Jürgen Müller: 23. August
Im April 1939 veröffentlichte Carl Schmitt sein Buch: „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte, Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht” (Vierte, um ein Personenregister ergänzte Auflage der Ausgabe von 1941, Duncker & Humblot, Berlin) Es basiert auf einem am 1.April gehaltenen Vortrag und stellt ein Konzept vor, in dem die Welt nicht mehr als ein System gleichberechtigter Nationalstaaten besteht, sondern als von „Großräumen“ dominierte Ordnungen, in denen jeweils eine „raumkonstituierende Macht“ das politische Zentrum bildet. Für Europa war dies aus seiner Sicht das Deutsche Reich. Er nimmt dabei Bezug auf die Monroe-Doktrin, die 1823 von US-Präsident James Monroe formuliert wurde und die die westliche Hemisphäre zur Einflusssphäre der Vereinigten Staaten erklärte. Sie forderte, daß europäische Mächte sich nicht in Amerika einmischen, daß sie keine neue Kolonisierung betrieben und daß Amerika den Amerikanern gehört.
Am 23. August 1939 wurde dieses Konzept in die Praxis umgesetzt, indem Deutschland und die Sowjetunion einen Vertrag abschloßen, den „Deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt“, bekannt unter dem Namen „Hitler-Stalin-Pakt”. Beide Staaten sicherten sich gegenseitig zu, keine militärischen Angriffe gegeneinander zu unternehmen und, im Falle einer Verwicklung eines der Vertragspartner in einen Krieg, Neutralität zu wahren.
In einem geheimen Zusatzprotokoll wurde Polen in eine deutsche und eine sowjetische Interessenssphäre aufgeteilt, Estland, Lettland und Finnland sowie Bessarabien (heute Teil Moldawiens) wurden der sowjetischen Einflusssphäre zugeordnet, Litauen, das ursprünglich der deutschen Sphäre zugerechnet war, wurde später im Folgeabkommen der Sowjetunion zugesprochen. Dieses Zusatzprotokoll stellt die entscheidende geopolitische Bedeutung des Paktes dar. In den zwei Jahrzehnten zuvor hatte die Sowjetunion schon mit wichtigen Nachbarn im Westen und Süden (Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Deutschland, Türkei, Persien) Nichtangriffspakte geschloßen, Deutschland darüber hinaus mit Polen und Frankreich.
Am 1. September 1939 erklärte dann die deutsche Reichsregierung, daß sie zum Schutz deutscher Minderheiten in Danzig und dem Korridor militärisch aktiv werde. Friedliche Vermittlungsversuche hätte Polen durch Mobilmachungen und verstärktem Terror beantwortet. Die polnische Regierung fände sich in Abhängigkeit einer nunmehr entfesselten wilden Soldateska.
In seinem Gespräch mit Tucker Carlson schloß sich Vladimir Putin 2024 der damaligen Erklärung der deutschen Reichsregierung an, daß Polen durch Besetzung des Danziger Korridors Hitler und damit den Ausbruch des zweiten Weltkriegs provoziert hätten.1
Die Sowjetunion marschierte am 17. September 1939 in Ostpolen ein. Die anderen baltischen Staaten kamen unter den Einfluß der Sowjetunion, wobei das Memelland schon im März 1939 an Ostpreußen angeschloßen worden war. Im November 1939 begann die Sowjetunion einen Krieg mit Finnland um Gebietsforderungen in der Karelischen Landenge wegen unabdingbarer Sicherheitsinteressen für die Stadt Leningrad. Finnland verlor beim Friedensvertrag im März 1940 ein Teil seines Staatsgebietes.
Charles Lindbergh, Luftpionier, dem 1927 die erste Alleinüberquerung des Atlantik gelang, Träger des Großkreuzes des Deutschen Adlerordens und Sprecher des America First Commit tee, sagte 1940: „Kein Einfluss von außen könnte die Probleme der europäischen Völker lösen oder ihnen gar einen dauernden Frieden bringen. Sie (= die europäischen Völker) müssen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, so wie wir unseres in die Hand nehmen müssen.“ Und weiter: „Ich glaube, dass es für uns von äußerster Wichtigkeit ist, mit Europa zusammenzu- arbeiten. Nur durch Zusammenarbeit können wir die Überlegenheit unserer westlichen Zivi- lisation erhalten … Weder sie [die Europäer] noch wir sind stark genug, alleine die Erde ge- gen den Widerstand der anderen zu regieren. In der Vergangenheit hatten wir mit einem Eu- ropa zu tun, das von England und Frankreich dominiert wurde. In Zukunft haben wir mögli- cherweise mit einem Europa zu tun, das von Deutschland dominiert wird.“
Rosenstock-Huessy reagierte auf diesen Pakt mit einem unveröffentlicht-gebliebenen Essay: The Atlantic Revolution. „I call Atlantic Revolution that chapter of the World Revolution that was opened on May 10, 1940. The World Revolution had become virulent again with the German-Russian alliance. The curve of the Revolution is rather astoundingly parallel to the French. Only, and this is a condition for its understanding, the Revolution of our time exchanges the roles of war and of revolution properly speaking, in the sequence of events. The French Revolution begins with three years of revolution, plunges into 23 years of wars, and ends with a short revolutionary epilogue. Since 1914, the World Revolution begins with three years of the Great War, then starts the Russian chapter of the Revolution, then the Italian, finally the German in 1933, and in 1940, it returns to its origin, in the form of war.”
Gegen Lindbergh beschreibt Rosenstock-Huessy die Herausforderung: „Let us oppose these fallacies with our three tenets: We believe in man´s divinity, gullibility, convertibility, all three. What does this mean? It means that we have faith, love, and hope.
- Our faith says that man can accomplish the impossible, that he can shed his skin, burn his idols, die to his preferences and acquire new ones when he overcomes his worship of his own cleverness.
- Our love says that this New World is stronger in all of us than any political, economical, doctrinal habits to be frustrated by a mental Non possumus. We believe that the complete impotency of the educated classes in this country is not final because we love America, and believe that they love it, too.
- We do hope that inner passion may accomplish, in this Atlantic Revolution, what outward violence had to achieve elsewhere. Rejuvenation of thought, immigration into a new realm of thinking may take the place of the former frontier. Let everybody ask himself every evening: Into what unknown part of human life have I immigrated today?”
Der Hitler-Stalin-Pakt ist für die Länder Ostmitteleuropas der Beginn einer Zeit von Zwangsumsiedlungen und Repressionen, Millionen Menschen in den betroffenen Gebieten wurden deportiert, verfolgt oder ermordet – sowohl durch deutsche als auch sowjetische Besatzung und ihre gehorsamen Helfershelfer. Diese Zeit endete für sie erst 1990/91 mit dem Ende der Sowjetunion. Der Pakt ist bis heute ein Symbol für die Verratspolitik der Großmächte und die Leidensgeschichte der „Zwischenländer“ zwischen Berlin und Moskau.
Die baltischen Staaten wurden von vielen westlichen Ländern nicht als Teil der UdSSR anerkannt – insbesondere die USA und Kanada hielten an der Nichtanerkennung fest. 1991 wurden die baltischen Staaten Teil Vereinten Nationen, Ukraine und Belarus waren bereits Gründungsmitglieder und Finnland trat 1955 den VN bei.
Auf Drängen baltischer sowie anderer osteuropäischer Emigranten wurde seit Ende der 1980er Jahre am 23. August als Black-Ribbon-Day der Opfer der beiden durch Staatsterror und Massenmord geprägten Diktaturen gedacht. 2008 wurde der 23. August von Mitgliedern des Europäischen Parlaments als Gedenktag vorgeschlagen. In den baltischen Staaten ist der 23. August nationaler Feiertag, in Finnland, Rumänien und der Ukraine ein Gedenktag, in Westeuropa findet er wenig Resonanz. Durch das Gedenken an beide Diktaturen wird bei manchen Kritikern eine Gleichsetzung befürchtet: Die Einzigartigkeit des Holocaust werde geleugnet.
Die russische Perspektive hingegen ist anders. Für Rußland begann der zweite Weltkrieg mit dem Überfall Deutschland am 22. Juni 1941 auf die Sowjetunion. Der Sieg über Nazi-Deutschland ist ein neuer Gründungsmythos, der jährlich gefeiert wird. Der Zerfall der Sowjetunion dagegen eine Katastrophe. Putin äußerte sich dazu: „Zunächst einmal muss man anerkennen, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts war.”2 Andrey Gurkov erläutert: „Die Osterweiterung des westlichen Verteidigungsbundes wird von vielen in meiner Heimat doch gerade deshalb so verteufelt, weil sie in ihren Augen eine historische Ungerechtigkeit zementiert: Sie sehen sich um die territorialen Früchte des Sieges über Hitlerdeutschland gebracht. Denn meine Landsleute haben die osteuropäischen Gebiete bis zur Elbe, ganz in den Vorstellungen des 19. und früherer Jahrhunderte, immer als eine legitime Kriegsbeute betrachtet.”3 Memorial, die sich der Aufarbeitung politischer Gewaltherrschaft in der Sowjetunion verschrieben hatte und 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, ist inzwischen verboten und Stalin wird erneut als Sieger im großen vaterländischen Krieg verehrt.
Der Hitler-Stalin-Pakt bleibt ein einschneidendes Ereignis, insbesondere für die Staaten Ostmitteleuropas. Die Ausstellung: “Riss durch Europa” wollte dem Rechnung tragen (Riss durch Europa, Die Folgen des Hitler-Stalin Pakts, Perspektiven aus Ostmitteleuropa, Herausgegeben von Anke Hilbrenner, Christoph Meißner, Jörg Morré, Wallstein-Verlag, 2024).
Ein anderer Aspekt ist mir wichtig. Ein gegenseitiger Nichtangriffspakt scheint auf Frieden gerichtet zu sein, hatte allerdings auch eine strategische Rolle, daß sich der Partner nicht in Kriege des anderen einmischt. Zusammen mit dem geheimen Zusatzprotokoll stellt der Vertrag eine Zusammenarbeit auf Kosten Dritter, Might is right (Gewalt geht vor Recht), dar.
Bei den Dritten führt dies zu einem Vertrauensverlust, der erst mühsam wieder erarbeitet werden muß. Deutschland gelang dies nach dem zweiten Weltkrieg gegenüber seinen westlichen Partnern. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis deutscher Bischöfe spielte für neues Vertrauen, die Aufnahme in den Ökumenischen Rat der Kirchen und die politische Zusammenarbeit in Richtung Europa eine wichtige Rolle.
Auf russischer Seite ist vergleichbares für die baltischen Staten nicht geschehen. Die gemeinsame Zeit in der Sowjetunion wurde rückblickend nicht als Befriedungszeit erfahren. Ohne ein solches Vertrauen sind jedoch gute nachbarschaftliche Beziehungen nicht möglich.
Die Erinnerungstraditionen in Europa sind verschieden und stark von der Geschichte der jeweiligen Länder beeinflußt. Für Ostmitteleuropa läßt sich feststellen, daß der 23. August ein Gedenktag von großer Bedeutung ist.
aus dem Mitgliederbrief 2025-08
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„As the Poles had not given the Danzig corridor to Germany, had went so far pushing Hitler to start World War II by attacking them. Why was it Poland against whom the war started on 1st September 1939? Poland turned out to be uncompromising and Hitler had nothing to do but start implementing his plans with Poland.” https://rev.com/transcripts/tucker-carlson-interviews-vladimir-putin-transcript ↩
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„Zunächst einmal muss man anerkennen, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts war. Für das russische Volk war es jedoch ein echtes Drama. Dutzende von Millionen unserer Mitbürger und Landsleute befanden sich außerhalb des russischen Staatsgebiets. Die Epidemie der Desintegration griff auch auf Russland selbst über.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Wladimir_Wladimirowitsch_Putin#cite_ref-kremlin-2005_99-0 ↩
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Andrey Gurkov: Für Russland ist Europa der Feind - Warum meine Heimat mit dem Westen gebrochen hat, 2025, p.100 ↩