Peter Sloterdijk über Rosenstock-Huessy
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Der Philosoph Peter Sloterdijk nennt Eugen Rosenstock-Huessy in seiner Dankrede anlässlich der Verleihung des Sigmund-Freud-Preis 2005 der Deuteschen Akademie für Sprache und Dichtung am 5. 11.2005 in Darmstadt den
„bedeutendste[n] Sprachphilosoph[en] des 20. Jahrhunderts …, so viel man auch zugunsten Heideggers, Wittgensteins, Searles oder Derridas vorbringen mag”
siehe auch: Andreas Möckel: Peter Sloterdijk zu Eugen Rosenstock-Huessy -
In Die Sonne und der Tod - Dialogische Untersuchungen antwortet Sloterdijk auf Fragen von Hans-Jürgen Heinrichs (Frankfurt, 2001, 23-26):
„Der geistreiche, christliche Revolutionstheoretiker, Eugen Rosenstock-Huessy, hat schon um 1930 die Serie der europäischen Revolutionen - unter äußerst idealistischen, genauer teleologischen Vorzeichen - als eine Prozession in die Mitte interpretiert. In der befreiten Gesellschaft, sagt er, werden alle Gruppen oder ‘Stände’, vom Hochadel bis zum Proletariat, ihren politisch starken Augenblick gehabt und die Freiheitsgeschichte weitergeschrieben haben. Erst nachdem also alle ‘Stände’ und Kollektive in der öffentlichen Arena aufgetreten sind, wenn alle gekämpft und ihre Sache geltend gemacht haben, wenn alle sich im erfolgreichen Aufstand selbst konstituiert haben und den Stolz kennen werden, ein kompetenter Akteur und ein politisches Subjekt geworden zu sein, wenn also alle Klassen und Gruppen die Passion des Auftretens und Selbst-Werdens auf der politischen Bühne konkret erfahren hätten, erst dann, und keinen Augenblick früher, könnte der Zyklus der Revolutionen zu seinem Ende gelangt sein. Nun dachte Rosenstock tatsächlich, daß mit der russischen, der angeblich proletarischen und damit letzten Revolution, die eigentliche pneumatische Weltgeschichte an der Basis angekommen sei und daß das Reich Gottes unter den Menschen dabei sei, sich zu vollenden - zwar im atheistischen Inkognito, aber immerhin.Man darf diese Konstruktion ruhig für das nehmen, was sie ist, ein höheres Märchen, wie die Theologen es früher gern erzählt haben. Aber selbst wenn es Wahrheit wäre: Gerade Theologen könnten ahnen, daß es mit den menschengemachten Revolutionen eine eigene Bewandnis haben wird. Im Revolutionsbegriff selbst schwingt ja eine Obertonreihe mit, die auf die religiöse Tradition zurückverweist. Schauen wir näher hin, so entdecken wir, daß die Grammatik des Begriffs Revolution eine Familienähnlichkeit mit dem Begriff der Konversion aufweist - insbesondere in der Bestimmung, die Augustinus dem Begriff gegeben hat. Konversion, radikal verstanden, ist etwas, was die Menschen nicht von sich aus vollziehen können, sondern etwas, was ihnen allein durch die Gnade zustößt. So will es zumindest die Orthodoxie. Damit ist Konversion ein Terminus, der nicht in eine Grammatik des Handeln paßt. Sie müßte vielmehr als Ereignis gedacht werden. Zieht man nun die Analogie zum Phänomen Revolution, dann wäre auch diese etwas, was Menschen nicht aus eigenen Stücken machen können, wie die Modernen glauben möchten, sondern müßte etwas sein, was mit den Menschen geschieht. Der ontologische Revolutionär Heidegger hat das in seinem Begriff der Kehre angedeutet und sich vom Konzept der gemachten und zu machenden Revolution zunehmend entfernt - zumal nach seinen üblen Erfahrungen mit der ‘nationalen Revolution’ von 1933, von der ergriffen zu sein er vorgegeben hatte. Wenn es darum geht, große Umwendungen zu deuten, nach denen sich der Sinn von Sein im ganzen neu darstellt, dann braucht man ein Konzept der Bewegung, das mächtiger ist als der konventionelle moderne Revolutionsbegriff. Ich sehe in dem Ausdruck Kehre die Modernisierung des augustinischen Konversions-Gedankens in Verbindung mit der Aktualisierung des platonischen Motivs der Umdrehung, das wir aus dem Höhlen gleichnis kennen.
Mit dem erweiterten Begriff von Revolution als Umdrehung, Weltwende, Konvertierung aller Texte kommen wir nolens volens auf augustinisches Terrain und eo ipso in die heiße Zone der christlichen Geschichtstheologie. Sie ist als Korrektiv gegen die Naivitäten der schlicht modernen Auffassungen vom revolutinären Handeln noch immer nützlich, auch wenn sie im übrigen für Menschen, die von dieser Welt sein wollen, unahnnehmbar ist. Nach der Auffassung des Augustinus ist das Revolutionsgeschehen durch die Menschwerdung Gottes in Gang gesetzt worden. Die Revolution Gottes läge dann freilich für uns zweitausend Jahre zurück - in ihr hätte der radikal transzendente Gott beschlossen, sich mehr als bisher auf die welt einzulassen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Weltgeschichte als die Konterrevolutionen des Menschen gegen die Revolution Gottes. Ein analoger Sachverhalt ließe sich im Blick auf den Osten konstatieren: Dort wäre Geschichte die Konterrevolution des seinsverhaftenen Menschen gegen die Revolution des Nichts, die der Buddhismus vollzogen hat. Wenn ich heute dazu neige, den Revolutionsbegriff so weit zu fassen, dann wohl auch deswegen, weil ich durch religiösgeschichtliche Studien im Laufe des letzten Jahrzehnts dazu verleitet worden bin, mit einem sehr extensiven Gegenwartsbegriff zu operieiren. Ich empfinde Autoren, die erst zweitausend Jahre alt sind, noch wie Zeitgenossen - und Zeitgenosse ist jemand der keine Zeit hatte, eine Autorität zu werden. Aus dieser Optik folgt, daß man die größten geschichtlichen Namen wie die von Kollegen und nicht wie die von Autoritäten behandelt. Das ist sicher eine berufliche Deformation des historischen Bewußtseins, aber ich kann nicht mehr anders. Wenn man sich erst einmal durch die Religionsgeschichte, Ethnologie und andere kulturgeschichtliche Disziplinen an ein Denken in großen Zeiträumen gewöhnt hat, dann erscheinen einem ein Begriff von Revolution sehr kurzatmig, der solche Umbrüche in der Ökologie des Geistes, wie es das Aufkommen der Hochreligionen gewesen ist, nicht umfaßt.”
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Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen (Suhrkamp, 2020):
„Das auf den Tod Mohammeds (632) folgende Jahrhundert führte den Beweis, daß die Imitationsaufgabe in seinem Fall durchaus nicht modisch und »einaltrig« angelegt war, um an einen von Eugen Rosenstock-Huessy geprägten Ausdruck zu erinnern - dem wichtigsten Sprachphilosophen des 20. Jahrhunderts, der sich bis auf weiteres im blinden Fleck des linguistic turn, des analytischen Autismus und der akademischen Hermeneutik verbirgt. Sie trug von vornherein eine raumfordernde, ansteckende, generationenüberschreitende Dynamik in sich. Nichtsdestoweniger müssen frühe Muslime von ihren Erfolgen überrascht gewesen sein, als hätten sie eine Methode entdeckt, fast ein Jahrhundert lang den Auftrag: Be amazing! zu befolgen. Sie wirkten in einem Schauspiel mit, wie es die historisch bewegte Welt seit Alexander dem Großen nicht gesehen hatte. Was auf die Bühne gebracht wurde, war ein Ineinander von Kriegs- und Religionsdramen, deren ethnogene, charakterbildende und dynastische Konsequenzen bis in die Gegenwart fortwirken. Anfangs berauschte sich das islamische Drama an den Gottesurteilen des ständig erneuerten Sieges; es verbreitete Schrecken auf Grund der Übersetzung von heiligen Versen in Effekte der Waffen. Im Islam des 7. Jahrhunderts kam die These des Kirchenvaters Tertullian über das Christentum zu sich, es sei eine militia Christi.”