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Andreas Möckel: Peter Sloterdijk zu Eugen Rosenstock-Huessy

Stimmstein 11, 2006

Peter Sloterdijk zu Eugen Rosenstock-Huessy

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ehrte Peter Sloterdijk 2005 mit dem Sigmund Freud Preis, der für gute wissenschaftliche Prosa verliehen wird. In seiner Dankesrede bezog sich Sloterdijk auch auf Eugen Rosenstock-Huessy. Er fragte, wie es zugegangen sei, dass er, Sloterdijk, zu einem

„zoon logon echon wurde, zu einem Tier, das die deutsche Sprache hat oder von der deutschen Sprache gehabt wird, falls das korrupte Passiv für diesmal erlaubt ist“

und fuhr dann fort:

„Es wird niemanden überraschen, wenn hierauf nur schematische Antworten erfolgen. Ist der Redner noch wie ich ein Spätprodukt des deutschen Gymnasiums, wird er natürlich Goethes vielseitig verwendbare Auskunft zitieren, nach der man vom Vater die Statur hat, sollte es auch zu des Lebens ernstem Führen nicht ganz reichen, indessen man vom Mütterchen die Lust zu fabulieren übernahm, die offenbar trennbar ist von der Frohnatur und sich auch auf melancholischen Grundlagen lebhaft geltend machen kann. Ist der Redner zugleich ein Leser von Eugen Rosenstock-Huessy und überzeugt, wie ich es bin, dass dieser christliche Jurist der bedeutendste Sprachphilosoph des 20. Jahrhunderts war, so viel man auch zugunsten Heideggers, Wittgensteins, Searles oder Derridas vorbringen mag, dann weiß er überdies, dass die Sprache nicht allein durch Abrichtung zur Teilnahme an den so genannten Sprachspielen erworben wird. Worauf es ankommt, ist vielmehr, Rosenstock zufolge, der Sprachstrom, genauer der Anredestrom, der durch die Generationen fließt, und zwar so, dass jeweils die amtierenden Sprecher den nachfolgenden Jüngeren bindende Berufungen auferlegen. Rosenstocks Sprachidee lässt sich am besten als eine Formalisierung des Apostolats charakterisieren. Demnach wird das Sprechen und Schreiben nicht vom poetischen Plappern, vom libidinösen Leerlauf der Sprechwerkzeuge her begriffen, so wenig der Überschuss zu leugnen ist, der aus der Eigenbewegung der Oralorgane und der Schreibhand fließt. Die wesentliche Rede leitet sich allein vom Modell des Botengangs her. Rosenstock statuiert, dass eine sinnvolle Wortergreifung nicht geschehen könnte, hätte nicht ein befehlskompetenter Absender den Auftrag hierzu erteilt und hätte der Empfänger denselben nicht in sich aufgenommen und sich von ihm die Richtung zeigen lassen. Der kategorische Imperativ nach Rosenstock lautet: Du sollst dir etwas gesagt sein lassen! Das Sprachgeschehen der Völker und Kulturen ist für ihn nichts als die weltbildende Entfaltung der appellativen Funktionen, durch welche die Redenden und Schreibenden die Kerne für weitere Missionen in ihre Rezipienten legen - so dass alles Gesagte Weitergabe ist und in der Weitergabe ständige Verwandlung. Die gesprochenen wie die geschriebenen Reden bilden ein System von Megaphonen, durch welche Befehle, Evangelien und Evokationen strömen, um von den Empfängern aufgenommen, reformiert und weiter gerufen zu werden. Nicht umsonst hieß Rosenstock-Huessys Leitspruch: Ich antworte, sollte ich auch verwandelt werden.

Bis dahin folgt Sloterdijk Rosenstock-Huessy, aber dann zieht er auf die Grunderfahrung zurück, von der er annimmt, dass er sie mit vielen Jahrgangsgefährten und Zeitgenossen teilt. Sie bestehe

„im Gegensatz zu dem, was Rosenstock vorträgt, in der Abwesenheit von wirklich durchdringenden Appellen - oder um den Sachverhalt in die logische Sphäre zu übersetzen, im Mangel an zwingender Evidenz. Es ist keineswegs so, dass ich mir nichts sagen lassen wollte, das völlige Gegenteil trifft zu. Doch die Erfahrung belehrt mich darüber, dass die Beziehung zwischen den Anrufern und den Angerufenen in Begriff ist, sich umzukehren. Der Vorrang liegt jetzt nicht mehr beim Absender des Appells, sondern bei dem Empfänger, der unter den siebenhundertsiebenundsiebzig eintreffenden Rufen, die sich gegenseitig entkräften, die Auswahl zu treffen hat. In dieser Lage - man kann sie posthermeneutisch nennen - genügt es nicht mehr, zu begreifen, was uns ergreift. Aus Mangel an vorhergehender Ergriffenheit müssen wir selber ein Objekt mit einer Botschaft ergreifen und festhalten, bis das Gefühl entsteht, es sei von ihm etwas auf uns übergegangen. An die Stelle des Imperativs, der uns zuvorgekommen wäre, tritt eine nachträgliche Prägung durch die Abfärbung, die wir selbst zulassen und herbeiführen, indem wir den Umgang mit der Partikel streuenden Materie suchen.”

Es ist schon erstaunlich, wenn Sloterdijk meint, in früheren Zeiten hätten die Menschen sich nicht Zwischen „siebenhundertsiebenundsiebzig eintreffenden Rufen, die sich gegenseitig entkräften” wählen und entscheiden müssen. Das „Jahrhundert des Zusammenbruchs“ liegt gerade erste wenige Jahre zurück. Appelle und Rufe, die den Namen verdienen, sind nie verbrieft zu ihren Empfänger durchgedrungen. Georg Elser oder die Kreisauer hatten keine Evidenz für das, was sie in Wort und Tat zu ihrer Zeit ins Werk setzten und „verantworteten”. Die Vorstellung schmerzt, daß einer der bekanntesten Philosophen in der Bundesrepublik Deutschland Rosenstock-Huessy kennt und schätzt und doch einer Vorstellung, Nahrung gibt, der zufolge beispielsweise die unter Lebensgefahr recherchierenden Journalisten im heutigen Russland ,„aus Mangel an vorhergehender Ergriffenheit” ihr „Objekt“ selbst nachträglich prägen und „den Umgang mit der Partikel streuenden Materie suchen” müssten.

Andreas Möckel