Thomas Dreessen: Sterbend leben ist das ganze Evangelium - Respondeo etsi Mutabor
„Was ist denn das Evangelium? Sterbend leben, mein lieber Mensch! Und Gott gibt Dir die Kraft dazu!“ So predigte Christoph Blumhardt (1842-1919) als sein Schwiegersohn Richard Wilhelm Abschied nahm, um nach China zu reisen. Blumhardt predigte über Jesu Tod und gab dem Schwiegersohn mit, dass “im Tode Jesu eine Lebenskraft liegt… denn durch das sterbende Leben führt ein Weg mit Jesus Christus aus dem Tode heraus.“ (ders: Ansprachen, Predigten Briefe Bd 2,p.130; 31.3.1899)
Ich denke, Rosenstock-Huessy nannte Blumhardt seinen „alten Schutzpatron“ (Sprache MGI,p.311), weil der den überwundenen Tod an den Anfang eines ewigen Lebens, einer neuen Epoche, glaubte. Sterbend leben aber ist Inhalt von Rosenstock-Huessys Leitwort für unsere Epoche: Repondeo etsi mutabor, denn keiner lebt für sich allein. Die Verwandlung wird in das Leben eines jeden Menschen eingebaut – nicht nur weniger Eliten. Dann werden Glauben – Hoffen – Lieben wieder erkannt als die Kräfte, die das Leben in der Gesellschaft zusammenhalten und zusammenbringen und erneuern über den Tod der einzelnen Mitglieder hinaus. Dem entspricht auch das Symbol der Tochter als notwendige Erweiterung der Heiligen Familie: Sie verkörpert ja den freiwilligen Namenswechsel, Götterwechsel. In des Christen Zukunft schrieb er:
„Im Zentrum des christlichen Glaubensbekenntnisses steht der Glaube an Tod und Auferstehung. Christen glauben an das Ende der Welt, nicht nur einmal, sondern wieder und wieder. Dies und dies allein ist die Kraft die uns befähigt unseren alten Gewohnheiten und Idealen zu sterben, herauszukommen aus unseren alten Wurzeln, unsere toten Selbste hinter uns zu lassen und den ersten Schritt in eine echte Zukunft zu gehen.“ (Des Christen Zukunft)
Und in seinen Nachkriegsvorlesungen Universal History 6: „Die Christenheit kam nicht in die Welt irgendetwas zu lehren. Sie ist keine Doktrin. Sie kam, wie Du weißt, etwas zu offenbaren: die Verbindung von Tod und Leben.“
Unser Zeitpunkt: Crux haec ipse crucifigenda est
In Out of Revolution hat Eugen Rosenstock-Huessy ein Bild aus dem Orosco Fries in Dartmouth veröffentlicht um unseren Zeitpunkt zu benennen. Er deutete es mit Worten des heiligen Augustinus: Cruc haec ipse crucifigend est. – Das Kreuz selbst ist ein zu kreuzigendes. Dem entspricht die Profezeiung des heiligen Paulus im 1.Korintherbrief 15, 20-28.42-49. „Der erste Mensch, Adam, wurde zu einem lebendigen Wesen, und der letzte Adam zum Geist, der lebendig macht. Der erste Mensch ist von der Erde und irdisch; der zweite Mensch ist vom Himmel….“
Eugen Rosenstock hat uns noch mit einer anderen Geschichte diese Anerkennung des Todes als Teil und Bedingung des geschichtlichen Lebens erzählt. Er erinnert an Scipio Africanus, der vom Feldherrnhügel auf das zerstörte Karthago blickte und weinte. Sein Adjutant habe ihn angesprochen: „Warum weinst Du Herr? Du wirst in Rom durch den Triumphbogen geführt und als Gott verehrt.“ – Scipio antwortete: „Ich sehe Rom darniederliegen wie Karthago, denn es glaubt es wäre immer!“ „Der Höhepunkt in der Eroberung des Todes, und deshalb in der Menschen Wissen von Gott, war die Kreuzigung und Auferstehung von Christus. Von ihm, zuletzt, wurde der Tod als ein positiver Faktor ins Leben hineingenommen, und ward dadurch endgültig und komplett überwunden: der Tod wurde zum Torweg zur Zukunft, zu neuem Leben.“ (Des Christen Zukunft)
In Glaube und Hoffnung, hat Rosenstock-Huessy unseren Zeitpunkt, das Epochenende und die neue Epoche skizziert : „Die Gabel christlich oder unchristlich hört auf, die leiblichen Menschen wirksam von außen einzuteilen und räumlich wahrnehmbar zu gliedern. Denn der Unterschied besteht nicht mehr zwischen verschiedenen Personen, seitdem der Herr gesiegt hat. Sondern heute ist der Kampf in jedes einzelnen Menschen Brust verlegt. …“ (Geheimnis der Universität, p.272)
Konkretionen anderer
Huub Oosterhuis
Er hat uns das Lied geschenkt: Wer leben will wie Gott auf dieser Erde / muß sterben wie ein Weizenkorn/ muß sterben um zu leben…… (1965 dt. 1969)
Christoph Blumhardt
Sterbend leben wird konkret in der Weisung an Richard Wilhelm keinen Chinesen zu taufen, es würde als europäischer Imperialismus mißverstanden. Er solle mit Feuer und Heiligem Geist taufen. Richard Wilhelms Leistungen für die Übersetzung und Begegnung mit China sind m.E. bis heute unübertroffen. In einem anderen Brief : „Einerseits immer isolierter von allem, was Christentum heute heißt, und andererseits immer reicher an Beziehungen zu allerhand Menschen, die Gottes Eigentum sind in allen Ländern und Sprachen, das ist das Bezeichnende in unserer heutigen Lage. … Die Harmonie zwischen Menschen und Natur muß kommen. Dann findet jeder seine Befriedigung. Und das wird die Lösung der sozialen Frage sein.“
„Darin liegt das Geheimnis der Zukunft des Reiches Gottes; mit Ideen kann es nicht kommen, sondern mit Leiblichkeit in rechter Art.“
Nathan Söderblom
Er erzählte daß ein Bauer ihn erkannt habe und dann sprach: „Bischof, die Zeit des Priesters ist vorbei. Das war Rom und die alte Kirche; die Zeit des Leviten ist vorbei – das waren Wittenberg und Genf; jetzt hat das Zeitalter des barmherzigen Samariters angefangen. (s. Des Christen Zukunft u.ö.)
Jacques Loew
Er gründete nach dem 2.Weltkrieg die Missio ouvriere St.Pierre St.Paul. Statt logischer und theologischer Wahrheit suchen sie Bewährung und leben in verschiedenen Kontexten mit den Menschen unter deren Bedingungen – zum Beispiel in einer Favela. Sie tun das maximal zehn Jahre und kehren dann höchstens zu Besuch zurück. Sie fragen dann nicht: Warum habt ihr unsere gute Initiative nicht weitergeführt, sondern: Warum haben wir sie so fest an uns gebunden, daß niemand sie erben konnte.
Goethe
Sein Gedicht „Selige Sehnsucht“ aus dem west-östlichen Diwan belegt, dass der Islam nach Christus lebt, denn das „Stirb und werde“ ist die Grundmelodie der Sufis im Islam. Rosenstock-Huessy stellt deshalb in Comparative Religion (1954) fest, dass keine Mission nötig und möglich sei.
Reshad Feild zitiert in seinem Buch Ich ging den Weg des Derwisch seinen Sufimeister: „Jedesmal, wenn ein Mensch zum wahren Wissen vordringt, wird eine besondere Art von Energie freigesetzt und für diesen großen Prozeß der wechselseitigen Erhaltung zugänglich. In genügendem Ausmaß wird diese Energie normalerweise nur in den Augenblicken großer Krisen und Erschütterungen frei, vor allem im Augenblick des Todes. Doch jetzt haben wir im Leben unseres Planeten einen Punkt erreicht, wo wir lernen müssen, für uns selbst zu sterben in jedem Augenblick, in jedem Augenblick neu geboren zu werden, mit Bewußtheit zu leben und zu sterben, damit die Evolution der Erde fortschreiten kann.“
Hölderlin
Im Gedicht: Versöhnender, der Du nimmergeglaubt… (erste Fassung) finde ich den folgenden Vers indem mir die ganze gesellschaftliche Sprechlehre Rosenstock-Huessys vorleuchtet: „So ist schnell vergänglich alles Himmlische, aber umsonst nicht. Des Maßes allzeit kundig rührt mit schonender Hand/ Die Wohnungen der Menschen / Ein Gott an, einen Augenblick nur, / und sie wissen es nicht, doch lange/ Gedenken sie des, und fragen, wer es gewesen./ Wenn aber eine Zeit vorbei ist, kennen sie es./“
aus dem Mitgliederbrief 2025-05