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Peter Galli: Ein unerhörter Appell von Walter Dirks

Peter Galli

DES CHRISTEN ZUKUNFT - oder ein unerhörter Appell von Walter Dirks - Eugen Rosenstock-Huessy endlich wahrzunehmen!

Von Peter Galli

Die Corona-Pandemie, die Klimakatastrophe, die Schweinepest, der Rinderwahnsinn, 2021 erst das Eingeständnis der Deutschen Bundesregierung, einhundert Jahre danach, den ersten Völkermord im 20. Jh. an den Hereros begangen zu haben. Zwei Weltkriege von deutschem Boden aus, die Shoa - all diese Katastrophen führen es auch unserer heutigen Gesellschaft kontinuierlich und drastisch vor Augen – die Welt ist durch den Menschen „aus den Fugen“ geraten. Zuletzt war und ist es die Hochzeit des Covid 19-Virus, der weltweit für einen über zweijährigen Ausnahmezustand gesorgt hat und uns mit seinen Folgewirkungen noch lange beschäftigen wird. Hinzu kommt, dass die kath. Kirche, sonst eher seelische Stütze in Krisenzeiten, selber mächtig ins Wanken gekommen ist. Bischof Karl Marx bat den Papst, um seinen Rücktritt, erläuterte „die Kirche ist an einem toten Punkt“ angekommen.

Aber auch die evangelische Kirche leidet unter einem enormen Mitgliederschwund und bleibt auch vom gnadenlosen Mißbrauchsskandal nicht verschont.

Da haben sich zum Ende des letzten und zu Beginn des dritten Jahrtausends gewaltige dunkle Wolken über der von der Wissenschaft dominierten Menschheit aufgebraut – kein Land, das nicht mitbetroffen ist, aber jedes Land anders. Zwischen den Industrienationen und den materiell und technologisch armen und abgehängten Nationen gähnt ein unseliger und dramatischer Abgrund.

Niemand weit und breit, der diese so umfassende/n Krise(n) auch nur annähernd zu analysieren vermag – geschweige denn gangbare Wege aus der Krise aufzuzeigen. Dafür reden die Talkshows seit Jahren, oft mit denselben Gästen, und reden mehr oder weniger dasselbe, was kann eine Show denn mehr bieten? Und zu den besten Sendezeiten laufen in allen Sendern stundenlang Quizsendungen, einfache Fragen, vier Antwortmöglichkeiten – jeder kann miträtseln. Als ob dauerhafte Ablenkung eine heilsame und dauerhafte „Medizin“ für eine überforderte und gestresste Gesellschaft sein kann!

Blicken wir von den Medien in die Wissenschaft, in die Universität oder in die Politik, von wo wir tatsächlich Hinweise, Analysen und konkrete Handlungsanweisungen erwarten können sollten, so erhalten wir von dieser Seite zwar unzählige Studien und Analysen zu fast jeder aktuellen Thematik (im letzten Jahr war es v.a. die Pandemie und der Klimawandel). Aber erhalten wir darüber hinaus umfassende und grundlegende Orientierung und perspektivische Handlungsszenarien, die die kommenden Generationen miteinschließen? Auch da wird endlos produziert und gedacht, aber es will in den „Kommandozentralen“ der modernen Gesellschaft, in Politik, Wissenschaft und der Industrie keine Ruhe und vor allem keine Gewissheit mit Blick in die Zukunft einkehren. Ein erschreckendes Beispiel legte die Autoindustrie mit dem „Dieselskandal“ hin; Milliarden Euro Strafe werden inzwischen wegen Betrugs bezahlt, Vorstandschefs landen vor Gerichten und im Gefängnis. Allein mit diesem Geld könnten in ganz Afrika Brunnen und Solarkocher nahezu in jedem Dorf gebaut werden oder über Jahre hinweg gesundes Mittagessen für alle SchülerInnen in allen Schulen Deutschlands eingerichtet werden. Dass die Autokonzerne darüber hinaus immer noch Milliarden Gewinne machen und Dividende ausschütten können, übersteigt jede Phantasie eines/r normalen Arbeitnehmers/in.

Wo aber Gefahr ist, Da wächst das Rettende auch

Wenn Friedrich Hölderlin (1770 -1843) 1808 den berühmten und seither vielzitierten Vers in der Hymne Patmos schrieb: „Wo aber Gefahr ist, da wächst das Rettende auch“, dann stellt sich die Frage, gilt er auch heute und wenn ja, worin liegt das „Rettende“? Die gute Botschaft ist, wir haben tatsächlich Quellen und Ressourcen des Rettenden. Die schlechte Botschaft ist – wir haben diese Quellen des Rettenden bisher so gut wie nicht, weder in Deutschland und in Europa noch in den USA angezapft. Ein bisher unerhörter Appell weist unmissverständlich auf das Rettende hin.

Er wurde 1955 ausgesprochen, von keinem Geringeren als Walter Dirks (1901–1991), dem großen katholischen Publizisten und einem der prägendsten Intellektuellen der Bonner Republik. Dirks wäre in diesem Jahr 120 Jahre alt geworden – in diesem Jahr ist auch sein 30. Todestag.

Grund genug, seinen unerhörten Appell erneut zu Gehör zu bringen. Das gesamte Vorwort des zuerst 1955 im Käthe-Vogt Verlag, dann 1964 im Herder-Verlag erschienenen Titels, „Der unbezahlbare Mensch“, liegt abgedruckt vor, deshalb zitiere ich nur noch Kernsätze daraus. ERH Der Unbezahlbare Mensch

Er hat bereits 1955, also nun auch schon wieder vor 66 Jahren geschrieben: „Es ist verwunderlich genug: man muss Eugen Rosenstock- Huessy in Deutschland vorstellen” und er führt weiter aus: „Das, was Rosenstock zu sagen hat, richtet sich an das öffentliche Bewußtsein ebenso sehr Deutschlands wie der Vereinigten Staaten, und zwar ebenso sehr an die Wissenschaft (der Soziologie, der Sozialpsychologie, der Pädagogik, der Ökonomie, der Politik) wie an die Theologie und an die Praxis, an mögliche Freunde und Bundesgenossen in fast allen Sparten des deutschen Lebens, und seine Einsichten sind nicht um ihrer selbst willen da: sie wollen Folgen haben; sie rufen danach, verwirklicht zu werden“. Er schließt das Vorwort mit einem harschen Resumee und einem klaren Appell. „Wenn man versucht ist, ein Werk, das so großartig für sich selbst spricht, in Deutschland eigens anzuzeigen, so spricht sich darin das ganze Elend eines geistigen Betriebes aus, der zu sehr den Monolog statt den Dialog gewohnt ist …, Eugen Rosenstock sollte in seinem Vaterland nicht mehr nur von den Menschen gehört werden, deren Aufnahmeorgane auf seine spezifische Wellenlänge ansprechen, sondern endlich von der Nation.“

Man spürt sofort im ganzen Vorwort von Dirks, wie zentral und wichtig er Rosenstocks Denken und Wirken in den zwanziger Jahren und nach dem 2. Weltkrieg hält und schätzt und selber ratlos von der Wirkungslosigkeit Rosenstocks vor allem in Deutschland stand. Dirks weiß bereits in den 50iger Jahren um das Rettende, das der christliche Sprechdenker und Soziologe Rosenstock-Huessy für ein ganzheitliches Wirtschaften und Leben auf dem Planeten Erde in jahrzehntelanger Arbeit entworfen, geschrieben und vor allem selber bewährt hatte.

Eugen Rosenstocks Reaktion auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs und „die babylonische Gefangenschaft der Universität“

Lange hat Dirks selber den Weg des 13 Jahre älteren Rosenstock-Huessys (1888–1973) als jüngster Privatdozent Deutschlands in der Weimarer Zeit verfolgt und begleitet. Der Freund und Lehrer von Dirks aus jener Zeit, Ernst Michel (1889–1964), war ein enger Bekannter von Eugen Rosenstock. Die große Zäsur war der I. Weltkrieg und beide wussten um eine zentrale innere Haltung: „Heute kann uns nur der Mut helfen, der in die ganze Tiefe des Unglücks hineinzublicken wagt.“ Beide wussten, nur wenn radikale Konsequenzen aus der Katastrophe des I. Weltkrieges gezogen werden, ist eine weitere Katastrophe zu verhindern.

Beide haben also in diese Erschütterung tief hineingehört und erkannt, dass sowohl der Staat und damit auch die idealistische Philosophie Hegels, als auch die Universität, aber auch die Kirche nichts dem Krieg weder praktisch noch moralisch entgegengesetzt hatten. Und was noch folgenreicher war, auch nach dem Krieg waren sie nicht gewillt, ernsthafte Konsequenzen aus der erschütternden Katastrophe zu ziehen. Für die beiden tiefgläubigen Christen war der einzige gangbare Weg - auf der Grundlage des jüdisch-christlichen Offenbarungsglaubens, im Kern aber auf Grundlage der Fleischwerdung des Wortes in Jesus Christus, neue Formen des menschlichen Miteinanders zu suchen.

Sie wussten, die Methode des abstrakten Denkens, des Idealismus, des Relativismus, in Hochform gelaufen im 19.Jh., kann nur wieder Orientierung finden, durch den Vorrang der Sprache bzw. durch das rückhaltlose, offene Gespräch zwischen den Menschen und zwar mit Menschen aus allen Schichten und Bekenntnissen. Auf keinen Fall mehr im Entwerfen von abstrakten Denksystemen. In lebendigen kleinen Zellen und Arbeitsgemeinschaften sollte die neue Volks- und Erwachsenenbildung aufgebaut werden. Wie Ernst Michel es 1927 mit Blick auf die Kirche formulierte: „Politik aus dem Glauben aber ist nicht Herrschaft der Kirche über das Leben, sondern Leviten- und Samariterdienst der mündigen Kirche am Leben.“

Walter Dirks hat zu Ehren von Ernst Michel dem Band 6 seiner gesammelten Schriften denselben Titel gegeben, den Ernst Michel 1926 seinem Buch gegeben hatte: „Politik aus dem Glauben“. Für Dirks ist Michel der Vorläufer der „politischen Theologie“. Michels Buch landete damals auf dem Index der verbotenen Bücher.

FOTO 2 Buch Dirks und Michel

Bereits 1923 brachte Ernst Michel das katholische Zeitbuch „Kirche und Wirklichkeit“ heraus. Alle sechs Aufsätze von Michel, Wittig, Rosenstock und dem von Dirks verehrten Romano Guardini bringen äußerst vielfältig und prägnant zum Ausdruck, was Walter Dirks an diesen Denkern begeisterte. Sie wurden fortan seine ständigen Begleiter, Ratgeber und Kronzeugen gegen das „reine Denken“. Im Zentrum ging es allen um eine präzise Neubestimmung von Kirche und Gesellschaft nach der Katastrophe des I. Weltkrieges in der fundamentalen Umbruchzeit der Weimarer Republik. Ein Neudruck der Aufsätze allein dieser sechs Autoren würde viel Überaschendes für die aktuelle Kirchendiskussion zutage bringen!

Dirks hatte den Zeitpunkt des totalen Zusammenbruchs Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg genau im Blick, als er 1955 sein Vorwort schreibt. Aber folgerichtig auch den Zeitpunkt nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Denn es war offensichtlich, dass auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch immer nicht die radikalen Konsequenzen im Nachkriegsdeutschland gezogen worden waren, die bereits nach dem Ersten Weltkrieg gezogen hätten werden müssen.

Von Hegels Dialektik zum „Kreuz der Wirklichkeit“

Dirks erkennt 1955, dass Rosenstock einer der wenigen war, der stets die ungeheure Erschütterung des Ersten Weltkrieges als Resonanzraum, als „meine Matrix“ seiner neuen Lehre vom „Kreuz der Wirklichkeit“ zugrunde legte. Diese zentral neue Bezeichnung für sein Sprechdenken formuliert Rosenstock 1924 in vielen Aufsätzen und auch in einem Brief an Josef Sindermann: „In meiner Soziologie ersetze ich die tote Zeit und den toten Raum der „Natur“ und den ideellen Raum- und Zeitbegriff des „Geistes“ durch die wirkliche Zeit und den wirklichen Raum…Die wirkliche Zeit hat immer polare Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft, der wirkliche Raum spannt sich immer in Außen- und Innenraum…erst der wirkliche Raum in seinem unauflöslichen Konflikt von Innen und Außen ergänzt die wirklich Zeit zur vollen Gegenwart, zum Kreuz der Wirklichkeit“. 70 Jahre arbeitete Rosenstock, wie er sich selber bezeichnete, als „paulinischer Ochse“ an seinem Hauptwerk „Im Kreuz der Wirklichkeit“, vom Kohlhammer- Verlag 1958 als „Soziologie“ tituliert. Gleich im ersten Januar Heft von 1959 druckte Dirks als Mitherausgeber der Frankfurter Hefte in der Aufsatzreihe „Erziehung und Bildung in der industriellen Gesellschaft“, eines der wichtigsten Kapitel fast ungekürzt ab. „Die Bemannung der Hochschule - Scholastik, Akademik, Argonautik.“

FOTO3 Frankfurter Heft Cover 1959

(Dirks selber hat im Januar und Februarheft 1959 zwei Artikel über die Zukunft des Glaubens und die Zukunft des Unglaubens und die Christen geschrieben, jeweils direkt vor den Artikel Rosenstocks. Der zweite Artikel Rosenstocks hat die Überschrift: „An die Russen- Naturforschung oder Gesellschaftslehre“. )

Dirks hat somit Rosenstock gegenüber seine große Sympathie mehr als deutlich zum Ausdruck gebracht. Dirks wusste darum, dass Rosenstock nach dem Ersten Weltkrieg kein Gehör und keinen Eingang in das akademische Denken fand, weil Rosenstock ja dem rein akademischen Denken 1918 entschlossen den Rücken gekehrt hatte.

Rosenstock-Huessy wusste, wenn alle Institutionen, die den I. Weltkrieg mitzuverantworten hatten, nicht sofort und radikal die Konsequenzen daraus ziehen würden, dann wird ein weiterer Krieg konsequent folgen und diesem folgen wiederum weitere Katastrophen. Kriege auf der Welt sind seither wirklich dauerhaft präsent, jetzt geht es mit Blick auf die Umwelt nicht militärisch, sondern ökologisch ans Eingemachte und d.h. ums Überleben! Die Universtität war bereits im 19. Jh. in „babylonische Gefangenschaft“ geraten. So hatte es 1925 der Vetter von Franz Rosenzweig, der Theologe Hans Ehrenberg (1883-1958) eindrücklich und provozierend formuliert. „Die babylonische Gefangenschaft hat die Universität zum Buhlen mit allen Götzen des Zeitalters verführt: Relativismus! Es macht das geistige Huren viel Vergnügen. Die Universität ist die babylonische Hure der Gegenwart“.

Es braucht eine kopernikanische Wende des Denkens! Vom Credo über das Cogito zum Respondeo!

Als Rosenstock, der 1933 nach Amerika emigrierte, nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland Gastvorlesungen hielt, konnte es nicht ausbleiben, dass er wieder konsequent die Stellung der Universität nach dem Kriege ins Auge fasste. In seiner berühmten Göttinger Rede von 1955, „Das Geheimnis der Universität“ zeigt er das in der Historie der Universität liegende Gesetz auf: „Solange die Philosophie ihr Urerlebnis verdrängt, bedroht sie die Schulen, in denen ihr System weitergeschleppt wird, mit Veraltung. Jeder neue Krieg sollte dazu führen, dass die Philosophien der älteren Kriegsepochen ausdrücklich bestattet werden. Daran fehlt es im hochschulreichen und philosophieüberlasteten deutschen Schulraum. Es gibt heute noch Hegelianer, Cartesianer, Kantianer. Das ist ohne Sinn und Verstand in einer „Polemologie“ (Lehre vom Krieg). Das erste Gebot der neuen Wissenschaft lautet: Von jeder vorhergehenden Katastrophe muß auch ihr Denksystem begraben werden. Sonst können die Weltkriegsteilnehmer nicht zu ihren eigenen Worten kommen“. (Atem des Geistes, S.33) 1924 hatte er zu dieser neuen Wissenschaft die bereits 1916 entworfene, programmatische Grundschrift „Angewandte Seelenkunde „ verfasst. Sie bleibt bis heute nahezu ungelesen, weil sie auch nie nachgedruckt worden ist. Kurz gesagt, er forderte darin eine kopernikanische Wende bzw. Drehung des Denkens: „Vielleicht nur die Zeiten der Frühscholastik und der meist so genannten – Gegenreformation, d.h. der Bacon, Descartes und Kepler, haben vor ähnlichen geistigen Lagen gestanden und so radikale Entschlüsse für den Wissensbetrieb fassen müssen. Die vorliegende Schrift ist der Versuch, in knappster Fassung einen erstmaligen „discours de la methode“ ein „Sic et Non“ für Heut zu liefern“ (1924). Dabei muss der „radikale Tiefgang und die Ernsthaftigkeit der neuen Methode einerseits, andererseits ihr praktische Tragweite und ihre überraschende Fruchtbarkeit… nebeneinander und miteinander verknüpft“ sein.

FOTO 4 Innenseite Angewandte Seelenkunde)

1950 im Buch „Atem des Geistes“ (A.d.G) und immer wieder in seinen Zusprachen formuliert er dieselbe Forderung einer künftig überlebensnotwendigen Wissenschaft: „Die Ausdehnung der theologischen Logik hat zur Hexenverbrennung geführt….die Ausdehnung der Mathematik hat zur Tötung, Vergasung, Kastrierung, Züchtung, Verschickung von Millionen Menschen geführt; denn die Mathematik der Welt weiß nicht vor den Menschen haltzumachen. Weltwissenschaft, wenn auf die Menschen angewendet, führt zu Weltkrieg. Also sind Logik und Mathematik beide unbrauchbar, wenn wir das Organon, das Werkzeug suchen, mit dem wir die Menschen zum Frieden bringen könnten. Im Frieden können Menschen miteinander sprechen. Also muss die neue Lehre vom Miteinandersprechen der Menschen ausgehen. Bei Augustin findet sich dieses dritte Organon. Zum Sprechen bringt den Menschen der Mensch durch – Sprechen… ein Sprechen mit Vollmacht…das kommende Organon muss uns also Sprache und Zeit neu zur Verfügung stellen, so wie uns die Zahl den Raum unterworfen hat…die Erhebung der Zeit zu ihrer zweiten Potenz ist das Anliegen, das die Gedanken der modernen führenden Geister, Bergson, William James.. aber auch Nietzsche und Franz Rosenzweig vorwärts treibt“ (A.d.G.,99).

W. Dirks bringt in seinem Vorwort Rosenstock-Huessys neuen Ansatz in seiner eigenen Sprache präzise zum Ausdruck: „Dieser Denker geht nicht systematisierend vor oder das Gelände abtastend und sichernd, sondern kühn und provozierend, im sicheren Sprung; die erschlossene Sprache, die studierte und erschlossene Geschichte und die leibhaftige Erfahrung wirken zusammen…, seine Methode, ein vom Licht des Sprachgeistes erleuchteter Realismus des unbefangenen Auges.“

Die Sprachlehre Rosenstock-Huessys: „Zum Sprechen bringt den Menschen der Mensch durch – Sprechen“, klingt so einfach, bringt aber seine Sprachlehre auf den Punkt. Er weist in seiner Soziologie nach, und das kann hier nur kurz angedeutet werden, der Mensch ist immer zuerst ein Du, ein einmalig mit seinem Namen Angesprochener, der daraufhin erst Ich sagen kann und im Wir sich gegenseitig bestimmen kann und der erst als letzten Schritt die Welt begreifen kann und darf. Das ist die Urgrammatik der Menschheit. Der Namen, das Angesprochensein des Menschen steht immer am Anfang, weit vor den Begriffen und dem begrifflichen Denken. Den soziologischen Nachweis liefert Rosenstock- Huessy in seiner Soziologie für die vorchristlichen soziologischen Größen von Stamm, Reich, Volk und Polis. Ebenso zeigt er die Bedeutung vom mächtigen Aufprall der „Fleischwerdung des Wortes“ für das erste, zweite und dritte Jahrtausend auf. So kann er mit Blick auf das zweite Jahrtausend n. Chr. festhalten:

„Nach Scholastik und Akademik folgt die Argonautik“. Oder nach dem „Credo, ut intelligam“ von Anselm v. Canterbury, dem „Cogito, ergo sum“ von R. Descartes folgt das von E. Rosenstock-Huessy formulierte „Respondeo, etsi mutabor“, ich antworte, auch wenn ich mich dabei wandeln muss“. So tief und so weit schürfte Rosenstock-Huessy in der Entwicklung der abendländischen Geistesgeschichte und schärfte den Blick für das alte/ neue Organon der Sprache.

Mit seiner neuen Methode, bzw. mit dem neuen Organon der Sprache, blies er seit dem Ersten Weltkrieg zum Angriff auf das „heidnische Gebäude moderner Wissenschaft“. 100 Jahre nach seinem ersten Ansatz in der „Angewandten Seelenkunde macht es einem dann doch mehr als erstaunt, dass diese zentral wichtige und äußerst präzise angezeigte Zäsur so extrem langsam Einlass findet in das immer noch akademische Zeitalter!

Eugen Rosenstock-Huessy, Dietrich Bonhoeffer und die „Einwanderung in den Alltag“

Da Rosenstock-Huessy nachchristlich denkt und schreibt, übersetzt er alles, was bisher theologisch formuliert wurde, in die Moderne bzw. in die „Sprache des Menschengeschlechts“. Doch immer wieder in seinen Schriften drückt er seinen glühenden christlichen Glauben auch in bekennender Glaubenssprache aus: „Wir wollen es nicht vergessen, dass wir die Geheimnisse unseres Schöpfers an den Tag legen. Wir sind sein heiliges, weil unwiederholbares Experiment. Wir treten unbekannt und als Geheimnis in die Sprache unserer Umwelt ein, und wir sollen in dieser Sprache am Ende anerkannt und bekannt werden. Dies geschieht mit der Zeit. Es geschieht und kann nur geschehen zu seiner Zeit“. (in Zeitwende, Partner und Stämme der Industrie, Juni 1953). Rosenstock lebt, wirkt und denkt radikal nachchristlich, am besten vergleichbar mit Dietrich Bonhoeffer (1906-1945). Beide glauben, indem sie in den „Alltag einwandern“, in die „tiefe Diesseitigkeit“. Sabine Leibholz-Bonhoeffer, Bonhoeffers Schwester, hat die Wahlverwandtschaft von beiden wunderbar aufgezeigt und hervorgehoben auch wenn sie sich nie begegnet sind. (Eugen Rosenstock und Dietrich Bonhoeffer, Zwei Zeugen der Wende in unserer Zeit, 4/1966, Universitas Stuttgart.) Sie schreibt:

„Den Tatbestand eines echten Zusammenhanges der Lehre beider Männer hoffe ich herausgestellt zu haben. Hier zeigte es sich, dass Worte zu Mächten gesteigert werden müssen, falls sie umwandeln, ergreifen und bestimmen sollen. Nur dann hat das Wort Macht, wenn es seinen Sprecher sich so unterwirft, dass er selbst voll bereit wird, es in und mit seinem Leben zu bezeugen.“ (S. 165) Leibholz meint, nach Gesprächen mit Rosenstock-Huessy in den 60er Jahren, Bonhoeffers Theologie verschwinde hinter seinem Handeln und zitiert Rosenstocks entscheidenden Satz: “…in der Bereitschaft mitleidender Teilnahme in die Not des Ganzen einzugehen und opferwillig daraus auch neue, unerhörte, ungewußte Gedanken und Entschlüsse zu fassen“. Sabine Leibholz bestätigt Rosenstocks Erkenntnisse über ihren Bruder in unübertrefflicher Kürze: „Dietrich Bonhoeffer hat diesen Satz gelebt.“ Wir wissen heute: Eugen Rosenstock-Huessy auch!

Sabine Leibholz widmete später ihr Buch „Vergangen erlebt überwunden“ von 1970, „Eugen Rosenstock, zu seinem 80. Geburtstag“.

Wie das neue Denken umsetzen? Bewährung in der Praxis – im „Kreuz der Wirklichkeit“

Dazu nochmals der Rückblick auf das Jahr 1919. Rosenstock lehnte Anfragen von Staat, Kirche und Universität bewusst ab, weil diese kein „zeitgenährtes Denken“ erproben wollten, obwohl sie politisch und moralisch versagt hatten. Rosenstock gründete in Sindelfingen bei den Daimlerwerken die Daimlerwerkszeitung, die er zwei Jahre leitete, bevor durch revolutionäre Streiks die Werkstore geschlossen wurden. Mit ihr sollte eben „das Zum Sprechen bringen der Menschen“ erprobt werden. Die Werkszeitung wurde 1990 wieder neu aufgelegt, weil man erkannte, wie weit Rosenstock 1919 seiner Zeit schon voraus war. (FOTO 5 Werkzeitung) Edzard Reuter, der damalige Vorstandschef erklärt dazu in seinem Vorwort:

„…das in dieser Zeitschrift dokumentierte Zusammenwirken zwischen der Leitung eines Wirtschaftsunternehmens und einem jungen, hochbegabten und sensiblen „christlichen Sozialrevolutionärs“ stellt einen bemerkenswerten Versuch zur Lösung gesellschaftspolitischer Probleme in schwerer Zeit dar.“

Und weiter drückt Reuter seine Hoffnung aus, dass mit der Neuveröffentlichung auch „Anregungen gegeben werden, die wissenschaftliche Forschung auf sozialpolitisch wichtige Problemlösungsversuche im Rahmen einer industriellen Betriebsgemeinschaft zu erstrecken.“ Das klingt verheißungsvoll, wiederum 30 Jahre später kann man allerdings nüchtern feststellen, dass Reuters Hoffnung auf eine Fortführung von Rosenstocks sozialpolitischen Ansätzen inmitten der modernen Industrie auch dieses Mal in der Buchform stecken geblieben ist.

Eugen und Margit Rosenstock-Huessy und Franz Rosenzweig

Unmittelbar nach der Werkschließung war Rosenstock-Huessy dann 1921 Mitbegründer der Akademie der Arbeit in Frankfurt, die nach seinem Ausscheiden Ernst Michel leitete. Das reine akademische Lernen sollte hier durch neue Lehr- und Lernmethoden abgeschafft werden, ähnlich dem freien jüdischen Lehrhaus in Frankfurt, das unter der Leitung von Franz Rosenzweig stand. 1921, vor genau 100 Jahren, hatte Rosenzweig, den Stern der Erlösung geschrieben. Der Trialog zwischen Eugen Rosenstock, Margrit Rosenstock und Franz Rosenzweig bildete den einmaligen, biographischen Prägestock dieses Jahrhundertwerkes (Dazu v.a. den Radiobeitrag) von Manfred Baumschulte

FOTO6 Stern und Bild Eugen/Margret/Franz.

Im „Stern der Erlösung“ hatte er mit einem Paukenschlag das „neue Denken“ geniehaft niedergeschrieben. Dieses ist kurz, klar und radikal antiidealistisch definiert – noch einmal - das Denken, v.a. des 19.Jhs, das in erdachten und konstruierten Systemen gipfelte, hatte sich durch den Ersten Weltkrieg selbst entlarvt - es darf das abstrakte Denken keine abstrakten Systeme mehr entwerfen, der lebendige Mensch und die gesamte Schöpfung bleiben dabei auf der Strecke. Im Fokus kann und darf nur die Sprache, das lebendige Sprechen stehen, oder wie Rosenzweig es formulierte. Im „neuen Denken“ (dem Sprechdenken) steht radikal im Vordergrund, das „Bedürfnis des Anderen bzw. das Ernstnehmen der Zeit“. Von Rosenstock hatte er unmissverständlich gelernt, „Offenbarung ist Orientierung“ und damit eng verbunden geht das „Du dem Ich vorher, ohne dass das Ich nie zustande käme“ Damit war auch für ihn die Zeit des philosophischen Relativismus abgeschlossen. Rosenstock schreibt 1921 über den Stern der Erlösung:

„Seine Gestalt, die hier neben uns tritt, erzeugt darum nicht die bloße Reibungselektrizität, durch die uns jede fremde Genialität anregt, sondern sie wird zur bleibenden Bedingung unserer Seele. Wir erfahren eine Umschmelzung unserer Daseinsbedingungen. Unsere Lebensgrundlage vereinfacht sich und wird durch die Vereinfachung verjüngt“ (Rosenstock- Archiv in Bielefeld/Bethel)

Rosenstock-Huessys christlicher Ansatz hebt zentral im „Kern des Logos“ an, in der Fleischwerdung des Wortes in Jesus Christus und eben nicht in der Begriffwerdung des Wortes! Das war und ist allerdings genau der Grund, dass sein damaliges Wort die „herrschenden Großmächte der Philosophie, Psychologen, Philosophen, Logiker nicht erreicht“ hat. Denn die herrschenden Machthaber des Geisteslebens gehen ja nicht von dem glühenden Sprachkern des „heute habe ich dich gezeugt“ aus, sondern unsere Schulkinder werden angewiesen, dass es Idee und Materie, Geist und Leib, Metaphysik und Physik gebe…sie werden alle vor eine zerfallene Wirklichkeit gestellt, in der …. die unbegreifliche Spaltung in Begriff und Ding als der Weisheit letzter Schluß gilt“ (Zitat aus „Atem des Geistes“)

Rosenzweigs Stern wird heute nur marginal an der Uni gelesen, wenn gleich es viele hervorragende akademische Arbeiten und Symposien über ihn gibt! Rosenstock-Huessy so gut wie gar nicht. Zeigt diese Tatsache nicht schonungslos und ein Stück weit schockierend auf, dass die babylonische Gefangenschaft der Uni weiterhin anhält? Ohne den Satz und der festen Tatsache „das Wort ist Fleisch geworden“ gibt es nach Rosenstock-Huessy „unsere Zeitrechnung nicht“.

Hingegen Martin Heideggers „Sein und Zeit“, 1927 als Erstentwurf geschrieben, wurde nicht nur euphorisch in den Wissenschaftsbetrieb aufgenommen, Heidegger selber wurde in Freiburg 1933 gar Rektor der Universität. Und nach dem Krieg - welche Konsequenzen zog Heidegger für das Denken aus der Katastrophe? Rosenstock-Huessy forderte 1933, unmittelbar nach der Wahl Hitlers, in der juristischen Fakultät Breslaus zum Protest gegen Hitler auf. Er wurde dabei ausgelacht – im selben Jahr wanderte er mit Frau und Kind auf dem Schiff „Deutschland“ in die USA aus! Bei Heidegger kam das „philosophische Fiasko“, als jüngst die schwarzen Hefte auftauchten – da stoben die Meinungen der philosophischen Fachwelt weit auseinander, wie Werk und Person einer Philosophie zusammen hängen oder nicht. Rosenstock-Huessy selber hat 1957 mit Heideggers Philosophie in seiner Schrift, „Zurück in das Wagnis der Sprache“ „abgerechnet“. Er fasste die Auseinandersetzung zwischen Heidegger (Sein) und Rosenstock (Werden) als Dialog zwischen Parmenides und Heraklit. Eingeführt hat Rosenstock-Huessy diesen fingierten Briefwechsel mit der aus seiner Sicht in den 50iger Jahren immer noch schwierigen geistigen Ausgangslage im akademischen Denken: „Eine tief geistige Erkrankung unseres Denkens wird angegriffen… es handelt sich um eine seltsame Verhärtung unseres Denkens…“

Warum findet Rosenstock bis heute keinen Einlaß in die Universität?

Dass die theologischen, historischen, juristischen Lehrstühle aber auch die naturwissenschaftlichen Lehrstühle den radikal inkarnatorischen und nachchristlichen Ansatz Rosenstock-Huessys bis heute nahezu ignorieren zeigt nach Walter Dirks das „ganze Elend eines geistigen Betriebs…“ Das ist angesichts der aus den Fugen geratenen modernen Gesellschaft ein erschütterndes Verhalten und kann an „Verstocktheit“ nicht überboten werden. Aber Verstocktheit ist das falsche Wort – denn er wird ja nicht abgelehnt und weder theologisch noch wissenschaftlich „bekämpft“.

Rosenstock ereilte bisher ein schlimmeres Schicksal – er wird, wie W. Dirks das sehr klar erkennt, einfach nur von „Insidern“ aber nicht von der ganzen Nation gesehen, obwohl es viele Aufsätze, Doktorarbeiten über ihn gibt und seit 1965 auch eine Rosenstock-Huessy-Gesellschaft in Deutschland. Als Ganzes, als nachchristlicher Inkarnationist, als „unreiner Denker“ am Ende des 20.Jh ́s hat ihn die Gesellschaft und vor allem die Universität des 21.Jh ́s immer noch nicht wahr- und aufgenommen.

Wenn der ehemalige Daimlerchef Edzard Reuter ihn als „christlichen Sozialrevolutionär“ bezeichnete, warum schrillen da bei den christlichen Sozialethikern nicht schon längst die Glocken?

Eugen Rosenstock-Huessy, Joseph Wittig und Martin Buber

Rosenstock veröffentlichte 1927 mit dem katholischen Theologen Joseph Wittig (1879 – 1949) nach dessen Exkommunikation 1926, das „Alter der Kirche“, eine „ökumenische Kirchengeschichte/Soziologie“ der besonderen Art. Der Protestant Rosenstock-Huessy war einer der wenigen, der dem Katholiken Joseph Wittig vor und nach der Exkommunikation als Freund und Ratgeber verteidigend zur Seite stand. So auch im dritten Band vom „Alter der Kirche“ unter der bedeutungsvollen Überschrift: „Religio depopulata“. Rosenstock liest schonungslos und hellseherisch zugleich die Entwicklung der kath. Kirche aus dem „Fall Wittig“ heraus. Am Schluss heißt es: „Wittig ist nicht mit seinem Kopf der Kirche entwachsen, sondern mit seinem Herzen, das des Volkes ist…Das Herz wird (mit der Exkommunikation) nicht verloren gehen. Aber die Kirche des Papstes wird zur bloßen Religion, zur Religio depopulata, zur Kirche ohne Volk“. Wittig wurde 1946 durch den späteren Papst Paul VI., drei Jahre vor seinem Tod wieder bedingungslos in die Kirche aufgenommen, aber die Depesche aus Rom blieb zunächst zwei Jahre beim Bischof in Breslau im Schreibtisch liegen! Kurz vor seinem Tod 1949 erreichte ihn schließlich die Depesche noch persönlich.

Rosenstock war es auch, der 1926 Martin Buber empfahl, den schwer gebeutelten Joseph Wittig, als dritten Herausgeber für die ökumenische Zeitschrift “DIE KREATUR“ mitaufzunehmen. Vier Jahre lang brachten dann Martin Buber als Jude, Viktor v. Weizsäcker als Protestant und Joseph Wittig als Katholik diese Zeitschrift heraus als leuchtendes Projekt der Ökumene in der Weimarer Zeit, ebenso als Sprachrohr des neuen Denkens. Und allemal wegeweisend für ein ökologisches und ökumenisches Denken heute!

FOTO7 (Buber und Wittig)

Warum werden beide Werke nicht in ökumenischen Veranstaltungen und im Theologie- /Philosophiestudium gelesen, diskutiert und in neuen Lehr- und Lernformen ins 21.Jh. transformiert?

FOTO 8 Wittig u. Rosenstockfamilie und Wittig und Buber.)

Einer der besten Kenner Rosenstocks von evangelischer Seite her ist Wolfgang Ullmann (1929 – 2004), Theologe und Mitbegründer der Bürgerrechtsbewegung „Demokratie Jetzt“ in der DDR, einige Jahre auch Abgeordneter für die Grünen im Europaparlament. Er zeigte als einer der wenigen Hochschullehrer in scharfen und klaren Analysen der Hauptwerke Rosenstocks, wie er in der Moderne einzuordnen ist und vor allem, wie notwendig Rosenstocks Lehre für ein Überleben auf unserem Planeten ist.

Klar fasst Ullmann den Hauptgrund der Widerstände gegen Rosenstock in Worte:

„Noch immer stößt auf härtesten Widerstand, was Rosenstock 1927 und 1958 gleichermaßen ausdrücklich behauptet hat: die menschheitssoziologische Bedeutung der christlichen Zeitrechnung. In provozierender Unumwundenheit steht es im Hauptwerk Rosenstocks der Soziologie II: „Christus als Mitte der Geschichte wird heute (d.h. am Beginn des 3.Jahrtausends – W.U.) – eine wissenschaftliche Forderung des Verstandes. Die christliche Zeitrechnung ist eine rationale Forderung. Die Akademiker sind ohne sie unwissenschaftlich“. Und Ullmann ergänzt sogleich, „man darf das nicht mißverstehen“, es gehe dabei nicht um eine „Alleinherrschaft des Christentums, sondern es heißt: hier ist eine Orientierung gegeben, die für alle Menschen passt und die man niemandem aufzustülpen braucht. Das hat ja vielleicht auch damit zu tun, dass die christliche Zeitrechnung eben die einzig universale ist.“ (Mitteilungsblätter 2004, S. 92). Solche Sätze sind natürlich für die meisten Akademiker nach wie vor eine absolute Provokation – nur interessiert das die von Katastrophen heimgesuchte Menschheit herzlich wenig.

Ullmann ergänzt dann noch, dass Rosenstocks Position „… eine Kraft der Erhellung und Differenzierung besitzt, die sie als unentbehrlich für unser politisches und kulturelles Tagespensum erweist“ (Wolfgang Ullmann, Wir, die Bürger, Vorwort Daniel Cohn-Bendit, 2002, S. 168).

Rosenstock schrieb noch während dem Krieg in Amerika „Des Christen Zukunft, oder wir überholen die Moderne“.

Warum steht dieses Buch ebenso wie der „Atem des Geistes“ und „Heilkraft und Wahrheit“ nicht auf der Leseliste der Seminare sowohl von Geistes- und Naturwissenschaften?

Ebenso seine Hauptwerke; „Die Sprache des Menschengeschlechts“ und die zweibändige Soziologie „Im Kreuz der Wirklichkeit“. Auch Exegeten und die systematischen Theologen, könnten z.B. darin die „Frucht der Lippen“ lesen und für die jeweiligen Fachwissenschaften atemberaubende Erkenntnisse entnehmen. Wie nämlich hat Jesus selber, als Gottes Sohn, auf alle vorchristlichen soziologischen Größen von Stamm, Reich, Volk und Polis gehört und in die „Fülle der Zeiten“ überführt, wie Paulus (Epheserbrief 1) es formuliert oder in die „Vollzahl der Zeiten“ wie Rosenstock-Huessy die Einheit des Menschengeschlechtes bezeichnet? Was haben die vier Evangelien damit zu tun, bzw. wie haben die Evangelisten den gesamten vorchristlichen Resonanzraum theologisch, pädagogisch und literarisch in die Evangelien aufgenommen? Außer Rosenstock-Huessy hat keiner eine solche Schau bzw. einen konkreten wissenschaftlichen Nachweis je geführt. Wer aber wie die Propheten und die Evangelisten und wie Rosenstock selber immer die Einheit des Menschengeschlechts als große Verheißung vor Augen hat, kann und muss diese Verheißung immer wieder neu ins Hier und Heute übersetzen.

Eugen Rosenstock-Huessy als „Erzvater des Kreisauer Kreises“

Rosenstock gilt aber auch als „Erzvater des Kreisauer Kreises“, weil seine vielen Mitglieder unter schwierigsten Bedingungen im Nazideutschland, mit der Methode des neuen Denkens, die edelste Frucht für die Zeit nach dem Ende der Nazi-Ära hervorbrachte: eine demokratisch-föderalistische Verfassung mit Blick auf ein friedliches Europa. Dafür wurden viele „Kreisauer“ von Freisler verurteilt und in Plötzensee hingerichtet. Moltke war einer der führenden Köpfe im Kreisauer Kreis und fragte Rosenstock 1927 an, als Mitbegründer des Boberhauses und als Erwachsenenbildner in Schlesien, Arbeitslager für Arbeiter, Bauern und Studenten durchzuführen. Sechs Wochen lang lebten und arbeiteten diese Arbeitsgemeinschaften nach ganzheitlichen Methoden - darunter waren einige spätere Mitglieder des Kreisauer Kreises. Wenn man sieht, dass Rosenstock und J. Wittig später in seinem Bericht darüber diese intensiven Wochen der Arbeitsgemeinschaften als „neuen Sonntag“ bezeichnet haben, dann kann man auch hier die wahre soziologische und inkarnatorische Tiefendimension erkennen. Niemand hatte bis dahin und niemand hat seither so tief die Bedeutung des christlichen Sonntags angesichts der Wucht des Aufpralls der Industrialisierung im 19.Jh. neu, in einer der Zeit entsprechenden Form übersetzt! Damit die Seele im Dreiklang mit Leib und Geist überhaupt wieder atmen kann, braucht es solche sechswöchigen Seelen- bzw. Atemkuren – dann kann der Mensch tatsächlich wieder Vollmensch werden/sein. Diese Form der Erwachsenbildung bzw. der Bildung von Arbeitsgemeinschaften stellte sich für Rosenstock-Huessy als notwendiger Weg für das schwer gebeutelte deutsche Volk dar, die Katastrophe des Ersten Weltkrieges seelisch zu überstehen und präventiv einen weiteren Weltkrieg zu verhindern. Im Zentrum der „Seelenkur“, bzw. der Erwachsenenbildung, steht das Miteinanderreden, das Zusammenwirken, das Miteinanderspielen, damals eben von Bauern, Studenten und Arbeitern. Wenn man Rosenstock-Huessys Definition von Arbeitsgemeinschaft dem später von Hitler definierten Arbeitsdienst gegenüberstellt, wird messerscharf klar, wie weit er mit seiner Sprachlehre seiner Zeit voraus war und ist und wie konsequent er selber diese Sprachlehre im realen Leben übte und immer wieder angewendet hat: „Die Arbeitsgemeinschaft packt das Übel an der Wurzel. Sie läßt das Verschiedene verschieden, läßt es seine Verschiedenheit kräftig aussprechen und bringt es als verschiedenes dennoch zusammen unter dem Schutze unzerstörbarer Einheit, durch den Ehereif ebenbürtiger und notwendiger und ausdrücklicher Gemeinschaft… Sie ist nur ein Anfang. Aber das ganze Geheimnis eines jeden Dings steckt schon im Anfang.“ (Hochzeit des Krieges, S. 268) 1920 geschrieben und gedruckt ist offensichtlich: die Grundidee und paradoxe Aufgabe der Arbeitsgemeinschaft, das Verschiedene verschieden zu lassen und t r o t z d e m das Verschiedene zusammenzubringen ist heute die zentrale Herausforderung, auf nationaler und globaler Ebene! Wir dürfen gespannt sein, wie der Westen nach der Flucht aus Afghanistan mit den Taliban wirklich ins Gespräch kommt – auch hier würden Arbeitsgemeinschaften „das Übel an der Wurzel packen“. Wann wurde in diesem Konflikt je „die Verschiedenheit kräftig“ ausgesprochen und trotz der Verschiedenheit ein gemeinsames Ziel formuliert? Reine Militäraktionen waren immer schon zum Scheitern verurteilt.

Eugen Rosenstock und Freya von Moltke

Welche Fügung ergab sich dreißig Jahre später aus der Zeit der Arbeitsgemeinschaften in der Weimarer Republik für Rosenstock-Huessy und die Witwe Freya von Moltke. Nach dem Tod von Margrit Rosenstock- Huessy, lebte Freya von Moltke (1911-2010) von 1960 bis zum Tode Rosenstocks 1974 mit ihm zusammen und starb 99 jährig 2010 im Hause Rosenstocks in Vermont! Mit ihrem ganz eigenen, tiefen Humor schreibt Freya: „Ich habe mit zwei querliegenden Männern ausführlich zu tun gehabt…. Rosenstock hat immer gelehrt, dass man mit der Methode der Akademik nicht wirklich etwas über die Menschen aussagen kann. Das ist eins seiner Grundthemen; damit liegt er eben quer“.

FOTO 9 (Freya im Hause Rosenstock und Haus von Rosenstock)

Traurige Ursachen des Vergessens: das Totschweigen, das Verdrängen, das Vergessen der fundamentalen Lehre Rosenstock- Huessys an den Universitäten!

Nochmals die Frage, wie ist es zu erklären, dass u.a. die Universität bis heute weder inhaltlich noch wissenschaftlich sich mit Rosenstock-Huessy zwar vereinzelt aber nicht grundlegend auseinandersetzt? Rosenstock-Huessy selber betrachtet sein Werk als „totgeschwiegen“. Dies äußert er klar und deutlich in vielen Briefen, so auch 1960 an K.H. Ebert mit Blick auf die Veröffentlichung seines Hauptwerkes der „Soziologie“ 1959. Zitat: “Ich hatte mir eingebildet, es bedürfe nur des Wiedererscheinens der immerhin 1925 zuerst erschienenen, damals freilich totgeschwiegenen „Soziologie“, um mindestens Respekt einzuflößen. Verachtung und Hohn hatte ich nicht mehr erwartet..“ (Archiv ERH-Gesellschaft, Mitteilungsblätter, 25.Folge April 77). Hochspannend dann auch, dass er im selben Brief erläutert, er hatte damals modellhaft einen Hochschulplan, ähnlich der von ihm 1921 gegründeten „Akademie der Arbeit“, mit zwei Fakultäten, die aus „Zeiten und Räumen“ bestanden: „Meine nunmehrige „Soziologie“ ist die Universitätsgründung von damals, nur in zwei Bände Schrifttum umgeschmolzen… mein Hochschulplan ist damals an seiner Seichtheit – als Modellfall – gescheitert“. Und er meint damit keinen geringeren als Max Horkheimer, den späteren Mitbegründer der „Frankfurter Schule“. 1944 brachte Horkheimer die „Dialektik der Aufklärung“ heraus. Das „Kreuz der Wirklichkeit“ in Rosenstocks „Soziologie“ von 1925 hatten auch Horkheimer und Adorno totgeschwiegen. 1944 hatte Rosenstock-Huessy in Amerika unter Präsident Roosevelt das „Camp William James“ durchgeführt. Unter Präsident Hindenburg waren es in Deutschland die erwähnten Arbeitsgemeinschaften, die Hitler und einem zweiten Weltkrieg entgegenwirken sollten. Sowohl der heutige Präsident Biden als auch der aktuelle Bundespräsident Steinmeier täten gut daran, sich dieser Modelle der Krisenvorbeugung wieder zuzuwenden. Der polnische Jesuit und Rosenstockkenner Adam Zak stellt 1990 in der Zeitschrift „Orientierung“ fest: „Die Verdrängung einer unbequemen Stimme …bestätigt aber, dass Rosenstock recht hatte, wenn er diagnostizierte, dass Begriffe und Abstraktionen der zeitgenössischen Wissenschaft – vor allem der Philosophie – eine „feige Lebensanschauung“ ergeben. Wissenschaft und die stille, im Verborgenen betätigte Forschung waren für viele Gelehrte Rettung und Versteck vor den Ereignissen, Rechtfertigung und Beruhigung angesichts der Pflicht zu reden, die diese Ereignisse forderten…die Sprache der Wissenschaft war dem gesellschaftlichen Drama nicht gewachsen“. Und gleich sei hinzugefügt – sie ist logischerweise auch dem aktuellen gesellschaftlichen Drama des Covid – 19 Virus nicht gewachsen!

Sehr interessant ist auch die offene und vor allem ehrliche Aussage von Franz-Xaver Kaufmann, dem Mitbegründer der soziologischen Fakultät Bielefeld, in seinem wichtigen Werk, „Religion und Modernität“ von 1989: „Obwohl ich schon 1965 “Das Alter der Kirche“ und die zweibändige „Soziologie“ Rosenstock-Huessys zur Kenntnis nahm, geriet sie auch bei mir wieder in Vergessenheit, bis ich über das Buch von Harold J. Berman (Schüler von ERH), Law and Revolution (London 1983) wieder auf die Bedeutung Rosenstock-Huessys gestoßen wurde.“

In seinem Fazit der Nichtrezeption Rosenstocks stimmt er mit dem polnischen Theologen Adam Zak überein: „Daß Rosenstock-Huessys in der Emigration geschriebene Schriften in der Bundesrepublik kaum rezipiert werden, während sie in den Vereinigten Staaten nach wie vor Beachtung finden, scheint mir symptomatisch für den Zustand des hiesigen kirchlichen wie sozialwissenschaftlichen Bewußtseins“ (Religion und Modernität, S.246). Damit stimmt er 34 Jahre nach Walter Dirks mit seiner im Vorwort ausgesprochenen Kritik indirekt überein, er sprach ja vom „…ganzen Elend eines geistigen Betriebs“. Allerdings führt Kaufmann diesen Zustand in seinem Buch nicht näher aus. Diesen aus nachchristlicher Sicht kritisch zu sichten, bleibt eine offene und zentrale Aufgabe.

Es ist ein echtes Rätsel und 250 Jahre nach der Aufklärung nicht zu erklären - warum die Wissenschaften an den Universitäten nicht umfassend wissenschaftlich daran gehen das riesige Werk Rosenstocks zu sichten, und vor allem seinen neuen Ansatz der Sprachphilosophie im „Kreuz der Wirklichkeit“ zu besprechen, zu kritisieren, eine Gesamtausgabe herauszugeben etc.!? Solange die Universität das nicht leistet, steht sie im Verdacht einer nicht verantwortbaren Unwissenschaftlichkeit oder um mit Kant zu sprechen, einer selbstverschuldeten Unmündigkeit.

Wie sehr aber brauchen wir seit den beiden Weltkriegen eine Erneuerung der Universität im Sinne der Sprachdenker. Der Schlußsatz der berühmten Rede vom „Geheimnis der Universität“, von Eugen Rosenstock-Huessy kann nicht präziser Herkunft und Zukunft der Universität erfassen. Er sei deshalb hier zitiert - diese Rede erfordert dringend einen Neudruck.

„Uni – versus, von allen Seiten sammelt sie die sonst Getrennten, um der Zukunft, der freien Zukunft willen, der Zukunft, die die Sünden der Väter nicht heimsucht bis ins dritte und vierte Glied, sondern die wohltun kann bis ins tausendste Glied, weil wir uns vom Unrecht der Gegenwart öffentlich und donnerstags statt sonnabends lossagen“. (Geheimnis der Universität, Göttingen 1958,S. 539) Welche Rolle also wird die Universität für die freie Zukunft spielen? Diese Kernfrage bleibt hochaktuell! Wann endlich wird die Universität die lebendigen Netzwerke und die jeweiligen Schwerpunkte der besten Sprachdenker des letzten Jahrhunderts aufdecken und selber aktuell umsetzen? Dazu gehören dann neben Rosenstock-Huessy, Rosenzweig, Michel, auch Ferdinand Ebner, Pavel Florenski, Florens Christian Rang u.a. mehr.

Alle Sprachdenker, besser Sprechdenker, würden der Universität und der modernen Gesellschaft dieselbe Knackfrage von damals auch heute stellen: Wie haltet ihr es mit der Rangordnung zwischen der Sprache, dem Vorrang des Sprechens und der Namen vor dem Denken, den Begriffen und den Zahlen? Rosenstock-Huessy würde fragen, wie haltet ihr es mit der Urgrammatik, die tief in der Geschichte der Menschheit grundgelegt ist, und schon weit vor jeder modernen Wissenschaft bestanden hat und auch weiterhin besteht! Wie viele Katastrophen seid ihr noch bereit wirkungslos zu begleiten, anstatt sie von der Wurzel her zu kurieren und damit weitere Katastrophen zu verhindern? Seine Kritik zielt im Kern nicht auf die Top- und Spitzenleistungen, die in Forschung und Lehre unbestreitbar erzielt werden. Aber, sieht die Universtiät „vor lauter Bäumen den Wald noch“? Ist die Wissenschaft erschüttert genug von den vielen eben durch die Forschung erzielten technischen Errungenschaften, mit Hilfe derer erst Mensch, Tier und Schöpfung bedrohlich ins „Taumeln geraten“ sind? Die Klimaerwärmung steht in direktem Zusammenhang mit den überhitzten Forschungen in den jeweiligen Einzeldisziplinen.

Die Rolle des einzelnen Wissenschaftlers ist dabei groß teils noch völlig unreflektiert und ungeklärt. Jede/r Wissenschaftler/in selbst muss eine andere Rolle einnehmen, eine Kehrtwende vollziehen, im Sinne der neuen Haltung der Sprachdenker: „Respondeo, etsi mutabor“. Ich antworte auf die umfassende Krise, Erschütterung in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, auch wenn ich dabei meine bisherige Forscher- und Lehrerexistenz mit Blick auf die Folgen meiner Forschungsergebnisse ändern muss. Der Zeitpunkt für Lehre und Forschung ist heute doch ganz anders einzuschätzen als noch vor 50 oder 100 Jahren. Im Moment scheint mehr die Jugend erschüttert zu sein von den Folgen der reinen Forschung für Mensch und Natur! („Friday for Future“ bringt das eindrücklich zum Ausdruck)

Freya von Moltke formulierte die äußerst distanzierte Haltung der Moderne zu Rosenstocks Denken in ihrer ganz eigenen Sprache: „Ich kann mein Entsetzen nicht so ganz loswerden, dass Deutschland sich das leisten konnte, sowohl meinen Mann nicht haben zu wollen, wie, auf ganz andere Weise… Rosenstock-Huessy nicht gebrauchen konnte“. Freya tat was sie konnte, sie hat sowohl das Werk ihres Mannes als auch das von Rosenstock editorisch noch mitherausgebracht. Was sie am meisten erfüllte war die Tatsache, dass auf dem ehemaligen Gutshof Kreisau seit den 90er Jahren eine europäische Jugendbegegnungsstätte entstanden ist. „So hätte es Helmuth gewollt“ hat sie immer wieder betont.

Eugen Rosenstock-Huessy und die (Rechts-) Geschichte

Als die „beste Frucht an Deutschland“ bezeichnete Rosenstock-Huessy sein 1931 erschienenes Buch „Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen“. (inzwischen vier Auflagen)

Hier sind es profunde Historiker, die die großartige und einmalige Gesamtschau der europäischen Revolutionen ohne zu zögern benennen und als herausragend beurteilen, so etwa H.A. Winkler (*1938):

“Ein Buch, das mein Leben verändert hat…das Buch wurde zu einem meiner aufregendsten Leseerlebnisse, mehr noch: zu einer Zäsur. Rosenstock, Rechtshistoriker mit dem Schwerpunkt deutsches Mittelalter, aber zugleich Universalhistoriker, Soziologe und Philosoph, lehrte mich, die gesamte europäische Geschichte mit neuen Augen zu sehen und an die deutsche Geschichte neue Fragen zu stellen. Von ihm erfuhr ich, was es mit der ‘Papstrevolution’ Gregors VII. im 11. Jahrhundert auf sich hatte und daß Europa, genauer gesagt: der Okzident, noch immer geprägt war vom Ausgang jenes Ringens zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt. Hätte sich damals eine der beiden Seiten durchgesetzt, wäre es um die Sache der Freiheit schlecht bestellt gewesen. In der Spannung zwischen beiden Gewalten lag der Schlüssel zum Verständnis der folgenden Geschichte.“ “, (in: Detlef Felken (Hrsg. Ein Buch das mein Leben verändert hat, S. 461-463)

Der nicht weniger renommierte Historiker H.U. Wehler (1931-2014) hält in einem Satz fest. „Eugen Rosenstock-Huessy ist der einzige geniale Mann, den ich bisher kennen gelernt habe“.

Es sei an dieser Stelle noch an den Juristen Hans Thieme (1906-2000) erinnert. Er war der letzte Assistent von Eugen Rosenstock in Breslau. Später lebte und lehrte er in Freiburg und war auch ein Jahr Rektor der Uni Freiburg. Er setzte sich dafür ein, dass Rosenstock-Huessy nach dem Krieg Vorlesungen in Münster hielt.

Thieme äußerte sich 1953 zu dem Aufsatz „Vom Neubau der deutschen Rechtsgeschichte“ von 1919. Darin sieht er schon keimhaft den Bezug zum späteren großen Werk Rosenstocks „Die Europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen“ enthalten. „Es lässt sich kaum ein Begriff davon geben, wie reich die Tafel besetzt ist, und was für überraschende Früchte sie bereit hält“. Der Aufsatz von 1919 stellt nach Hans Thieme eine konzentrierte deutsche Verfassungsgeschichte dar… er wirkt 1953 so aktuell wie 1919, bzw. seine „vorausgedachten Forderungen sind zumeist noch immer unerfüllt. Hans Thieme, spricht als einer der wenigen deutschen Juristen überhaupt seinen Dank aus und äußert auch einen klaren Aufruf; „Dem Verfasser … gebührt Dank auch von Seiten der Deutschen Rechtsgeschichte für sein lebenspendendes Werk. Ihren alten und jungen Freunden aber gilt unser Ruf: nimm und lies!“ (Jahrbuch der Rosenstock Gesellschaft 2001, S.57). Also auch der Freiburger Jurist appelliert wie Dirks noch zu Lebzeiten Rosenstocks, sein Werk endlich wahrzunehmen! Mit Sicherheit hat Rosenstock solche klar ausgesprochenen Appelle als echten Seelenbalsam in der schwierigen Nachkriegszeit wahrgenommen und stand mit beiden immer wieder in Kontakt.

In diesem Jahr kam das Buch vom englischen Historiker Tom Holland heraus mit dem Titel „Herrschaft. Die Entstehung des Westens“. Am Ende seines inspirierenden Vorworts schreibt er „Mein Buch untersucht, wodurch das Christentum so subversiv und revolutionär wurde…. und warum es in einer westlichen Welt, die häufig ein so kompliziertes Verhältnis zu religiösen Ansprüchen hat, so viele ihrer Instinkte nach wie vor – im Guten wie im Schlechten – durch und durch christlich sind“. Ja, wie „genuin christliche Traditionen auch in unserer modernen Gesellschaft allgegenwärtig sind – sogar dort, wo sie negiert werden, etwa im Säkularismus, Atheismus oder in den Naturwissenschaften“ (Klappentext). Vielleicht helfen solche neuen Werke in neuer Sprache dem Werk von Rosenstock-Huessy wieder auf die Sprünge? In der Sache aber hat Rosenstock-Huessy genau das, was Holland zum Ausdruck bringt vor 110 Jahren angefangen zu bekennen, zu erfassen, zu beleuchten, und in seinem riesigen Oeuvre zusammengeschrieben. Auch wenn seine Programmschrift von 1916 nach seiner Aussage an den „Bastionen der Universität wie ein geträllertes Liedchen im Kanonenfeuer“ verhallte, bleibt die große Frage: Wann ist die Zeit reif für Eugen Rosenstock, für sein gewaltiges Lebenswerk. Wann wird sein so bewährtes Wirken erkannt und vor allem in seinem Geiste fortgeführt?

Ausblick oder vom kommenden „Pfingsten der Menschheit“

Hören wir zum Ausblick noch die Stimme des Niederländers Bas Leenman (1920 – 2006) dem engsten Schüler und Freund von Eugen Rosenstock-Huessy. Er brachte als Auftrag von Rosenstock-Huessy das vorletzte Kapitel „Die Tochter“ aus seinem 1920 veröffentlichten Buch „Die Hochzeit des Krieges und der Revolution“ zusammen mit dem biblischen Buch Ruth als Extradruck heraus. Es erschien 1988 zum 100. Geburtstag Rosenstocks und ist eine der schönsten Perlen des Buches von 1920, das ohne zu Zögern als ein erschütterndes, weil auch nach 100 Jahren noch unglaublich authentisches Zeitzeugnis neu aufgelegt werden sollte. (FOTO11Cover Buch Hochzeit…) Allein die verblüffend frühe Prophezeiung im Jahre 1919 eines „Lügenkaisertums“, und damit meinte er Hitler, macht im Nachhinein betroffen. Er schrieb kurz nach der Unterschrift unter den Versailler Vertrag, auf S. 243: „Wir sind in der Nacht, nur in der Nacht. Und da ein Uhr vorüber ist, so wird es erst jetzt ganz hoffnungslos still und schweigsam. Die grenzenlose Bangigkeit wird noch viel Deutsche in den kommenden Jahrzehnten zu Revancheplänen, Restaurationsversuchen und gewaltsamen Empörungen treiben. Wir werden den Versuch eines Lügenkaisertums durchzumachen haben, weil diese Kräfte nicht rasten werden, ehe sie nicht widerlegt sind. So wird dieser Kirchen-, Parteien- und Stammespferch Deutschland durch sie in eine Hölle verwandelt werden“. Dass nach 10 Jahrzehnten diese Kräfte der Restaurationsversuche und gewaltsame Empörungen immer noch in der starken rechten Szene der AfD voll zutreffen, trifft ins Mark des heutigen Lesers.

Das 101 Jahre alte Kapitel von 1920 hatte und hat ein immenses prophetisches Ausmaß. Leenman schreibt in seiner kurzen Einführung: „Sind die Züge dieser Tochter des Menschen vielleicht unabdingbar für ein kommendes Pfingsten der Menschheit, an dem wir einander verstehen werden, weil unsere Seelen einander töchterlich, ja bräutlich offen sind?“

Aus der uralten biblischen Verheißung vom kommenden Pfingstfest der Menschheit hat Rosenstock seine schier unendliche Schaffenskraft geschöpft. Er war der festen Überzeugung - das noch junge dritte Jahrtausend ist trotz und durch die heftigen Leidenskatastrophen am Ende des zweiten Jahrtausends, auf dem Weg zur Einheit des Menschengeschlechts. Der einseitige Siegeszug von Mathematik, Logik und Technik mit seinem höllischen Tempo für Mensch und Natur, hat unsere Seelen krank, lahm und müde gemacht; hat Weltkriege, Umweltzerstörung und eine brutale, soziale Ungerechtigkeit mit sich gebracht. Jetzt gilt es aber mutig und bestimmt in die „tiefe Diesseitigkeit“ der nachchristlichen Aera einzutreten. Es gilt unentwegt Samariterdienste auf unserem Planeten zu leisten, als „erdgebundene Tage“ in vielen Arbeitsgemeinschaften, Schritt für Schritt, ganzheitlich und gar nicht langsam genug! Dazu brauchen wir noch viele „barmherzige Samariter des Denkens“. So bezeichnete Rosenstock- Huessy Ernst Michel, auch Eugen Rosenstock-Huessy war ein solcher.

Es ist klar geworden, es ist allerhöchste Zeit, den so eindringlichen Appell von Walter Dirks aus dem Jahre 1955 wirklich zu hören. Es wäre ein wunderbares Geburtstagsgeschenk für Walter Dirks, wenn sein Appell, 66 Jahre später auf fruchtbaren Boden in Deutschland fallen würde!

Freya von Moltke sah den weiteren Rezeptionsweg von Rosenstock- Huessy mit ihrer fast 100 jährigen Lebenserfahrung irgendwie gelassen und altersweise:

„Man muß warten, bis und ob ihn jemand findet und was er damit macht“.

Zu der vielzitierten Wahrheit des Dichters Hölderlin, den wir am Anfang des Artikels zitierten „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, gehört noch ein entscheidender Zwillingsvers dazu.

Es ist der letzte Vers aus dem Gedicht „Wie wenn am Feiertage“, in dem Hölderlin die fruchtbare und unabdingbare Haltung des hörenden und harrenden Dichters, stellvertretend für das ganze Volk, gewaltig zum Ausdruck bringt:

„Und tief erschüttert, eines Gottes Leiden
Mitleidend, bleibt das ewige Herz doch fest“
.

Eugen Rosenstock-Huessy hat diese Haltung, dieses Mitleiden wie Hölderlin, wie Nietzsche und auch wie Bonhoeffer geliebt und gelebt. Denn wenn Dichter, Soziologen, wenn nicht jeder Mensch sich durch historische, soziale und persönliche Erschütterungen wandeln lässt, dann ist ihr Sprechen, bzw. ihr Denken nahezu wertlos. Vielmehr führt ihr unerschütterliches Verhalten die Welt immer schärfer an den Abgrund.

Den Maßstab seines Sprechdenkens hatte Rosenstock-Huessy früh von Augustin übernommen: „Ama, quia durissimum est“, Liebe dort, wo es am schwierigsten ist. „Ama, quia durissimum est, war mein Los“, bekennt Eugen Rosenstock-Huessy auch in hohem Alter. Abschließende Thesen:

  1. Die Umkehr zum „neuen Denken“ („das Bedürfnis des Anderen bzw. das Ernstnehmen der Zeit“) von Eugen Rosenstock-Huessy, Franz Rosenzweig und aller Sprachdenker zu Beginn des Jahrhunderts ist für das nackte Überleben auf diesem Planeten absolut überlebensnotwendig. Die Not ist laut seinem Schüler Bas Leenman „brennend geworden“.
  2. Die Klimakatastrophe ist nach den beiden Weltkriegen eine der aktuellsten Folgen der Verweigerung dieser Umkehr. Das “Wunder“ der deutschen Nachkriegs-Wirtschaft entpuppt sich als Dynamik von ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Sackgassen. Alles, was vermeintlich gegen die Katastrophen getan wird, ist immer nur eine Reaktion auf die Katastrophen und bedeutet keine radikale Kehrtwende. Das spürt die Jugend am intensivsten und drängt zu sofortiger Solidarität mit den Armen, Schwachen und vor allem auch mit der Schöpfung/Natur. Es gibt auch bei der Corona-Krise kein einfaches Zurück in die Vor- Corona-Zeit. Dieses Virus fordert regelrecht die Menschen auf dem ganzen Planeten Erde heraus – auf allen Ebenen ein neues wirtschaftliches und soziales Miteinander einzuüben. Das ist wieder eine große Chance!
  3. Es ist deshalb auch die höchste Pflicht der akademischen Welt, die „kopernikanische Wende des Denkens/ der Sprachphilosophie anzuerkennen, mitzuvollziehen bzw. aktuell umzusetzen! Diese Wende hätte schon nach dem Ersten Weltkrieg unendlich Segen gebracht – was für ein befreiender Ruck würde heute durch die Universität(en) gehen, durch unsere Gesellschaft mit wahrhaft ermutigenden Auswirkungen für unseren geschundenen und wunden Planeten Erde!

Persönliche Nachbemerkung.

Seit meinem Studium in den 80er Jahren habe ich mich mit den Werken von Eugen Rosenstock-Huessy und Joseph Wittig beschäftigt. Der Name Rosenstock fiel während dem ganzen Studium nicht einmal in irgendeiner Fakultät. Das konnte ich kaum glauben und stimmte mich sehr nachdenklich, machte mich fassungslos! Mit Blick auf die Weite von Rosenstock-Huessys Werk und vor allem auf seine Bewährung im „Kreuz der Wirklichkeit“ über 50 Jahre hinweg, spürte ich die tiefe gesellschaftliche Unfruchtbarkeit und Zukunftslosigkeit des modernen, akademischen Universitäts-“betriebes“.

Meine Zulassungsarbeit über den gemeinsamen Weg von Eugen Rosenstock-Huessy und Joseph Wittig in der Weimarer Zeit rettete mich über die Studienzeit. Diese konnte ich glücklicher weise bei Prof. Dr. Joachim Köhler schreiben, der ein hervorragender Kenner der Schriften Joseph Wittigs ist. Ich hatte das große Glück und die große Ehre noch persönlich, Anca Wittig, die Witwe Joseph Wittigs, kennen zu lernen. Ebenso habe ich Freya von Moltke sowohl in den USA, als auch in den Niederlanden z.T. länger erleben dürfen. Und schließlich auch mit Lotte Huessy, der Schwägerin von Eugen Rosenstock-Huessy, hatte ich eine herzliche Begegnung bei einem Besuch in Aargau/Schweiz.

Freya und Anca wurde beide nahezu 100 Jahre alt – als ob sie das Erbe ihrer Männer so lange wie möglich persönlich weitertragen wollten. Ihre Ausstrahlung war einmalig und unvergesslich. Ihr Erbe grenzenlos.

Als Religionslehrer in Freiburg versuche ich so gut es geht, die Grundgedanken dieser großen Frauen und Männer im Unterricht zur Ausstrahlung kommen zu lassen.

Schlussaufforderung:

Vorliegender Aufsatz darf auf keinen Fall nur „rein akademisch“ besprochen werden. Der Autor bietet eine zweitägige Arbeitsgemeinschaft an, im Rahmen eines ganzheitlichen Miteinander- Redens, Zusammen-Setzens und Miteinander-Wirkens. Gerne im Kaiserstuhl!
Herzliche Einladung!

Literaturhinweise:

Hervorragend und unersetzlich sind alle Mitteilungsblätter/Stimmsteine der Eugen Rosenstock-Huessy- Gesellschaft, Argo-Books, Koerle, 1990 ff.

Ebenso die Homepage der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft und auf amerikanischer Seite: die Homepage des amerikanischen Rosenstock-Huessyfonds

Zu Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock-Huessy: Und doch bleibe ich stets bei Dir

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