmal gegensätzlichen Wahrheiten von Matthäus und Lukas zu bewahren und zu verbinden, aber er reduziert dabei ihre unterschiedlichen Beiträge auf das, was die Gemeinschaft während die Verfolgungen in Rom in diesem Moment braucht, um sich in die Krise der siebziger Jahre zu bewähren. Das ist die Phase des Partizipativs. Die Gruppe soll konsolidiert werden.

Opposition zwischen Matthäus und Lukas

Obwohl Matthäus das erste Evangelium ist (für Rosenstock-Huessy, aber nicht für die Mehrheit der neutestamentlichen Gelehrten), wird es nicht nur vom Imperativ, sondern auch von der Lyrik beherrscht. Es ist ein Evangelium voll von Poesie. Es verwendet ständig poetische rabbinische und alttestamentliche Ausdrücke. Es zeigt Rhythmus und Stimme und bestätigende Gegenstimme, wie in den Psalmen. In Dreierrhythmen werden die Ereignisse erzählt und jedes Mal erneut wiederholt. Matthäus versucht, so viel wie möglich in der Sprache der Rabbiner, den neuen Klang hörbar zu machen. Er hält sich eng an die jüdische Tradition: Man denke an das Gesetz, dessen Tittel noch Jota vergeht, Matthäus 5,18; man denke auch an die Tempelsteuer, die man brav entrichtet, um keinen Anstoß zu erregen, Matthäus 17,22-27. Er hat die neue Gemeinschaft der Jesus-Nachfolger vor Augen, die in ihrem Gemeinschaftsleben zur Vollkommenheit gelangt sind, Matthäus 5,48. Für sein eigenes Verständnis lebt er also in der Zeit der Verwirklichung. Das Reich Gottes ist in dieser neuen Gemeinschaft angekommen! 76.

Bei Lukas hingegen sind wir eher immer auf dem Weg zum Reich. Dann ist die Vollkommenheit kein erworbener Besitz, sondern etwas, das der Gemeinschaft in der Zukunft bevorsteht. Das passt auch besser zu den von Paulus gegründeten bürgerlichen Gemeinden 77. Wohlhabende Juden oder Heiden nehmen die armen Leuten in ihren Häusern auf. Sie kümmern sich um die Armen und bilden eine alternative moralische Gemeinschaft, d. h. eine Alternative zu den zynischen/gleichgültigen Verhältnissen im Römischen Reich. Bei Matthäus sind die Verhältnisse anders. Für ihn ist in der Gemeinde der Jünger das Reich Gottes auf Erden schon gekommen. Seine Gemeinden, die nach die Ermordung des Stephanus wegen der Verfolgung nach Syrien und Galiläa geflohen sind, sind die Antwort auf den Imperativ. In die schäbigen und leidenden Gestalt der Verfolgten wird das Reich der Himmel auch irdische Wirklichkeit. Denn der neue Imperativ besteht im Leben und Sterben Jesu, besser im Tod und Leben Jesu. Darauf antwortet die jüdische Gemeinde der Jünger. Auf diesem Weg sind sie schweren Verfolgungen ausgesetzt. In diesen Verfolgungen ist Jesus unter ihnen: Immanuel! Er geht vor ihnen her nach Galiläa (Matthäus 28,7).

Warum erscheint – Matthäus kündigt das an – der Herr in Galiläa? Warum geht er ihnen dort voraus? Das ist weil bei diesen Verfolgungen der Herr anwesend ist. Das ist der Ort, an dem der Herr ist. Denn er ist Immanuel: In Matthäus 1,23 heißt es: „Die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben“, aber auch in Matthäus 28,20: „Ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung der Welt“ - Immanuel bedeutet: Gott ist bei uns. Immanuel also: am Anfang und am Ende! Wenn alte Schriften eine solche „Inclusio“ enthalten, hat das eine Bedeutung. Diese Gegenwart Gottes in der Gemeinde ist Endpunkt und Höhepunkt, Verwirklichung des Reiches Gottes und der Gegenwart Christi.

Selbst wenn man also Matthäus - Imperativ; Lukas - Dialog; Markus - Partizipation und damit Gemeinschaft; Johannes - Indikativ und damit Theorie (Sehen des Sehers) zu-ordnet, ist es wichtig, noch immer im Auge zu behalten, dass alle vier Sprachelemente vom Imperativ bis zum Indikativ in allen Evangelien reichlich vorhanden sind. Es handelt sich um eine Frage der Betonung.

Das synoptische Problem

Hier möchte ich den Leser einführen in einige weitverbreitete Auffassungen hinsichtlich der gängigen Interpretation der Evangelien. „Das synoptische Problem“ - so nennt man gemeinhin die Frage nach dem Zusammenhang der Evangelien, ihrer Reihenfolge und Herkunft. Wer hat was von wem abgeschrieben? Und welche anderen Quellen spielen eine Rolle, wenn es die gibt? Wie wiederum verhält sich die Behandlung dieses Problems in der neutestamentlichen Wissenschaft zur Interpretation von Rosenstock-Huessy – so fragen wir?

Um mit der letztgenannten Frage zu beginnen: Es gibt kaum einen Zusammenhang zwischen dieser Debatte und Rosenstock-Huessys Sicht der Evangelien. In der Debatte der Neutestamentler über den Zusammenhang der Evangelien gibt es kaum Hinweise auf die existentiellen, personalen, historischen und heilsgeschichtlichen Zwänge, unter denen nach Rosenstock-Huessy die Schreiber der Evangelien standen. Viele Neutestamentler sind nichts anderes als theoretische Bürokraten, die auf ihren Schreibtischen liegende Texte vergleichen. Sie sind selbst immer in der gleichen Geisteshaltung und unterstellen die gleiche Geisteshaltung bei den Evangelienschreibern. Man bekommt oft einen verflachten Eindruck von ihren „Analysen“. Sie nehmen wenig Rücksicht auf die Stimmung des Schreibenden. Sie suchen sich heraus, wie oft ein bestimmter Ausdruck vorkommt, und dann, wer unter den Evangelienschreibern derjenige ist, der diesen Ausdruck zuerst verwendet hat, und so weiter. Daran ist an sich nichts falsch.

Diese Art der Analyse hat sicher ihr Recht, wichtige Aspekte bleiben ihr allerdings verborgen. Denn wenn jemand unter einem neuen Imperativ steht, weil alte Verhältnisse nicht mehr tragbar sind, dann schreibt er ganz anders, als wenn jemand lediglich eine andere Auffassung von den Glaubensinhalten des Alten Testaments entwickelt hat und fortan als Christ durchs Leben geht, nur weil er sich als Büchermensch darüber Gedanken gemacht hat - also bereits als Schluss eines Arguments. Das Kreuz der Wirklichkeit fehlt oft - so könnte ich es auch ausdrücken. Das verengt den Blick auf eine eindimensionale Wahrnehmung. Das ist freilich auch bei einem analytischen Ansatz nicht immer der Fall, und es gibt Interpreten, die einen breiteren theologischen Blick haben. Doch wo es nach Rosenstock-Huessy in den Evangelien um eine umfassende persönliche und gesellschaftliche Transformation geht, ist dies bei den Neutestamentlern in der Regel nicht der Fall. Infolgedessen schenken sie den Brüchen zwischen Vergangenheit und Zukunft und den Spannungen der Zeit zu wenig Aufmerksamkeit. Sie sind mehr mit ihrer inneren Welt (was denken andere Gelehrte; kann ich mit meinen neuen Erkenntnissen aufwarten oder manövriere ich ins Abseits?) und der äußeren Welt (Analyse der verfügbaren Texte) beschäftigt. Worum geht es also bei der gängigen Interpretation der Evangelien als solcher? Ich werde einiges nennen:

a. Wurden die Evangelien vor oder nach 70, vor oder nach dem Fall Jerusalems geschrieben? Die häufigste Ansicht ist, dass alle Evangelien nach dem Fall Jerusalems geschrieben wurden. Das liegt vor allem daran, dass in den Evangelien, zum Beispiel in Markus 13, Matthäus 24 und Lukas 21, der Fall Jerusalems angekündigt wird. Wie hätten sie das im Voraus wissen können? Einige Ausleger stellen aber fest, dass die Beschreibung des Falls von Jerusalem in die genannten apokalyptischen Reden so allgemein gehalten ist, dass man daraus nichts Historisches ableiten kann 78.

b. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Datierung von Markus. Da dies das kürzeste Evangelium ist, wird Markus gewöhnlich als das ursprüngliche Evangelium bezeichnet. Es liegt auf der Hand, dass Matthäus und Lukas diesen kurzen Text aus Markus übernommen haben. Ein weiteres Argument ist, dass Markus eine Art Mittelstellung zwischen Matthäus und Lukas einnimmt, was die Abfolge der Ereignisse angeht. Mit diesem Argument kann man aber in zwei Richtungen gehen. Es gibt auch Gründe, die mittlere Position von Markus aus der Tatsache zu erklären, dass er später und mit dem ausdrücklichen Ziel schreibt, die Widersprüche zwischen Matthäus und Lukas abzuschwächen.

c. Es wird also allgemein angenommen, dass Matthäus und Lukas Markus vor sich hatten. Aber kannten sie auch das Evangelium des jeweils anderen? Autoren, die der Meinung sind, dass Lukas und Matthäus sich nicht kannten, brauchen eine zusätzliche Quelle, die Lukas und Matthäus gemeinsam haben, weil viele Worte und Ereignisse zu ähnlich sind. Dieser Ansatz ist als Zwei-Quellen-Theorie bekannt: eine weitere Quelle zusätzlich zu Markus. Es hat sogar Versuche gegeben, einen solchen Quellentext auf der Grundlage der vorhandenen Evangelien zu rekonstruieren. Es gibt aber auch Gelehrte, die argumentieren, dass Lukas Matthäus nachweislich redigiert hat. Mit Namen Goulder und Farrer sind mit diesem Ansatz bekannt geworden 79. In diesem Fall ist eine zusätzliche Quelle nicht notwendig.

Goulder und Farrer gehen aber auch davon aus, dass Markus die älteste ist. Der Markus-Text müsste dann die Lehre enthalten, die die Apostel in Jerusalem vertraten, was dann hauptsächlich das Werk von Jakobus, Johannes und Petrus wäre, die damals die Gemeinde leiteten. Für Goulder sind freilich auch die theologischen Unterschiede zwischen Matthäus und Lukas von großer Bedeutung. Matthäus hat eine stark rabbinische Interpretation des Lebens der ersten Gemeinde, wie ich bereits erwähnt habe. Als Matthäus aus dem Aramäischen ins Griechische übersetzt wurde, löste das nach Goulders Ansicht bei den von Paulus gegründeten Gemeinden einen großen Schock aus. Schließlich hatte Paulus die Beschneidung abgeschafft und die Bedeutung der Speisegesetze auf ein Minimum reduziert. Und nun, mit diesem Evangelium, sollten sie sich tatsächlich wieder dem jüdischen Gesetz unterwerfen, um ebenfalls „vollkommen“ zu sein (Matthäus 5,48). Nach Lukas sind die Gemeinden aber nicht die Verwirklichung des Reiches Gottes, sondern nur auf dem Weg dorthin. Der Weg, so wird die christliche Gemeinde auch in der Apostelgeschichte genannt.

Farmers Lösung - Konferenz im Jahr 1965 und danach

Aus der Sicht von Rosenstock-Huessy verdient der Vorschlag von Farmer besondere Aufmerksamkeit. In seinem 1964 veröffentlichten Buch stellt er die selbstverständliche Dominanz der Zwei-Quellen-Theorie in Frage 80. Zwei-Quellen-Theorie ist die Bezeichnung für den bereits erwähnten Ansatz, der neben Markus für Matthäus und Lukas eine zweite Quelle voraussetzt. Farmers These lautet demgegenüber, dass Markus sein Evangelium auf der Grundlage der Werke von Lukas und Matthäus geschrieben hat. Dieser Ansatz ist als die Zwei-Evangelien-Theorie bekannt geworden. Farmer stützt sich auf das Zeugnis der Kirchenväter, aber auch auf eine Interpretation der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts und schließlich auf eine sorgfältige Analyse der Texte der ersten drei Evangelien. Seiner Argumentation und Methode werde ich bei nächster Gelegenheit gerne einen eigenen Beitrag widmen.

Interessant für die Auslegung Rosenstock-Huessys ist eine Tagung, die 1965 von einigen Mitgliedern der Rosenstock-Huessy-Gesellschaft mit diesem William Farmer unter Beteiligung von Rosenstock-Huessy selbst und dem damals führenden Neutestamentler Conzelmann veranstaltet wurde. Als wir als Vorstand der Gesellschaft selbst das Archiv in Bethel aufräumten im Herbst von 2023, fand ich einige Mappen mit Material zu dieser Konferenz. Daraus geht zwar hervor, dass bei dieser Konferenz nicht viele neue Gesichtspunkte zutage traten, aber die Konferenz führte zu einem unerwarteten Ergebnis. Conzelmann und Farmer berieten sich während dieser Konferenz über die Organisation einer internationalen Konferenz über die vermeintlichen Selbstverständlichkeit der Zwei-Quellen-Theorie. In der Tat organisierte Farmer mit einer Reihe von Unterstützern - der Name Conzelmann taucht hier nicht mehr auf - sechs große internationale Konferenzen über das synoptische Problem 81. Inzwischen war auch der Ansatz von Farrer und Goulder auf den Plan getreten. Diese Konferenzen befassen sich daneben noch mit einem vierten Ansatz, der die Aufmerksamkeit auf die mündlichen Überlieferungen lenkt, die die Entstehung der Evangelien beeinflusst haben. Die Vertreter dieser Ansicht gehen dabei oft sehr weit: Die Konstruktion von Quellen und Traditionen hinter den Evangelientexten, wie wir sie kennen, nimmt kein Ende. So wird das Ganze sehr spekulativ. Farmer geht von den Texten aus, wie wir sie kennen, und behauptet nicht, dass es weitere Quellen gibt. Er argumentiert, dass Matthäus das erste Evangelium ist, dass Lukas als Anhänger des Paulus dieses Evangelium redigiert und auf die Bedürfnisse der Gemeinden des Paulus zugeschnitten hat, und dass Markus als drittes Evangelium ein gewisser Kompromiss aus diesen beiden Ansätzen ist.

Mit diesen sechs Konferenzen ist es Farmer gelungen, die bestehenden Selbstverständlichkeiten in Hinsicht auf das synoptische Problem gründlich zu erschüttern. Zwar ist die Zwei-Quellen-Theorie auch in unserer Zeit noch vorherrschend, aber vor allem bei Leuten, die sich nicht oder nur beiläufig mit dem synoptischen Problem befassen. Mit einem gewissen Automatismus werden alte Selbstverständlichkeiten in die Zukunft mitgenommen, während diejenigen Neutestamentler, die sich intensiver mit dem Problem beschäftigen, sich der Schichtung des Problems und des Spektrums möglicher Interpretationen bewusster geworden sind. Auch hier spielt natürlich die Tatsache eine Rolle, dass Menschen, die sich einmal an einen bestimmten Ansatz gewöhnt haben, nur schwer wieder aus ihrer Spur zu bringen sind. Ist man erst einmal Anhänger eines bestimmten Ansatzes, lassen sich immer wieder Argumente finden oder konstruieren, die diesem Ansatz Glaubwürdigkeit verleihen, so dass dissonante Informationen umgangen werden. Die vielen Umwege der Debatte führen oft dazu, dass man das Thema liegen lässt.

Am Ende seiner Karriere schrieb Farmer noch ein prägnantes Buch für einfache Kirchenmitglieder, in dem er seinen Ansatz und seine Argumente kurz und klar erläutert 82. Und mehr als das: Er zeigt auch, wie zerstörerisch der allgemeine Relativismus gegenüber den Evangelien für den Glauben der Kirche ist. Ihm zufolge ist das synoptische Problem daher auch ein pastorales Problem. Ich vermute, dass hierin der Einfluss von Rosenstock-Huessy noch zu Tage tritt. Auch Rosenstock-Huessy stellt immer wieder fest, dass die Evangelien falsch sind, wenn wir noch Quellen dahinter konstruieren müssen und die Evangelien nicht beim Wort nehmen können 83. Wenn wir etwas hinter ihnen suchen müssen, sind sie nicht echt. Ob Farmer dies von Rosenstock-Huessy übernommen hat, ist nicht zu beweisen, aber es ist auffällig, dass er in diesem Werk so nachdrücklich darauf zurückkommt.

Sollte der Leser inzwischen der Lektüre verschiedener Theorien und Ansätze überdrüssig sein und auch lieber das Thema einfach übergehen, so ist diese Einsicht von Farmer und von Rosenstock-Huessy ein Argument, das nicht zu tun. Es kommt darauf an, ob und in welcher Weise wir die Evangelien als zuverlässige Zeugnisse lesen können. Wenn wir etwas hinter ihnen suchen müssen, was sie selbst nicht sagen, dann sagen sie nicht die Wahrheit. In diesem Sinne möchte ich hier auch eine Lesart versuchen, sozusagen als Test, von einer der Anfangsgeschichten in diesen drei Evangelien: die Versuchung in der Wüste. Sie erzählen davon auf verschiedene Weise und geben eine andere Version.

Man muss nicht eine Wahrheit hinter diesen Texten suchen, um dennoch eine etwas andere Wahrheit in ihnen zu finden. Wenn man annimmt, dass sie - in welcher Reihenfolge auch immer - ihre Vorgänger kannten, bevor sie ihre eigene Version gaben, dann sieht man von sehr nahe, wie sie im Schreiben ihrer Version verfahren sind. Man sieht dann auch, zu welchem Zweck, mit welcher unterschiedlichen Betonung der Botschaft sie dies getan haben. Dadurch gewinnen sie sowohl für sich als auch kollektiv an Aussagekraft. Auch das möchte ich am Beispiel der Versuchung in der Wüste deutlich machen.

Die Versuchung in der Wüste

Wir könnten noch viele weitere Beispiele von Erzählungen anführen, in denen sich die synoptischen Evangelien ähneln und unterscheiden. Mit der Taufe durch Johannes den Täufer und der Versuchung in der Wüste - anders als in den Geburtserzählungen - beginnt die historische Erzählung des Evangeliums. Nach der Taufe durch Johannes den Täufer wird Jesus in der Wüste vom Teufel oder Satan versucht. Wir stellen die Texte aus Matthäus, Lukas und Markus nebeneinander. Ziel ist es, den Lesern zu helfen, selbst zu beurteilen, was sie da lesen. Denn so sehr die verschiedenen Ausleger auch in alle möglichen Richtungen gehen und sich voneinander unterscheiden, so sehr haben auch sie keine anderen Beweise als die Texte der Bibel selbst. Auch der einfache Bibelleser ist also keineswegs inkompetent.

Die Versuchung in der Wüste

Es gibt drei Versuchungen: Sie betreffen (1) die Brotfrage, (2) dann Ehre und Eitelkeit und (3) schließlich die politische Macht. Zumindest ist dies die Reihenfolge bei Matthäus. Dem Leser wird sofort auffallen, dass Lukas die Reihenfolge der zweiten und dritten Versuchung im Vergleich zu Matthäus umgedreht hat. Warum sollte Lukas das getan haben? Aber wenn wir die Frage so stellen, gehen wir schon davon aus, dass Lukas den Matthäus-Text vor sich hatte. Es gibt zwar viele Ähnlichkeiten, aber die Frage ist, woher sie kommen. Es könnte auch sein, dass Lukas und Matthäus einander nicht kannten und aus einer gemeinsamen Quelle schöpften, die verloren gegangen ist. In der Literatur wird diese Quelle als Q bezeichnet, einfach nach dem Wort Quelle. Auffällig ist auch, dass Markus nur berichtet, dass Jesus in Versuchung geführt wurde, aber nicht, worin diese Versuchung konkret bestand. Matthäus und Lukas haben im Übrigen viel mehr Text. Wenn Markus nun das älteste Evangelium ist, liegt der Gedanke nahe, dass Matthäus und Lukas Markus erweitert haben. Zu diesem Zweck haben sie dann aus einer zweiten Quelle, Q, geschöpft, und so kommen wir zu der Zwei-Quellen-Theorie. Für jeden, der eine theologische Ausbildung hat, ist das einleuchtend. Denn dies ist immer noch der vorherrschende Ansatz.

Weniger bekannt ist die Farrer-Hypothese, die davon ausgeht, dass die gesamte Quelle Q nie existiert hat. Sie ist auch nicht notwendig, wenn man davon ausgeht, dass Lukas einfach den Text des Matthäus vor sich hatte. Farrer behauptet jedoch, dass Markus das älteste Evangelium ist. Das tut auch der bereits erwähnte Goulder.

Schließlich ist es Farmer, der die so genannte Zwei-Evangelien-Theorie aufgestellt hat. Der Unterschied zu Farrer besteht darin, dass Markus laut Farmer und seinen Anhängern sein Evangelium zeitlich nach und genau auf der Grundlage der beiden anderen Evangelien, Matthäus und Lukas, geschrieben hat. Im Folgenden wird auf die Unterschiede zwischen Matthäus, Lukas und Markus in Bezug auf die Versuchungen in der Wüste eingegangen, um das hier Gesagte zu konkretisieren.

Matthäus

Nach der Taufe im Jordan kommt die Versuchung in der Wüste. Und nach der Versuchung in der Wüste folgt die Verkündigung Jesu in Nazareth. Das gilt übrigens für alle drei Evangelien. Der Text bei Matthäus folgt der Erzählung von den Versuchungen im Buch Exodus. Dort wird Israel geprüft und Israel prüft Gott.

Nach dem Auszug aus Ägypten ist das erste Problem, mit dem Israel konfrontiert wird, die Brotfrage. In Exodus 16 beklagt sich Israel: ‚„Hätte der Herr uns doch in Ägypten sterben lassen“ - so sagten sie zu Mose und Aaron. „Dort waren wenigstens die Fleischtöpfe gefüllt und wir hatten genug Brot zu essen. Ihr habt uns nur in die Wüste gebracht, um uns hier verhungern zu lassen.‘“ Der Herr kommt Israel entgegen: Israel empfängt Brot vom Himmel, das Manna. Jesus hingegen gibt der Versuchung nicht nach. Er antwortet mit einem Bibelwort: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes kommt (Deuteronomium 8,3).

Die nächste Versuchung betrifft die Versuchung der Eitelkeit, die eine ehrenvolle Stellung mit sich bringt. In Daniel 9,25 wird prophezeit, dass jemand Jerusalem rettet, aber danach getötet wird. Nun versucht der Teufel dasselbe mit Jesus, indem er ihn in Versuchung führt. Als großer Führer wirst du auf Händen getragen werden! Denn die Engel werden dich auf ihren Flügeln tragen: so Psalm 91:4,1. Die Antwort Jesu kommt diesmal aus der Geschichte von der Versuchung Israels bei Massa und Meriba: In dieser Geschichte ist Israel durstig und will nun wissen, ob Gott in seiner Mitte ist oder nicht. Jetzt muss er sich beweisen, indem er Wasser gibt! Die Antwort Jesu stammt aus Deuteronomium 6, 16: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.

Die dritte Versuchung, das Niederknien vor dem Teufel, bezieht sich auf Exodus 32, die Geschichte vom goldenen Kalb. Als Mose auf dem Berg ist, um das Gesetz des Herrn zu empfangen, wird das Volk ungeduldig und fällt in die Verehrung der Götter Ägyptens zurück: eine hierarchische Befehlskette, die durch den Stier symbolisiert wird. Wieder antwortet Jesus mit einem Zitat aus dem Deuteronomium, und zwar aus Deuteronomium 6,13: „Habt Ehrfurcht nur vor dem Herrn, eurem Gott, dient ihm und schwört nur bei seinem Namen.“

Die Quintessenz des Ganzen ist: Wo Israel in der Wüste schwach ist und der Versuchung nachgibt, überwindet Jesus. Deshalb dienen ihm auch die Engel.

Lukas

Wir folgen Goulder in seinem Kommentar zu Lukas 84. Nach Goulder folgt Lukas dem Text des Matthäus, den er vor sich hat. Aber wie so oft ist er anfangs selbst kreativ, passt sich dann aber im Laufe der Zeit immer mehr dem Matthäus-Text an. Goulder nennt dies das Phänomen der Ermüdung.

Jesus wird vom Geist erfüllt in die Wüste geführt: „vom Geist erfüllt“ ist ein typischer Ausdruck des Lukas. Siehe z. B. Lukas 1,15. So ist es auch bei Paulus, dessen Anhänger Lukas ist. Siehe z. B. Epheser 5,18. Neben der Wassertaufe kommt die Taufe mit dem Heiligen Geist. Charakteristisch für Lukas ist auch, dass er eine Geschichte erzählt. Das ist anders als bei Matthäus. Matthäus macht eine schnelle Momentaufnahme einer Szene, in der der Teufel etwas sagt und von Jesu Antwort übertrumpft wird. Lukas erzählt den Verlauf der Ereignisse. Das zieht sich durch die ganze Geschichte, und durch den ganzen Lukas.

Bei der ersten Versuchung hat Lukas in der Antwort Jesu nur die Worte „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ und lässt die längere Version „sondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes kommt“ weg. Nach Goulder lässt Lukas jedoch kein Wort von Matthäus ungenutzt. Was er in einem Kontext weglässt, verwendet er in einem anderen trotzdem wieder. Nur gibt Lukas ihm oft nur eine andere Wendung. So geschieht es auch hier, denn in Jesu Predigt in Nazareth taucht dieser Satz wieder auf, der hier fehlt. Und zwar in Lukas 4,22, wo sich die Menschen in Nazareth über die „gütigen Worte, die aus seinem Mund flossen“, wundern.

Lukas kehrt die Reihenfolge der zweiten und dritten Versuchung um. Die dritte Versuchung bei Matthäus kommt bei Lukas an zweiter Stelle. In seiner Version lässt Matthäus Jesus vom Teufel auf einen sehr hohen Berg führen. Lukas lässt diesen sehr hohen Berg weg, weil es ohnehin keinen Berg gibt, von dem aus man alle Reiche sehen kann. Er macht daraus eine Vision, in der man „in einem Augenblick“ die ganze Welt sehen kann. In der Matthäus-Version zeigt der Teufel Jesus alle Reiche (Plural) und „ihre Herrlichkeit“ (wörtlich: „und die Herrlichkeit von ihnen“). Bei Lukas bietet der Teufel alle Macht über „all das“ (die Reiche der Welt) und die Herrlichkeit „von ihnen“ an. „Von ihnen“ steht wörtlich bei Lukas. Dieses „von ihnen“ läuft in seinem Satz nicht reibungslos ab. Goulder legt den Finger darauf, denn diese ungelenke Ausdrucksweise findet ihre Erklärung darin, dass Lukas noch die Formulierung des Matthäus im Kopf hat. Goulder weist häufiger auf solche Phänomene hin, und er sieht dies als Beweis dafür, dass Lukas den matthäischen Text einfach bearbeitet.

Bei der dritten Versuchung (bei Matthäus die zweite) folgt Lukas dem Matthäus genauer, nur verschiedene Ausarbeitungen werden etwas anders wiedergegeben. Goulder legt den Finger auf viele Texte, in denen Lukas auf diese Weise vorgeht. Er nimmt den Matthäus-Text und nimmt am Anfang dieser Erzählung die meisten Änderungen vor, Abkürzungen, Worte, die zu Lukas passen, eigene Akzente, aber im Laufe der Zeit passt er sich mehr und mehr dem Matthäus-Text an. Goulder nennt dies das Phänomen der Ermüdung.

Warum hat Lukas die Reihenfolge umgedreht? Diese Frage ist berechtigt, denn bei Matthäus gibt es eindeutig einen Anlauf zu einem Höhepunkt: Brot - Status/Eitelkeit - politische Macht. Andere Ausleger argumentieren, dass der Tempel hier ein wichtiges Argument ist. Für Lukas wäre der Höhepunkt die Rolle des Tempels. Das Lukasevangelium beginnt im Tempel, mit Zacharias, der über den Besuch des Engels erstaunt ist. Es endet auch mit dem Tempel, denn die Apostel haben Gott in Jerusalem immer im Tempel gepriesen. Und auch in der Apostelgeschichte beginnt die Handlung im Tempel. Außerdem gibt Stephanus in seiner Rede vor der Steinigung einen langen Bericht über die Geschichte Israels, und auch diese Rede endet mit der Einweihung des Tempels durch Salomo (Apostelgeschichte 7). Die Erstarrung von Israel findet im Tempeldienst statt, so wird offenbar unterstellt. Das Argument passt gut zu Rosenstock-Huessys Sicht des Lukasevangeliums: Lukas interpretiert die ursprüngliche Inspiration Israels für die Griechen, die sich der neuen Ekklesia anschließen. Die Erstarrung von Israel im Tempeldienst und der Neuanfang mit dem gerechten Jesus Christus, der wie die anderen Propheten ermordet wurde (Apg 7,51-53), passen gut dazu.

Goulder schenkt diesem Argument nicht viel Glauben. Ihm zufolge hat Lukas mit der Umkehrung eine andere Absicht. Ihm zufolge will Lukas das Bibelzitat „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen“ als Schlussfolgerung aus den Versuchungen ziehen. Nun, das eine muss das andere nicht ausschließen. Es könnte auch noch sein, dass es Lukas wichtig ist, zu unterstreichen, dass Jesus als „Sohn Gottes“ nicht in die Falle der Eitelkeit tappt. Er darf - wie Rosenstock-Huessy es ausdrückt - den Titel „Sohn Gottes“ tragen, weil er den Weg der Selbstentäußerung geht 85. All diese Argumente mögen bei Lukas eine Rolle gespielt haben.

Goulder, der argumentiert, dass Matthäus das Original ist und dass Lukas seinen Text verwendet und bearbeitet, bemerkt auch, dass Matthäus bei der Abfolge der Erzählung des Exodus am treuesten ist: erst die Brotfrage, dann Status/Eitelkeit, dann politische Macht.

Im Griechischen hat Matthäus in den Worten „Betet den Herrn, euren Gott, an, betet nur ihn an“ (Matthäus 4,10) zwei kleine Änderungen vorgenommen, die in der Septuaginta so nicht vorkommen, so Goulder. Lukas hat die gleichen zwei kleinen Änderungen vorgenommen. Er hat also nicht den Originaltext der Septuaginta verwendet, sondern möglicherweise die Änderungen des Matthäus übernommen. - Aber jemand, der die Zwei-Quellen-Theorie (Q) verteidigt, wird wahrscheinlich sagen, dass diese Quelle diese Änderungen bereits vorgenommen hatte.

Die Bibelzitate, die den Teufel widerlegen, beziehen sich auf Deuteronomium, aber die Ereignisse in der Reihenfolge des Matthäus beziehen sich auf den Exodus in chronologischer Reihenfolge: Brot, Massa und Meriba, das goldene Kalb.

In der Erzählung geht es darum, dass Jesus die Prüfung besteht, bei der Israel versagt hat. Vor allem bei Matthäus passt das gut in seine Erzählung, denn in seiner Erzählung bringt Jesus die Geschichte Israels zur Vollendung. Bei Matthäus muss Jesus nach Ägypten fliehen, überlebt den Kindermord, wie er auch in Ägypten geschah, und muss schließlich zurückkehren, als die Leute, die ihn töten wollten, nicht mehr am Leben sind. Matthäus verwendet die Worte: „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen“ (Matthäus 2,15). Es handelt sich um ein Zitat aus Hosea 11,1, das in der Septuaginta-Übersetzung im Plural steht: „Aus Ägypten habe ich meine Kinder gerufen“. Matthäus folgt der Übersetzung der Septuaginta, schreibt aber wieder im Singular, wie ursprünglich in Hosea 11,1.

Markus

Markus hat den kürzesten Text. Das ist an sich ein gefundenes Fressen für die Anhänger der Zwei-Quellen-Theorie. Markus ist dann eine der beiden Quellen, und darüber hinaus haben Matthäus und Lukas beide aus einer zweiten Quelle, Q, geschöpft, und das ist dann die Quelle, in der die Versuchung in der Wüste breiter ausgedrückt wird. Das ist an sich ein schöner Gedanke. Aber so einfach ist es nicht. Denn Markus mag das kürzeste Evangelium sein, oft sind seine Geschichten die längsten. Sie enthalten viele Bilder und Ausschweifungen. Es gibt Grund, in dieser Hinsicht an Petrus zu denken, dessen Sekretär Markus der Überlieferung nach war. Markus hat seine Evangeliengeschichten aus dem Munde des Petrus aufgezeichnet, auch das ist überliefert. Das Markusevangelium an sich würde sich am besten für eine Verfilmung eignen. Es hat Tempo und ist voller Ereignisse. Es hat Farbe.

Die Schwierigkeit bei der ganzen Debatte über die synoptische Frage ist die Umkehrbarkeit: Ist Markus der erste und haben Matthäus und Lukas seinen etwas ungeschliffenen und kurzen Text verfeinert und ergänzt? Diejenigen, die dies glauben, sehen dies überall bei Matthäus und Lukas der Fall. Es könnte aber auch umgekehrt sein, dass Markus den Text von Matthäus und Lukas nahm und eine Version davon erstellte, die (1) die scharfen Kanten der Widersprüche zwischen Matthäus und Lukas wegschärfte, (2) die anregende ungeschliffene Stimme des Petrus in seinem Evangelium durchscheinen ließ und (3) das Evangelium für die kritische Situation in Rom nach dem Martyrium von Petrus und Paulus geeignet machte und an die Alltagssprache des Zielpublikums anpasste.

Im Text über die Versuchung fallen in Bezug auf die ungeschliffene Sprache drei Dinge auf. Erstens: „Der Geist trieb ihn in die Wüste“. Das griechische Wort für „trieb“ ist ekballei, was so viel bedeutet wie „hinauswerfen“. Das ist nicht nur suggestiv, sondern auch sehr eindringlich formuliert. Außerdem spricht Markus von Satan und nicht von Teufel oder Versucher. Schließlich befindet sich Jesus in der Wüste unter den wilden Tieren und wird von Engeln bedient. Wenn Markus das Original ist, haben Matthäus und Lukas diese wilden Tiere nicht übernommen. Wenn Matthäus und Lukas das Original sind, hat Markus die Engel von Matthäus und Lukas übernommen und die wilden Tiere hinzugefügt. Dies ist eine Anspielung auf das Buch Daniel, wo Daniel ebenfalls von wilden Tieren in der Löwengrube umgeben ist (Daniel 6:2-9). Auch bei Daniel ist dies eine Kritik an der Bestialität der stumpfen Gewalt, in deren Mitte der Menschensohn erscheint.

Man kann all dies als zufällige Merkmale von Markus ansehen, aber man kann es auch in eine umfassendere Interpretation der Absicht des Markusevangeliums einordnen. Markus lässt das ganze theologische Getue von Matthäus und Lukas weg und stellt eine radikale Sohnschaft Christi in den Mittelpunkt, verbunden mit einer radikalen Nachfolge 86. Markus beginnt sein Evangelium mit dem Wort „arche“ - „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes“. Das griechische Wort „arche“ bedeutet nicht nur Anfang, sondern auch Herrschaft. Und der Sohn Gottes ist auch die Alternative zu den römischen Kaisern als Sohn Gottes. Immer wieder verstehen die Jünger bei Markus nicht, was Jesus meint - viel stärker als in den anderen Evangelien. Und am Ende fällt der Groschen: Jesus meint das Martyrium! Mit anderen Worten: Markus wurde für die Situation des Martyriums in Rom geschrieben, wo wenig Zeit für schöne Worte blieb, wo die Gegensätze zwischen jüdisch und heidnisch orientierten Christen angesichts dieser Krise überwunden werden sollten, um gemeinsam standzuhalten, wo es notwendig war, das Evangelium in der Sprache der einfachen Leute zu interpretieren, und wo mit dem Martyrium auch die „wilden Tiere“ bedrohlich präsent waren (die Arena!). - So kann auch Markus gelesen werden.

Fazit

Ich habe kurz angedeutet, worin der spezifische Ansatz von Rosenstock-Huessy zu den Evangelien besteht und warum er für ihn so wichtig ist. Man kann freilich nicht sagen, dass sein Ansatz die neutestamentliche Wissenschaft seiner Zeit beeinflusst hätte. In der Literatur habe ich bisher nur zwei Hinweise auf Rosenstock-Huessy gefunden. Er stellt die Dominanz der Zwei-Quellen-Theorie in Frage, indem er argumentiert, dass die Evangelien (zumindest die ersten drei) vor dem Jahr 70 geschrieben wurden und dass jedes dieser vier Evangelien einen der vier Kulturströme der Antike durchbricht und ihn für die anderen Kulturformen öffnet. Das Kreuz Christi ist die Bruchstelle. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es unabhängig von Rosenstock-Huessy zu einer erneuten Debatte über die Zusammenhänge und Unterschiede zwischen den Evangelien. Es ist keine ausgemachte Sache, dass der Ansatz von Rosenstock-Huessy dadurch mehr Gehör gefunden hat. Aber das Gespräch über die Ursprünge und die gegenseitige Beeinflussung der Evangelien, auch in dem, was wir oben von ihnen dargestellt haben, bietet dafür mehr Möglichkeiten. Ich hoffe, dass ich dies in einem späteren Beitrag weiter erkunden kann.

Referenzen

Otto Kroesen

5. Geschwisterlichkeit: Tochter Europa

Als ich eine Passage aus einem Kapitel Rosenstock-Huessys vorlas, wurde allen Anwesenden plötzlich klar, dass er als Mann an Männer schrieb. Die Stimme einer Frau, meine Stimme, klang entfremdet. Uns wird klar, dass also auch das Lesen für eine Frau anders ist. Ich werde anders angesprochen, eigentlich nicht, aber ich lese über seine Schultern mit. Und ich glaube ihm.

Otto Kroesen hat mir die Frage gestellt: die ganze Gesellschaft wird in die Rolle der Tochter gestellt, was bedeutet das?

Rosenstock-Huessy hat gesagt - ich meine in der Soziologie - das Schlüsselwort für die Tochter ist das Wort ‘bitte’. Als Frage und als Antwort. Das Kernwort für die Mutter ist Danke, und für den Vater und den Sohn sind es Ja und Nein.

Bitte und Danke sind Worte, die in der Zeit wirken: Bitte verändert die Zukunft, Danke würdigt die Vergangenheit. Ja und Nein sind Raumwörter, sie organisieren Räume, obwohl sie natürlich auch in der Zeit wirken: Wenn man ja sagt, kann etwas existieren/leben/wachsen, wenn man nein sagt, tötet man eine Möglichkeit. Nun habe ich im Laufe meines Lebens - ich bin jetzt 79 Jahre alt - gelernt, Ja und Nein zu sagen, zu leben, also muss es auch für Männer möglich sein, Bitte und Danke zu sagen, im richtigen Augenblick.

Der Mensch wird in erster Linie vom männlichen Standpunkt aus verstanden. Ihr Männer habt die Schrift erfunden. Adam bekommt eine Hilfe: Eva, diese Geschichte aus der Bibel wird in jeder Generation neu erzählt und geglaubt, von Christen und Muslimen. So habe ich auch meine bezahlte Arbeit begonnen: als Helferin, als Sekretärin des Geschäftsführers. (Diese Funktion konnte ich dann auch mühelos im Vorstand übernehmen, bitte sehr). Ich bekam auch keine Rente, weil ich heiraten sollte. Zum Glück waren die meisten paternalistischen Praktiken zu meiner Zeit schon verschwunden, aber im Ernst, wir Frauen wurden nicht als gleichwertig angesehen. Eher objektiviert und klassifiziert. Aber genau das wollte ich: ernst genommen werden und mitmachen. Und der Weg führte über Ko Vos und Eugen Rosenstock-Huessy.

Sicher, seit Luther und seiner Katharina ist die Welt der Frauen und Männer zweigeteilt: die Frau hütet das Haus, die Innenwelt, und der Mann geht nach außen. Und zu ihrer Zeit war die Hausarbeit genauso schwer und wichtig wie die Arbeit des Mannes, damit die Familie überleben konnte. Aber die industrielle Revolution erleichterte die Hausarbeit so sehr und reduzierte die Kinderzahl so sehr, dass sie die Frau von ihrem Fluch befreite. Die Frauen hatten Zeit, sich zu bilden, Geld zu verdienen und unabhängig zu werden. Das hat die Beziehung zwischen Männern und Frauen grundlegend verändert. Wir sind weniger verschieden geworden, aber wir bleiben füreinander ein Gegenüber.

Die Art und Weise, wie Frauen und Männer ihren Teil der Welt organisieren, ist unterschiedlich. Männer neigen dazu, von oben herab hervorzugehen, vertikal, siehe in extremis Putin und jetzt auch Trump, und Frauen neigen dazu, zu kooperieren, horizontal: Jede gibt, was sie will und kann, und gemeinsam wird die Arbeit leicht. Ihr Deutschen habt ein Wort dafür: Geschwisterlichkeit. Jetzt, wo die Welt ein Haushalt wird, eine innere Welt, wird die Hausfrau, die weibliche Art, sich zu organisieren, die Geschwisterlichkeit, wichtig.

Um zu überleben, muss Europa zusammenarbeiten, politisch und wirtschaftlich, und das geschieht hier und jetzt. Tochter Europa ist bereits 80 Jahre nach dem 2. Weltkrieg im Werden. Seit dem 10. Februar 1953, als sich sechs Staaten, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien und die Niederlande, Belgien und Luxemburg zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zusammenschlossen. Daraus entwickelte sich später die immer größer und enger zusammenwachsende Europäische Union. 27 Mitglieder sind es heute, und die Ukraine möchte Nr. 28 werden. Eine Familie wird sie, sie ist im Werden, mit allem Ärger und Streit, der dazu gehört. Von außen gezwungen (Russland und Amerika) und von innen gewollt, europäisch zu werden. Geschwisterlich eben. Töchterlich auch.

Aus Revolutionen ist es entstanden, Europa, ein Teil nach dem anderen. Mit dem Papst hat es angefangen, mit Russland hat es aufgehört. Jetzt hätte jeder Staat seinen eigenen Charakter, und gibt seine Ausstattung den anderen in der EU, und so werden wir immer mehr erst Europäer und dann Deutsche oder Niederländer.

Rosenstock-Huessy hat „Die Tochter“ geprägt nach seiner Frau Margrit. Sie hat ihn gerettet, sagt er, weil sie, christlich erzogen (sage ich), in der Lage war, ihm zu glauben, zu verstehen und zu lieben und ihn so aus seiner Einsamkeit zu erlösen. Und nicht nur ihn.

Sie ist eben lebensfähig und liebenswürdig, die Tochter.

Also bitte.

Wilmy Verhage

6. Vormerken der Jahrestagung 17.10. - 19.10.2025

Liebe Mitglieder, Freunde und Interessierte,
bitte merken Sie sich den Termin der Jahrestagung 2025 vom 17.10 - 19.10 im Haus am Turm, Essen vor. Unter dem Thema: „Die Gesellschaft als Tochter” wird sich die Tagung mit Rosenstock-Huessys Schwerpunkten Gesellschaft und Töchterlichkeit befassen.

Jürgen Müller

7. Adressenänderungen

Bitte senden sie eine eventuelle Adressenänderung schriftlich oder per E-mail an Thomas Dreessen (s. u.), er führt die Adressenliste. Alle Mitglieder und Korrespondenten, die diesen Brief mit gewöhnlicher Post bekommen, möchten wir bitten, uns soweit vorhanden, ihre Email-Adresse mitzuteilen.

Thomas Dreessen

8. Hinweis zum Postversand

Der Rundbrief der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft wird als Postsendung nur an Mitglieder verschickt. Nicht-Mitglieder erhalten den Rundbrief gegen Erstattung der Druck- und Versandkosten in Höhe von € 20 p.a. Der Versand per e-Mail bleibt unberührt.

Thomas Dreessen

zum Seitenbeginn

  1. Max Weber, Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Mit- und Nachschriften 1919/20, hrsg.v. Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Joachim Schröder (= MWG III/6), Tübingen: J.C.B.Mohr(Paul Siebeck) 2011, S.369. 

  2. N.N., Weltboykott oder Arbeitsgemeinschaft, in: Die Friedens-Warte. Blätter für zwischenstaatliche Organisation, Vol. 18, No. 4 (April 1916), S.117-119. 

  3. Harry Graf Keßler, Der Völkerbund als Wirtschafts- und Arbeitsgemeinschaft.*) Rede, gehalten auf dem IX. Deutschen Pazifisten-Kongreß zu Braunschweig in der Sitzung vom 2. Oktober 1920, in: Die Friedens-Warte. Blätter für zwischenstaatliche Organisation, Vol. 22, No. 7/8 (Oktober-November 1920), S.210. 

  4. Harry Graf Keßler, Der Völkerbund als Wirtschafts- und Arbeitsgemeinschaft.*) Rede, gehalten auf dem IX. Deutschen Pazifisten-Kongreß zu Braunschweig in der Sitzung vom 2. Oktober 1920, in: Die Friedens-Warte. Blätter für zwischenstaatliche Organisation, Vol. 22, No. 7/8 (Oktober-November 1920), S.211. 

  5. FAZ Nr.114 v. 17. Mai 2025. 

  6. Eugen Rosenstock, Der Sinn der Akademie der Arbeit, in: Werner Picht, und Eugen Rosenstock, Im Kampf um die Erwachsenenbildung 1912 – 1926 (Schriften für Erwachsenenbildung; 1.Bd.), Leipzig: Quelle & Meyer 1926, S.141. 

  7. Rosenstock-Huessy, Eugen, Friedensbedingungen einer Weltwirtschaft, in: ders., Friedensbedingungen der planetarischen Gesellschaft. Zur Ökonomie der Zeit, hrsg. von Rudolf Hermeier, Münster: Agenda-Verlag 2001, S.155. 

  8. Eugen Rosenstock, Die Ausbildung des Volksbildners, in: Die Arbeitsgemeinschaft, 3. Jg., H.3/4 (1921), S.86. 

  9. Vor allem Jürgen Henningsen hat sich in drei Monographien und einem Lexikonbeitrag mit der Arbeitsgemeinschaft als Zentralbegriff der Neuen Richtung der Erwachsenenbildung beschäftigt. Dabei geht er aber kaum auf den allgemeinpolitischen Impetus des Begriffs bei Eugen Rosenstock ein und analysiert den Begriff auch nicht im Kontext der Schrift „Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution“. Dafür bringt er einen extensive Durcharbeitung der zeitgenössischen Zeitschriftenbeiträge. Albert Wunsch wiederum bezieht die Schrift in seine Argumentation ein (mit ausführlicher Bibliographie), ohne aber herauszuarbeiten, daß der Autor weit in die Vergangenheit zurückschaut und weit in die Zukunft „der Gesellschaft“ zielt. 

  10. Eugen Rosenstock, Das Dreigestirn der Bildung, in: Werner Picht, und Eugen Rosenstock, Im Kampf um die Erwachsenenbildung 1912 – 1926 (Schriften für Erwachsenenbildung; 1.Bd.), Leipzig: Quelle & Meyer 1926, S.30. 

  11. Eugen Rosenstock, Das Dreigestirn der Bildung, in: Werner Picht, und Eugen Rosenstock, Im Kampf um die Erwachsenenbildung 1912 – 1926 (Schriften für Erwachsenenbildung; 1.Bd.), Leipzig: Quelle & Meyer 1926, S.36. 

  12. Theodor Mommsen, Antwort an Harnack, 3. Juli 1890, in: Ders., Reden und Aufsätze, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1905, S.209. 

  13. Der Sammelband bietet eine Fülle von Parallelen zu späteren Schriften Eugen Rosenstocks. Sie erklärt warum sich der Schüler als einer der ersten mit dem Nachlaß Barthold Georg Niebuhrs beschäftigte, dem carmen avale nachging, sich akademisch orientierte und möglicherweise wirft die Lektüre von Mommsens Kritik an Treitschke auch neues Licht auf den Übertritt von Eugen Rosenstock zum Christentum. Dazu auch der Aufsatz „Universitätsunterricht und Konfession“ von 1901. 

  14. Weber, Max, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter. Schriften 1889-1894, hrsg.v. Gerhard Dilcher u. Susanne Lepsius (= MWG I/1), Tübingen: J.C.B.Mohr(Paul Siebeck) 2008, S.288. 

  15. Weber, Max, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter. Schriften 1889-1894, hrsg.v. Gerhard Dilcher u. Susanne Lepsius (= MWG I/1), Tübingen: J.C.B.Mohr(Paul Siebeck) 2008, S.295. 

  16. Weber, Max, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter. Schriften 1889-1894, hrsg.v. Gerhard Dilcher u. Susanne Lepsius (= MWG I/1), Tübingen: J.C.B.Mohr(Paul Siebeck) 2008, S.204. 

  17. Friedrich Wilhelm Förster, Christentum und Klassenkampf. Sozialethische und sozialpädagogische Betrachtungen, Zürich: Druck und Verlag von Schultheß & Co. 1908, S.252ff. 

  18. Friedrich Wilhelm Förster, Christentum und Klassenkampf. Sozialethische und sozialpädagogische Betrachtungen, Zürich: Druck und Verlag von Schultheß & Co. 1908, S.107. 

  19. Richard Ehrenberg, Das Arbeitsverhältnis als Arbeitsgemeinschaft, in: Thünen-Archiv. Organ für exakte Wirtschaftsforschung, II.Jg. (1907/09), S.176-202. 

  20. Kurt Breysig, Von Gegenwart und von Zukunft des deutschen Menschen, Berlin: Georg Bondi 1912, S.122. 

  21. Jürgen Henningsen, Zur Theorie der Volksbildung. Historisch-kritische Studien zur Weimarer Zeit (= Schriften zu Volkshochschulfragen ,Bd.20), Berlin: Carl Heymanns Verlag 1959, S.71ff. 

  22. Max Apel, Die Volkshochschule im neuen Deutschland, Berlin 1919, S.6. 

  23. N.N., Weltboykott oder Arbeitsgemeinschaft, in: Die Friedens-Warte. Blätter für zwischenstaatliche Organisation, Vol. 18, No. 4 (April 1916), S.119. 

  24. Tönnies, Ferdinand, Gemeinschaft und Gesellschaft. 1880 – 1935, hrsg.v. Bettina Clausen und Dieter Haselbach (= Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe; Bd.2), Berlin; Boston: Walter de Gruyter 2019, S.367ff. 

  25. Eugen Rosenstock-Huessy, Soziologie I: Die Kräfte der Gemeinschaft, Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter 1925, S.228. 

  26. Tönnies, Ferdinand, Gemeinschaft und Gesellschaft. 1880 – 1935, hrsg.v. Bettina Clausen und Dieter Haselbach (= Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe; Bd.2), Berlin; Boston: Walter de Gruyter 2019, S.89. 

  27. Albert Wunsch, Die Idee der „Arbeitsgemeinschaft“. Eine Untersuchung zur Erwachsenenbildung in der Weimarer Zeit, Frankfurt a.M.: Verlag Peter Lang 1986. 

  28. Eugen Rosenstock, Robert von Erdberg, in: Unterhaltungsbeilage Nr.54 der Schlesischen Zeitung v. 6. Juni 1926; Werner Picht, und Eugen Rosenstock, Im Kampf um die Erwachsenenbildung 1912 – 1926 (Schriften für Erwachsenenbildung; 1.Bd.), Leipzig: Quelle & Meyer 1926. 

  29. Robert von Erdberg, (Hrsg.), Volksbildungsarchiv, Berlin: Verl. d. Arbeitsgemeinschaft 1910. 

  30. Jürgen Henningsen, der sich vor allem mit den pädagogischen Aspekten der Erwachsenenbildung beschäftigt hat, liefert auch „biographische Notizen“ zu den Akteuren, wobei auffällt, daß ein Portrait Werner Pichts fehlt: Ders. (Hrsg.), Die neue Richtung in der Weimarer Zeit. Dokumente und Texte (= Schriften zur Erwachsenenbildung), Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1960, S.158-162. 

  31. Albert Wunsch, Die Idee der „Arbeitsgemeinschaft“. Eine Untersuchung zur Erwachsenenbildung in der Weimarer Zeit, Frankfurt a.M.: Verlag Peter Lang 1986, S.55. 

  32. Sönke Neitzel, Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942-1945, Berlin: Propyläen 2005, S.91ff. 

  33. Friedrich Naumann, Soziologie, in: Die Hilfe, XVII. Jg., Nr.21 (1911, 25.Mai), S.322-323. Es ist mehr als bezeichnend, daß selbst historisch forschende Soziologen diesen Text nicht kennen! 

  34. Eugen Rosenstock, Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.254ff. 

  35. Eugen Rosenstock, Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.256. 

  36. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet 1919-1920, hrsg.v. Knut Borchardt, Edith Hanke, Wolfgang Schluchter (= MWG I/23), Tübingen: J.C.B.Mohr(Paul Siebeck) 2013, 262. 

  37. Eugen Rosenstock, Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.256. 

  38. Eugen Rosenstock, Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.255. 

  39. Eugen Rosenstock, Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.258. 

  40. Eugen Rosenstock, Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.259. 

  41. Eugen Rosenstock, Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.261. 

  42. Eugen Rosenstock, Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.262. Gemeint ist die seit 1919 erscheinende Daimler Werkzeitung. 

  43. Andreas Möckel, Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973), in: Daimler Werkzeitung 1919/20, hrsg.v.d. DaimlerBenz AG, Moers: Brendow Buchkunstverlag o.J. (ND 1991), S.IX-XI. 

  44. Eugen Rosenstock, Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.265f. 

  45. Eugen Rosenstock, Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.266. 

  46. Rolf Peter Sieferle, Der unterirdische Wald. Energiekrise und Industrielle Revolution <1982>, Lüdinghausen und Neuruppin: Landtverlag 2021, S.70. 

  47. Eugen Rosenstock, Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.268. 

  48. Eugen Rosenstock, Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.269. 

  49. Eugen Rosenstock, Ostblock oder Sibirien, in: Osteuropa und wir. Das Problem Rußland erörtert von Dr. Eberhard Sauer, Dr. Eugen Rosenstock, Prof. Dr. Hans Ehrenberg (= Neuwerk-Bücherei; 2), Schlüchtern: Neuwerk-Verlag 1921, S.74. 

  50. Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman, hrsg.v. Hans-Jürgen Schings (= Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe; Bd.5), 8. Buch, 5. Kapitel, München: Carl Hanser Verlag 1988, S.553. 

  51. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. 

  52. Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, 2 Bde., hrsg.v. Melchior Palyi, München; Leipzig: Verlag von Duncker & Humblot 1923. 

  53. Eugen Rosenstock, Menschheit und Menschengeschlecht, in: Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.301. 

  54. Eugen Rosenstock-Huessy, Soziologie, 2. Bd.: Die Vollzahl der Zeiten, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 1958, S.511. 

  55. Eugen Rosenstock, Menschheit und Menschengeschlecht, in: Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.289. 

  56. Eugen Rosenstock, Menschheit und Menschengeschlecht, in: Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.290. 

  57. Eugen Rosenstock, Menschheit und Menschengeschlecht, in: Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.296. 

  58. Eugen Rosenstock, Menschheit und Menschengeschlecht, in: Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.296. 

  59. Eugen Rosenstock, Menschheit und Menschengeschlecht, in: Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.299. 

  60. Eugen Rosenstock, Menschheit und Menschengeschlecht, in: Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.298f. 

  61. Eugen Rosenstock, Menschheit und Menschengeschlecht, in: Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.300. 

  62. Eugen Rosenstock-Huessy, Heilkraft und Wahrheit. Konkordanz der politischen und der kosmischen Zeit, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk 1952, S.140. 

  63. Eugen Rosenstock, Die Tochter, in: ders., Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.270. 

  64. Rolf Peter Sieferle, Der unterirdische Wald. Energiekrise und Industrielle Revolution <1982>, Lüdinghausen und Neuruppin: Landtverlag 2021, S.349. 

  65. Gerald D. Feldman und Irmgard Steinisch: Industrie und Gewerkschaften 1918–1924. Die überforderte Zentralarbeitsgemeinschaft (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Bd.50), Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1985, S.7. 

  66. Dieter Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924. Voraussetzungen, Entstehung, Umsetzung und Bedeutung, hrsg.v. Gesamtmetall, Berlin, Duncker & Humblot 2018, S.49. 

  67. Dieter Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924. Voraussetzungen, Entstehung, Umsetzung und Bedeutung, hrsg.v. Gesamtmetall, Berlin, Duncker & Humblot 2018, S.67. 

  68. Dieter Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924. Voraussetzungen, Entstehung, Umsetzung und Bedeutung, hrsg.v. Gesamtmetall, Berlin, Duncker & Humblot 2018, S.76. 

  69. Gerald D. Feldman, Der deutsche Organisierte Kapitalismus während der Kriegs- und Inflationsjahre 1914—1923, in: Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd.9), hrsg.v. Heinrich August Winkler, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1974, S.156. 

  70. Rosenstock-Huessy, E. Die Frucht der Lippen in Die Sprache des Menschengeschlechts II, „Er schuf den Menschen, der in jeder Handlung über diese Handlung in beachtlicher Weise hinausgeht.“ p. 801, „Die Not unserer Zeit erfordert die Wiedergewinnung des Wellenkontinuums des Geistes. Auch wir müssen sprechen. Und wir können nicht sprechen wenn wir nicht dessen gewiss sind, dass wir im Kontinuum des Sprechens stehen. Die Sprache hat das mit der Liebe gemeinsam, dass beide vom einzelnen einmal zum ersten Male entdeckt werden müssen und dass sie trotzdem universal sind“, p. 804 und „Keiner der Sprachströme des Menschen des Altertums strömt unmittelbar in uns weiter“, p. 805. 

  71. Rosenstock-Huessy, E. 1923 [1963]. Angewandte Seelenkunde, in Die Sprache des Menschengeschlecht, Bd. I, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg. Im Kreuz Christi wird die trotzige Selbstbestätigung die charakteristisch ist für das Altertum überwunden: „Der Heros, der am Gebot der Götter zu trotzigem göttergleichem, neinsagendem Selbstbewusstsein erwacht, Prometheus, der ein Nein dem Gebot der Olympier entgegenstellt, beginnt in seiner Antwort auf die Botschaft der Götter auf seiner Bühne zwischen Gott und Welt, zwischen Lyrik und Epos die menschliche Seelensprache der reinen Gegenwart zu sprechen, die mit dem Trotz anhebt und in der Vollendung des antiken Dramas, in Drama des Kreuzes, im Gehorsam ausklingen wird. Denn das Nein des Trotzes ist der Versuch des Selbstbewusstseins, statt „Du“ gottgleich zu sein, ist nur aus Schwäche noch Nein. Und nur die Schwäche des angerufenen Menschen, sein Trotz, macht die Tragödie aus.“, p. 763. 

  72. Levinas, E. 1974. Autrement qu’être, Nijhoff , Den Haag, p. 151 “Le Moi n’ést pas un étant ‘capable’ d’expier pour les autres: il est cette expiation originelle – involontaire – car antérieure à l’initiative de la volonté (antérieure à l’origine), comme si l’unité et l’unicité du Moi étaient déjà la prise sur soi de la gravité de l’autre. Dans ce sens le Soi est bonté ou sous l’exigence d’un abandon de tout avoir, de tout á soi et de tout pour soi, jusqu’á la substitution.” –  “Das Selbst ist kein Wesen, das „fähig“ ist, für andere zu sühnen: Es ist diese ursprüngliche Sühne – unfreiwillig –, weil sie vor der Initiative des Willens (vor dem Ursprung) stattfindet, als ob die Einheit und Einzigartigkeit des Selbst bereits darin bestünde, das Gewicht des anderen auf sich zu nehmen. In diesem Sinne ist das Selbst Güte, oder steht unter der Voraussetzung von ein Aufgeben allen Habens, von allem an sich und allem für sich, bis hin zur Stellvertretung”. 

  73. Mehrfach referiert Rosenstock-Huessy an das Buch von Coulanges: Coulanges, de N.D.F., 2001. The Ancient City: A Study on the Religion, Laws, and Institutions of Greece and Rome, Batoche Books Kitchener 2001 (Orig. 1864). Das ganze Buch ist darauf gerichtet einsichtig zu machen wie die religiöse Ordnung des Stammes und die religiöse Ordnung des Reiches in den griechische Städten einen Kompromiss miteinander angingen: Stammesreligion und Reichskultur. 

  74. “Matthew, who had himself experienced the violence of a certain command, “Follow me!” took the imperative as his guide. Mark who wrote for and with the prince of the apostles, who wrote the Lord’s law journal, pursued the most “lyrical” motif, that of fellowship.” Rosenstock-Huessy, E., 2021. The Fruit of our Lips – The transformation of God’s Word into the speech of mankind, Ed. Raymond Huessy, Wipf & Stock, Oregon, p. 114. 

  75. „In der Grammatik der Seele steht zuerst mein angerufenes Mich, also der, den jemand Dich oder Du anredet; und mein Ich steht an zweiter Stelle. Jedermann kann vom Geist angesprochen werden, aber nur dadurch, dass er hört, nicht dadurch, dass er spricht, geschweige denn denkt. Vielmehr uns bestimmt der Geist; indem er uns überwältigt und inspiriert, beginnen wir zu singen, zu tanzen, zu antworten.“ Rosenstock-Huessy, E 1964. Die Sprache des Menschengeschlecht, Bd. II, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg, p. 537. 

  76. Goulder, auf dem ich gerne noch zurück komme, sieht einen Unterschied zwischen Matthäus und Lukas wie, in die Sprache von Rosenstock-Huessy, Imperativ und Konjunktiv. Matthäus steht für die Imperativ der sich realisiert in diese neue Gemeinschaft der Ecclesia, wo Lukas als Konjunktiv eine Gemeinschaft beschreibt der noch auf der Suche ist, d. h. auf dem Wege, zur Wahrheit und Einheitlichkeit. Für Matthäus ist das Königreich schon angebrochen in der Ecclesia. Für Paulus ist das zu radikal und zu geschlossen. Und Lukas folgt darin Paulus: “At heart Luke was with Paul, his old hero. So he wants to put the coming of the kingdom in the future; and when he reaches the scene where Jesus rides into Jerusalem, and the people shout, ‘Blessed is the king who comes in the name of the Lord!’ (Luke 19.38), he issues a warning — ‘he proceeded to tell a parable, because he was near to Jerusalem, and because they supposed that the kingdom of God was to appear immediately (19.11). The parable is a form of Matthew’s Talents, only in Luke’s version the rich man is a nobleman who went into a far country to receive a kingdom and then return. The nobleman is a figure for Jesus, who has gone to a far country, that is heaven; and it is there, not in this world with people shouting Hosanna, that Jesus receives his kingdom. The idea that Jesus’ kingdom was inaugurated in this life, even on Palm Sunday, was a mistake.” In Goulder, M. 1994., St. Paul versus St. Peter, A Tale of Two Missions, Westminster John Knox Press Louisville, Kentucky, p. 44. 

  77. Goulder, M.D., 1989. Luke: A New Paradigm, Part II, Sheffield Academic Press, p.598. 

  78. Robinson, A.T., 1976. Redating the New Testament, SCM Press LTD, pp. 13-30. 

  79. Farrer, A., 1954. St. Matthew and St. Mark, Dacre Press Westminster. 

  80. Farmer, W.R., 1964. The Synoptic Problem – a critical review of the problem of the literary relationships between Matthew, Mark, and Luke”, McMillan, New York. 

  81. The Interrelations of the Gospels: A Symposium Led by M.-E. Boismard, W. R. Farmer, F. Neirynck, Jerusalem 1984, ed. David L. Dungan, BETL 95 (Leuven: Leuven University Press; Peeters, 1990. In den einführenden Bemerkungen seines Beitrags schreibt Farmer, mit falsche Buchstabierung des Namens Rosenstock-Huessy: “In 1965 in Göttingen a small-scale conference was held for the purpose of discussing the importance of Griesbach’s solution to the Synoptic Problem. Out of this conference, which included Eugene Roesenstock-Hussey and Hans Conzelmann, came the idea for a large-scale international conference on Gospel studies”, in Orchard, B., Longstaff, T. R.W., 1976. J.J. Griesbach: synoptic and text - critical studies 1776-1976, Cambridge University press, Cambridge, London, New York, Melbourne, p. 1. 

  82. Farmer W.R., 1994. The Gospel of Jesus; The Pastoral Relevance of the Synoptic Problem, Wipf & Stock. 

  83. “If the tomb of Jesus is not the womb of the Christian era, we had better forget his whole story as a fairytale.” The Fruit of Our Lips, p. 198, und “The Gospel of John was stripped of its source character and relegated somewhere to the second century from which distance it could not be a much testimony on the facts. Thus St. John became “legend,” while the three synoptic Gospels were made one by reducing them to a written source. Consequently they could not be called unified, as they could not be better than their “source.”” Ibid. 201. 

  84. Goulder, M., Luke: A New Paradigm, 2 vols., JSNTSup 20 (Sheffield: JSOT Press, 1989. 

  85. Rosenstock-Huessy in The Fruit of Our Lips: “How could he convince them that the delicate line between mortal men and the Creator of Heaven and Earth was not destroyed by the new belief in God’s Son Incarnate? It could only be done in the manner in which Paul did it in his preaching. First, man must allow God to speak his “NO” by his willingness to suffer. Only after God, as a burning fire, has taken from man, as mortal man, all the dross and the transient attributes can the complete affirmation, the unconditional surrender to “Yes” be admitted.” p. 232. 

  86. So Dungan: “The center of gravity in Mark (as compared with Matthew and Luke) has shifted to the power of the Lord Jesus, playing down somewhat his teaching activity – a feature also visible in 1 Peter. (….) One of the most characteristic signs of this shift is the way Mark always elaborates and heightens the miracle healing/exorcism stories, so that Jesus’ supernatural power over Satan explodes onto the scene practically in the first act and punctuates the narrative from there onto the end. And, quite naturally, this has necessitated a sharp reduction in scope and content of the temptation story in Mark.” Dungan, D.L., The purpose and provenance of the gospel of Mark according to the two gospel (Owen-Griesbach) hypothesis, in The Interrelations of the Gospels: A Symposium Led by M.-E. Boismard, W. R. Farmer, F. Neirynck, Jerusalem 1984, ed. David L. Dungan, BETL 95, Leuven University Press; Peeters, 1990, p. 436.