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Rosenstock-Huessy zum Christentum

Eugen Rosenstock-Huessy

„Am nächsten liegt der Vergleich mit einer lebenswichtigen Korrespondenz von heute. Auch da kann es ums Leben gehen. Beider Korrespondenten Schicksal steht auf dem Spiel. Obwohl nur zwei Korrespondenten auftreten, sind wir im Bereich des Soziallebens. Eine echte Korrespondenz gehört nicht in die Literatur oder die Psychologie oder die Biographie: sie ist ein soziologisches Dokument. Merkwürdigerweise ist das bis heute nicht anerkannt. Die Praxis stellt auch die Briefwechsel zur Einzelbiographie. Ich selber habe versucht, dieses Vorurteil zu durchbrechen und so ist mein Briefwechsel mit Franz Rosenzweig über Christentum und Judentum als Sozialdokument gedruckt worden.”
Eugen Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2 Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.380f.

„Keine Macht hat in den letzten drei Jahrhunderten den Kirchen, Religionen, Zionswächtern und Theologen so viel zu schaffen gemacht als eben die Naturwissenschaft. Sie scheint unchristlich und gottesgleichgültig wie keine andere Geistesprovinz. Aber gerade sie entsprang ja in dem Augenblick, da Luther das Monopol der Kirche brach. Schon aus dieser Gleichzeitigkeit möchte man schließen, daß Luthers negative Tat, mit der die Christenheit mündig neben die Kirche gesetzt ist, auch christliche Ereignisse auf dem Gebiet des außertheologischen Geisteslebens parallel gehen möchten. Und so ist es in der Tat: Der Gotteserkenntnis des Mittelalters kann eine Weltforschung in der Neuzeit folgen, weil die Läuterung durch die Theologie des Menschen Seele aus der Welt endgültig herausgerissen hatte. Zum ersten Mal war nun eine völlig außermenschliche und unmenschliche Welt vorhanden, der sich der Menschengeist ohne Gefahr und in theologisch verbürgter Freiheit gegenüberstellen konnte. Die Welt wird zum bloßen Gegenstand des Menschen, denn auch der Laie ist nun unverlierbar an Gott gekettet und fürchtet die Welt nicht mehr, wie der kosmisch-dämonisch gebundene Mensch früherer Epochen. Die Naturgesetzforschung der letzten vier Jahrhunderte ist eine Frucht am Baume des Laien-Christentums, undenkbar in der hellenisch-römischen Welt, die erste Weltüberwindung einer von dem Vorbild der Kirche bezwungenen und aufgebrochenen, einer christlich werdenden Welt.“
Eugen Rosenstock-Huessy, Heilkraft und Wahrheit. Konkordanz der politischen und der kosmischen Zeit, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk 1952, S.119.

„Der Glaube ist kein sanftes Ruhekissen für die auf der Offenbarung behaglich Ausruhenden, als ob sei ein für allemal nichts mehr über das Verhältnis von Welt zu Gott zuzulernen brauchten. Schon Luther hat ja die alte Lehre von den zwei Schwertern erheblich abgewandelt, indem er unter Kirche nicht die sichtbare, sondern die unsichtbare verstanden wissen wollte. Und der Lutheraner Hirsch sollte die Tatsache auf sich wirken lassen, daß eben doch ein ganzes Jahrhundert, das neunzehnte, diese Lehre einfach vergessen hat: Katholiken und Lutheraner ebensowehr wie die Kinder der Welt! Die Lehren z.B. eines de Maistre, eines Richard Rothe ebenso wie die Karl Marxens wissen nichts mehr von der jahrtausendalten Dialektik. Alle drei – und durch ihre Nennung werden alle originalen Denker ihres Jahrhunderts mit getroffen! - suchen sich der Zweischneidigkeit der Wirklichkeit zu entledigen. Alle drei greifen nach einem einzelnen Ordnungsprinzip, auf das die gespaltene Welt gebaut werden soll: bei de Maistre Kaisertum und Papsttum, bei Rothe Christentum und Welt, bei Marx die Staaten und die Gesellschaft. All diese Einschwerterlehren sind Irrlehren.“
Rosenstock, Eugen, Die Welt vor dem Blick der Kirche, in: Kirche und Wirklichkeit. Ein katholisches Zeitbuch, hrsg.v. Ernst Michel, Jena: Eugen Diederichs Verlag 1923, S.229/230.

„Nicht der internationale Klerus genügt heute, sondern ein internationales Laienkorps tut not, um die Bestie Mensch wieder an die Kette zu legen.“
Eugen Rosenstock, Bolschewismus und Christentum, in: ders., Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.154.

„Aber sicher ist eins, kein anderes Land ist so berufen, die Haupttruppe in diesem Heer zu stellen, wie Deutschland, an der Wasserscheide gelegen zwischen den Herden des oberflächlich-optimistischen Westlertums und des slavischen Bolschewismus. Wenn irgendwo, ist natürlich bei uns das Erlebnis tief und allseitig genug, um die Wiedergeburt zu erzwingen.“ Eugen Rosenstock, Bolschewismus und Christentum, in: ders., Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.155.

„Friedrich der Große soll einmal im Scherz einen Pfarrer gefragt haben: es gäbe doch eigentlich keinen unwiderleglichen Beweis für das Christentum. Da habe der Pfarrer schlagfertig erwidert: O doch, Majestät, die Juden! Die Durchwachsenheit der Menschheit mit einheitlicher Sendung und einheitlichem Geiste, die ins Bewußtsein erhobene Einheit des Menschengeschlechts, sie verkörpert sich in nichts anderem als in den beiden unbegreiflichen Mächten des jüdischen Volkes und der christlichen Kirche. Es gibt nichts Schlechtes und nichts Gutes, das man nicht beiden nachsagen könnte und nachgesagt hat. Der Nationalismus und Paganismus des 19. Jahrhunderts hat sowohl das Volk Judas wie die Kirche zu zerstören gehofft. Alles, was irdisch an beiden ist, hat er zerstört und wird er zerstören. Der Untergang des Abendlandes ist unvermeidlich geworden. Die „dem Geist der mütterlichen Landschaft“ Europa assimilierten Juden und die ihm assimilierten Kirchen werden beide jetzt aussterben und zugrunde gehen mitsamt der nationalen Kultur, die sie verführt und aus dem großen Zusammenhang des Menschengeschlechts herausgelöste hat. Spenglers „Untergang des Abendlandes“ ignoriert beides: die Kirche und die Synagoge, die christliche Ära und den ewigen Juden. Welk wie die Seele des Abendlandes wirkt sein Buch darum trotz aller Intuition. Denn weil Judentum und Kirche die beiden einzigen unsterblichen Figuren der Weltgeschichte darstellen, so können auch nur sie die beiden Zeitrechnungen hergeben, die imstande wären, jene Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte zu offenbaren, die Spengler, der sie beide verleugnet, schattenhaft zu haschen sucht.“
Eugen Rosenstock, Der Selbstmord Europas. (April 1919), in: Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.188ff.

„Der wirklich Einzelne, der Christ, scheidet daher, soweit er sein Christentum ernst nimmt, aus der Sorge für diese Welt, in allen Epochen des Christentums aus der Welt aus. Der Christ streikt in Politicis. Er überläßt sie den anderen.“
Eugen Rosenstock, ABC der Politik, in: ders., Abbau der politischen Lüge (= Volk im Werden, Schriftenreihe der Rhein-Mainischen Volkszeitung), Frankfurt am Main: Verlag der Carolus Druckerei 1924, S.9.

„Was tun die Dynastien? Geist brauchen sie: denn der des Stammes ist zu eng und eigener Bildungen unfähig. Der Kaiser zuerst sieht sich gezwungen, selbst Geist, zivilen Staatsgeist als Kirchengeistersatz aus eigenen Mitteln zu entfalten. Dies ist der Ursprung Bolognas, der Mutter aller Rechtswissenschaft um Abendland. Bald tun es die anderen Dynastien der Kaisergewalt nach. Alle bemühen sich um den Geist des kaiserlichen Rom (Corpus juris!). Denn einen eigenen Geist hatten diese reinen Erb- und Blutsgewalten, die Land und Leute wie ihr Hausgut teilten und verkauften, eben nicht. Nicht umsonst hatten sie sich anbetend einst der Kirche in die Arme geworfen. Von der Geistesarmut und Seelenangst dieser bayrischen, schwäbischen, fränkischen Stämme und ihrer Häuptlinge vom 4. bis 10. Jahrhundert gibt einen guten Begriff Heinrich Böhmers „Das germanische Christentum“ (1913).“
Eugen Rosenstock, Volkskönig oder Volksordnung?, in: ders., Abbau der politischen Lüge (= Volk im Werden, Schriftenreihe der Rhein-Mainischen Volkszeitung), Frankfurt am Main: Verlag der Carolus Druckerei 1924, S.72.

„Denn das Christentum kam nur deshalb in die Welt, um die Scheitelhöhe der Namen, in denen Heil ist oder Unheil, über die Augenhöhe unserer Worte und die Bordschwellen unserer Zahlen für jeden Geschichtstag zu erhöhen. In Gottes Namen soll alle bloßen Zahlen und Worte der Teufel holen. Wo nämlich Worte und Zahlen allein gelten sollen, da drückt man alsbald auch die Worte auf das Niveau der Zahlen hinunter. Die Worte werden dann nämlich „definiert“. Man schnitzt Begriffe. Der Begriff sucht aus dem Wort das Zahlennächste herauszupressen. Aus den hundert Bedeutungen eines um Gedicht lebenden Wortes quetscht der Begriff ein einzige aus.“
Eugen Rosenstock-Huessy, Die Rasse der Denker oder der Schindanger des Glaubens, in: ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 1. Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1963, S.648ff.

„Das aber haben sogar die Wörterbücher vergessen: der biblische Ausdruck „Äon“ wird fehl gedeutet. Im Kittel, dem berühmtesten aller gegenwärtigen Wörterbücher, ist das Wort vom „Herrn der Äonen“ falsch übersetzt. Die Engländer haben es noch schlechter; in der englischen Bibel ist aus dem Herrn, der die Weltalter öffnet und schließt und der damit über Petrus steht, welcher bindet und löst, ein Götze geworden, der eine Welt ohne Ende, „world without end“ regiere, also ohne die Absage an die alten und ohne die Ansage der neuen Zeiten. Aber der Herr spricht jeweils sein Gericht aus über ganze Zeitalter. Und uns ginge doch das ganze Christentum gar nichts an, wenn ein zeitloser Gott dort angerufen würde, statt eines, der in die Zeiten eintritt. Von Ewigkeit zu Ewigkeit bedeutet also von Weltzeit zu Weltzeit! Karl Barth und die dialektische Theologen behaupten, Gott sei nur ein einziges Mal erschienen. Da wären wir Zeitweiler ja schlecht dran. Denn wir müssen wissen, was die Stunde geschlagen hat; wir müssen die Toten ihre Toten begraben lassen. Wie können wir das, wenn Gott nicht die Epochen stiftet? Um dieses sein jeweiliges Stiften herum sind meine „Europäischen Revolutionen“ geschrieben. Deshalb rührt sie kein Historiker an. Denn die offizielle Geschichtswissenschaft überträgt den Geschichtsprofessoren die Epochenbildung und die Epochenänderung. Dagegen hat schon Tholuck protestiert. Aber die Aufklärung, die aus der Geschichte eine Naturwissenschaft machen möchte, unterscheidet in ihrer Quellensuche nicht mehr die einzelne Tatsache und die Epoche, jenen Umbruch in der Zeitrechnung, der uns Zukunft und Vergangenheit zuspricht. Grauenhaft entwickelt sich das benannte Leben hörender, vernehmender, vernünftiger Menschen als eine allmähliche Folge ohne Unterbrechung. Aber ohne Bruch keine Geschichte. Sogar Thomas Mann’s „Zauberberg“ brauchte genau wie Jacobsens „Niels Lyne“ den Krieg, um der Dekadenz ein Ende zu bereiten. Dies Abstellen auf den Krieg war Mann’s Deus ex Machina. Krieg machen Epoche, auch für Historiker! Das war billig, aber wahr. Menschliches Leben gibt es nur als ausdrückliches Leben. Die einzelnen Behauptungen der Mitlebenden kann die Quellenuntersuchung der Historiker widerlegen. Aber die Epoche der Französischen Revolution oder des Weltkrieges erklärt niemals der gelehrte Historiker, sondern wie alle Liebeserklärungen und Kriegserklärungen wird sie von denen ausgerufen, die an ihr sterben oder für sie sich aufopfern.“
Eugen Rosenstock-Huessy, Die Zeitweiligkeit der Sprache, in: ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, Bd.1, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1963, S.695/696.

„Nach zwei Weltkatastrophen ist von den Heiden nicht viel zu hoffen. Aber das riesige Feld des Namenschristentums innerhalb unserer eigenen Kirchen rückt in das Blickfeld. Pfingsterfahrung oder -kraft wird nun von der Christianisierung der „Christen“, Katholiken oder Protestanten abhängig. Während des zweiten Weltkrieges ließ der Papst Protestanten und Juden zum Vatikan zu, ohne ihre „Bekehrung“ zu verlangen oder zu erwarten. Damit demonstrierte er, daß er Christ und nicht bloß Katholik sein muß.“
Eugen Rosenstock-Huessy, Pfingsten und Mission, in: ders., Das Geheimnis der Universität. Wider den Verfall von Zeitsinn und Sprachkraft. Aufsätze und Reden aus den Jahren 1950 bis 1957, hrsg.v. Georg Müller, Stuttgart: W.Kohlhammer Verlag 1958, S.

„Als Obrigkeitskirche ist das Christentum nach Deutschland gekommen, als Verwaltungsmittelpunkte der fränkischen und deutschen Herrscher sind seine Bistümer gegründet worden. Als Erbstifter der adligen Sippen entstanden die Klöster in den verschiedenen Stammlanden. Als Kulturkirche und als Gesetzesreligion kam die die neue Lehre ins Land. Auch später, als die romanisch-fränkische Kulturverwaltungskirche durch die Geistes- und Rechtskirche der Scholastik abgelöst wurde, nahm Deutschland lange Jahrhunderte nur abgeschwächt an dieser Wandlung teil, weil ihm Stätten wie Bologna, Oxford, Paris und Orleons fehlten. Die Reformation ist auf diese Zurückgebliebenheit zum guten Teil zurückzuführen. In einem kurzen Sprung versuchte damals Deutschland aufzuholen, was es seit 1100 als Träger des kriegerischen Imperium geistig und kirchlich versäumt hatte. Deshalb nun seit dem fünfzehnten Jahrhundert die zahllosen Universitäten in Deutschland, deshalb die Bedeutung des deutschen Professors und der „Wissenschaft“ - eines Wortes, das so Engländern und Franzosen fehlt - für die deutschen Reformationsstaaten.“
Eugen Rosenstock, Religio depopulata, in: ders. und Joseph Wittig, Das Alter der Kirche, Bd.III, neu hrsg. von Fritz Herrenbrück und Michael Gormann-Thelen, Münster: agenda Verlag 1998, S.111/112.

„Wenn wir dieser Wissenschaft die Bezeichnung Ökodynamik geben, so legen wir den Nachdruck auf zwei Fakten: daß die Menschheit ständig Häuser baut, d.h. daß der Mensch den Raum aufgliedert, und daß die Häuser der Menschheit vergänglich und vorläufig sind. Wir stellen uns in Gegensatz zu dem traditionellen Gesetz der Nationalökonomie, nach dem es zum Wesen der Regierungen, Kirchen und Körperschaften gehört, ihre Häuser für eine möglichst lange Dauer zu bauen. Kein Staat lebt ewig. Kein Gesetz eines Staates gilt ewig. Wir erklären, daß bei solchen Gebäuden die lange Dauer eine Ausnahme bildet, und erkennen, daß es notwendig ist, alle Gründungen der Gesellschaft einer ständigen Revision zu unterziehen. Wir nehmen an, daß es für die verschiedenen Häuser eine optimale Zeitspanne gibt. Wenn wir mit der Fabrik als vergänglichster Häusergattung in der Gesellschaft anfangen, hoffen wir, den zeitweiligen Charakter jedes Hauses unmißverständlich beweisen zu können. Natürlich sind nicht alle so kurzlebig wie die Fabrik. Mount Vernon wird noch viele Generationen an George Washington gemahnen. Und es ist kein Luxus, daß die Sankt-Peters-Kirche in Rom so alt ist. Ohne die Kontinuität, die sie darstellt, wüßten wir nichts vom Christentum. Der Unterschied zwischen der alten Bilanz der Gesellschaft und derjenigen der Ökodynamik kann als einfache Richtungsänderung definiert werden. Die politische Ökonomie nahm die stabilen Formen der Regierung in Staat und Kirche zum Ausgangspunkt. Sie untersuchte die Verfassung von Imperien und Republiken, blickte mit Entsetzen auf den Niedergang und Fall dieser großen Mächte und gab nur zögernd zu, daß Wandel, Zusammenbruch und Tod von Institutionen unvermeidlich sind. Die Ökodynamik dagegen geht von Formen aus, die vom Tod gezeichnet sind. Sie fürchtet sich nicht, den raschen Einsturz menschlicher Bauten ins Auge zu fassen. Sie beginnt mit der alten Frage: Quousque tandem? Wie lange noch? Das ist ihr Schlüssel zum Labyrinth der zeitweiligen Formen des Menschen.“
Eugen Rosenstock-Huessy, Der unbezahlbare Mensch, Berlin: Käthe Vogt Verlag 1955, S.75ff.

„Geschehen tun alle Dinge im Wort. Das sind ja uralte Wahrheiten. Die ganze Bibel ist voll davon. Aber natürlich, es gibt sehr wenige Leute, die heute noch Christen sind. Was ich Ihnen sage, ist die Urwahrheit des Christentums. Das Christentum erzählt die Heilsgeschichte, die Geburt Christi in Bethlehem und die Kreuzigung, weil diese vier Sätze gelten: daß der Mensch ins Leben gerufen werden muß; daß der Mensch ins Leben ruft – das hat Jesus sein ganzes Leben lang getan -; daß der Mensch zum Tode verurteilt – er hat ja Jerusalem und das alte Israel zum Tode verurteilt – und daß er zum Tode verurteilt wird – und da hat er es hingenommen als die unausweichliche Folge seiner Menschlichkeit. Und er hat es in einer so absoluten Weise übernommen und unternommen, daß es seitdem vor uns allen steht als das Eintrittskreuz in die Wirklichkeit.“
Eugen Rosenstock-Huessy, Die Gesetze der christlichen Zeitrechnung. Gastvorlesung an der theologischen Fakultät der Universität Münster/Westfalen Sommersemester 1958, hrsg.v. Rudolf Hermeier und Jochen Lübbers, Münster: agenda Verlag 2002, S.52ff.

„Dies sind alles die alten Lehren, die Ihnen vielleicht sehr vergilbt erschienen sind. Aber bei der Betrachtung der Zeit muß sich jeder Mensch entscheiden, ob er in einer abstrakten Zeit lebt oder in seiner Zeit. Heute besteht das Christentum nicht darin, daß man in die Kirche geht, davon bin ich fest überzeugt, oder daß man sich zu einer Konfession bekennt, sondern darin, ob man den Mut hat, zwischen unserer Zeit, der einen einzigen Geschichte des Menschengeschlechts, und der abstrakten Zeit der Physik den Schnitt zu legen. Wo Sie hingehören, bestimmt, ob Sie Heide sind oder Christ. Wer in unserer Zeitrechnung lebt, ist Christ, und wer vor dieser Zeitrechnung denkt, zu denken sich bemüht, wie die Philosophen zum Beispiel, der ist nicht Christ. Da kann er sich auch christlicher Philosoph nennen, das nützt ihm gar nichts. Die Entscheidung, ob man sich der Zeit als einer einzigen, einmaligen Geschichte des Menschengeschlechts zu bemächtigen wagt, oder ob man eine deutsche Geschichte heute und eine französische unterscheidet, eine Wirtschaftsgeschichte und eine politische Geschichte und eine Religionsgeschichte: das unterscheidet heute die Menschen.“
Eugen Rosenstock-Huessy, Die Gesetze der christlichen Zeitrechnung. Gastvorlesung an der theologischen Fakultät der Universität Münster/Westfalen Sommersemester 1958, hrsg.v. Rudolf Hermeier und Jochen Lübbers, Münster: agenda Verlag 2002, S.81.

„Der Ausdruck, daß die Gesellschaft die Tochter der Kirche sei, ist also ein wohl bedachter und fügt vielleicht hier in dieser letzten Stunde für Sie das Gesamtbild dieser christlichen Zeitrechnung erst ganz zusammen. Wenn Achtzehnhundert vor Christi die Väterlichkeit Gottes offenbar geworden ist, daß der Häuptling nicht der Häuptling seines Stammes, sondern der Vater aller Völker werden muß, und wenn jedes Volk, das seitdem missioniert worden ist, ein neuer Isaak ist, der nicht geschlachtet zu werden braucht – das ist nämlich ungefähr bei der Bekehrung so der Fall, daß mit jedem Stamme, der sich zum Christentum bekehrt, ein Menschenopfer gespart wird und Leben an die Stelle des Todes tritt -, dann würden Sie sich auch nicht wundern, daß die christliche Offenbarung in ihrem Sieg über die Menschheit, über die zerstreuten Völker, heute eine Stelle erreicht hat, wo sich dies Menschengeschlecht als Ganzes betroffen fühlen kann: Die Welt ist vollständig geworden, der Planet ist rund geworden. Die menschliche Gesellschaft ist der Ausdruck dafür, daß die Teilung in Staaten und der Missionsweg der Kirche heute ergänzt werden durch ein Echo von der Peripherie, von den Töchtern und Söhnen der Menschen her, die ja eben sich zum ersten Male vorfinden auf einem endgültig vollständigen Gestirn.“
Eugen Rosenstock-Huessy, Die Gesetze der christlichen Zeitrechnung. Gastvorlesung an der theologischen Fakultät der Universität Münster/Westfalen Sommersemester 1958, hrsg.v. Rudolf Hermeier und Jochen Lübbers, Münster: agenda Verlag 2002, S.512f.

„Früher hat man von Himmel und Erde gesprochen und gemeint, der Himmel ist von Sternen erfüllt, und die Erde ist da unten eine Scheibe und irdisch. Das ganz Große an der augenblicklichen Weltenwende ist ja, daß die Erde zum Planeten avanciert ist: Die Erde selbst ist ein Stern! Sie können sich gar nicht so schnell vorstellen, was das für eine wirkliche Revolution ist, denn wenn die Erde ein Stern ist, dann gehört sie ja in den Himmel! Das ist das ganze Problem. Wer das durchdenkt, der kann das Vaterunser neu verstehen, und der begreift, daß Jesus der erste Mensch auf Erden war, der die Erde als einen Stern behandelt hat. Soweit wir Christen sind, behandeln wir die Erde als einen Planeten, und soweit wir die Erde als Planeten behandeln, sind wir vom Christentum angesteckt unter Eid, ob wir das wissen oder nicht! Alle Menschen sind heute in diesem Sinne christlich.“
Eugen Rosenstock-Huessy, Die Gesetze der christlichen Zeitrechnung. Gastvorlesung an der theologischen Fakultät der Universität Münster/Westfalen Sommersemester 1958, hrsg.v. Rudolf Hermeier und Jochen Lübbers, Münster: agenda Verlag 2002, S.513.

„Der philosophische Humanismus und Idealismus der naturwissenschaftlichen Neuzeit hat sich also zwar von der Kirche emanzipieren können. Aber indem er die Juden in sein „Europa“ hineinriß, hat er sehr gegen seinen Willen neben der heidnischen Antike auch die jüdische lebendig machen müssen! Nicht nur die Griechen und Römer, auch die Juden der alten Welt sind auferstanden, und damit ist der erneute Triumpf des Erfüllers der Antike, Christi, für unsere Tage vorbereitet und unvermeidlich gemacht. Denn mag auch die Judenemanzipation nur den Juden im Fleisch gemeint haben, eben dies fleischliche Dasein der Juden ist das eindringlichste Zeugnis für die Wirklichkeit und Wahrheit des Christentums, das sich denken läßt. Am jüdischen Volke zeigt sich immer wieder, daß Christentum keine Philosophie ist, sondern eine volksbildende Macht, die aus den heidnischen Nationen, aus Gog und Magog immer neu das Volk Gottes herausformen will und wird.“
Eugen Rosenstock, Stahl, Gambetta, Marx. Drei europäische Juden, in: ders., Abbau der politischen Lüge (= Volk im Werden), Frankfurt a.M.: Verlag der Carolus-Druckerei 1924, S.66.

„Das es sich um einen zeitgenössische Diskussion handelte, zeigt wie immer instruktiv Max Weber: Da hat Professor Tönnies die Einfachheit der der Zustände des agrarischen Mittelalters verantwortlich gemacht für die Art der Entwicklung des mittelalterlichen Christentums und hat hervorgehoben, daß auf dem Boden der Städte die Kirchenauffassung - ich vereinfache das, was er gesagt hat, wohl mit seiner Zustimmung etwas, ohne es, glaube ich, zu verfälschen - durchlöchert wurde, teils zugunsten eines rein weltlichen oder wenigstens zur reinen Weltlichkeit sich entwickelnden Rationalismus, teils zugunsten des Sektenprinzips. Demgegenüber ist doch festzustellen, daß die Machtstellung des Papsttums grade, und keineswegs nur politisch, auf den Städten ruhte. Im Gegensatz zu den Feudalgewalten standen die Städte Italiens zum Papst. Die Zünfte Italiens waren das katholischste, was es überhaupt gegeben hat in der Zeit der großen Kämpfe. Der heilige Thomas und die Bettelorden waren gar nicht möglich auf einem anderen Boden als auf dem der Städte, denn gerade weil sie vom Bettel leben, können sie nicht von Bauern leben, der den Bettler zur Türe hinausweist.“
Max Weber, Debattenbeitrag, in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages. Reden, Vorträge und Debatten, Tübingen: J.C.B.Mohr(Paul Siebeck) 1911, S.197ff.