Logo Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft Unterwegs zu einer planetarischen Solidarität Menü

Wim Leenman: Wie bestimmend ist Rosenstock für das Rosenstock-Huessy-Huis

Stimmstein 2, 1988

Wim Leenman: Wie bestimmend ist Rosenstock für das Rosenstock-Huessy-Huis?

Wenn Gäste und Besucher des Rosenstock-Huessy-Hauses in Haarlem mich fragen, wie wir dazu kamen, das inzwischen achtzehn Jahre alte Haus zu gründen, lautet die fast stereotype Antwort: Wenn wir Eugen Rosen-stock-Huessy nicht begegnet wären, hätten wir höchstwahrscheinlich nie damit angefangen. Er war es, der uns so verrückt gemacht hat! Die Begegnung mit diesem Manne hat uns damals so gebannt, daß wir deswegen unsere Häuser und Arbeitsstellen verließen. Wenn man eine erfahrene Lebensbahn unter der Gewalt eines Mannes, unter dem Eindruck seiner Entdeckungen, gefesselt durch seine Sprachkraft, verläßt und daraufhin ein Haus in seinem Geist zu gründen versucht, dann muß da schon eine Bindung zwischen dem, der solche mitreißenden Wahrheiten aufdeckt, und denen, die dem Gehör geben, bestehen.

1. »Rosenstockianer« oder …?

Ist diese Verbindung vergleichbar mit einem Menschen, der z. B. Immanuel Kant in allen Einzelheiten studiert hat und deswegen Kantianer genannt wird? Oder, wenn’s Hegel betrifft, ein Hegelianer? Waren, sind wir »Rosenstockianer«? Hat Rosenstock dieselbe Bedeutung für uns wie Hegel oder Kant für andere? Oder ist unsere Verbindung eher zu vergleichen mit einer Waldorfschule und dem Einfluß Rudolf Steiners? Ich stelle diese Frage noch zurück in der Hoffnung, es findet sich darauf eine Antwort, wenn wir versuchen, uns Rechenschaft über unseren Schritt zu geben. Der Schritt: als Leute, die mit der Person Rosenstocks und seinen Werken in Berührung gekommen waren, eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft gründen. Und die sich dessen bewußt sind, daß sie ohne diese Begegnung diesen Schritt nicht gemacht hätten. Vielleicht kommen wir hier dem Unterschied zwischen einem Neokantianer und uns, die durch Rosenstock in Bewegung geraten sind, auf die Spur. Der Philosoph in uns, der »Neukantianer« denkt sich heraus, versucht mit Hilfe des Denkens sein Schießpulver trocken zu halten. Seine Weltanschauung soll ihm Halt geben. So kann er den Kopf über Wasser halten. Bei uns kamen, wie man von einem verliebten Menschen so schön sagt, er sei von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, auch Hände und Füße dazu. Was waren für uns die Elemente aus Rosenstocks Sprechen und Werken, die zu diesem Auszug besonders beigetragen haben?

2. Was hat uns so umgeworfen?

An erster Stelle brachte er uns bei, daß unser eigenes Leben als Baustein fürs Ganze gemeint ist. Das Ganze, angedeutet als der Prozeß, in dem unsre menschliche Bestimmung im Laufe der Geschichte in den einen großen Menschen mündet. Zusammen bilden wir durch die Jahrhunderte und Millenia den ganzen Menschen. Aber nicht wie die Evolutionstheorie uns lehrt. Da stehen wir genauso abseits wie in der Philosophie und Theologie. Das geduldige Abwarten, bis über den Kopf hinweg, unabhängig von unseren Beiträgen, von unserer Glaubensstärke, die mehr oder weniger vorprogrammierte menschliche, immerhin Bestimmung zustande kommt — jenes Abwarten ging uns verloren. Geschichte, bis dahin für uns fast allgemeines Wissen, Geschichte als solche, wurde mit unserer eigenen kleinen menschlichen Geschichte verknüpft und bekam dadurch eine völlig andere Bedeutung. Selbstverständlich: Geschichte als lehrbares Objekt voller Tatsachen und geschichtemachender Namen existiert auch. Wir können Geschichte studieren und zugleich uns daraushalten. Aber ob du selbst einbezogen bist, ob du durch Ja und Nein Geschichte mit ins Leben rufst, das ist nun eben another story! Wir Menschen sind Zeitwesen, die herbeigerufen werden, um die Zeiten zu erfüllen, zu gestalten.

Seine Lehre, in der er dem Imperativ und dem Vokativ die primäre Rolle als ins-Leben-Rufer zugibt und nach welchen der Rest unseres Handelns erst folgen kann, fand in uns Gehör. Die Zeit blieb nicht länger Abstraktum; er lehrte uns, daß die Zeiten benannt werden müssen; erfüllt werden; sie rufen nach ihrem charakteristischen Namen; und . . . wir sind dabei mit im Spiel. Es wurde mir klar, daß es viel ausmacht, ob man im 19. oder im 14. Jahrhundert geboren wurde. Vor oder nach dem Zweiten Weltkrieg. Nicht nur wegen der verschiedenen Umstände, sondern viel mehr wegen des besonderen Beitrags, den jede Zeit den Lebenden abfordert.

Wir besannen uns auf die Aufgaben, die nun gerade für uns in dieser Zeit Lebende gelten. Und wir kamen zur Schlußfolgerung, daß unser Leben, wie wir’s bis dahin gelebt oder aufgefaßt hatten, für die neu entdeckte Wirklichkeit nicht ausreichte. Rosenstock half uns, hinter unserer Existenz die Wichtigkeit der Geistesstunde zu entdecken. Wir konnten uns nicht länger verschanzen hinter derartigen Lügen wie: »es gibt nichts Neues unter der Sonne«. Was gestern gut war und noch unter dem Zenith einer unter Zeitspanne stand, die Mitte des »Tages« verbürgte, erbleichte vor der Gewalt des neuen Anrufs, herüberkommend aus einer neuen Ära, die geboren werden will und nach Hebammen, Geburtshelfern ruft.

3. Jenseits der alten Heimstätten

Ängstliche Fragen drangen in uns durch alles, was geschah, besonders um den Weltkrieg II und seine Folgen herum. Vieles, was gestern noch vertraut und unsere Behausung war, kam uns abhanden. Und was uns oft als Chaos und Leere vorkam, vermochte Rosenstock zu durchleuchten als uns aufrufende Vorgänge, neue Wege einzuschlagen. Wege jenseits von Welten, Gewohnheiten, Vorstellungen. Am eigenen Leibe erfahren, daß andere Zeiten angebrochen sind, das veranlaßte uns aufzuhören, und aus diesem Hören wuchs unsere Bereitschaft aufzubrechen. Aber den Ansatz, den Durchblick für notwendende Initiative verdankten wir der Begegnung mit Rosenstock.

Er lehrte uns, wie wir als Menschen an der Schwelle des Dritten Milleniums stehen und deswegen aufgerufen werden als Planetenbewohner zu reifen, damit eben die Aufgaben von dort her uns beschäftigen, statt die gestrigen, den status quo aufrecht zu halten. Andere nannten diese Unumgänglichkeit »one world or none«. Diesen Einfluß Rosenstocks auf uns finden wir in der Zielsetzung des Rosenstock-Hauses. Sie lautet:

Was für Rosenstock schon im Weltkrieg I galt, durchdrang uns erst nach Weltkrieg II, ein halbes Jahrhundert später. Für ihn war das Zeitalter, in dem das menschliche Leben wie selbstverständlich durch den Staat, die institutionalisierte Kirche und die wertfreie Wissenschaft geordnet war, damals schon abgeschlossen. Was ihm am Anfang dieses Jahrhunderts, in der Leere die entstanden war, weil die obengenannten Institutionen sich überlebt hatten vor Augen stand, war eine Universität für alle Ränge, Stände und Klassen, eine Gemeinschaft, die für den vollständigen Menschen mit Kopf und Herzen und Hand Raum schaffte.

4. Das Zurückgewinnen der Seele, und über den vollständigen Menschen

Da sind die Aussagen aus »Der unbezahlbare Mensch« uns wichtig geworden. Rostenstock hat uns in diesem Buch das Geheimnis der Seele wieder beigebracht. Trotz meines Pfarrerseins war mir das Wort Seele nur noch eine Andeutung eines menschlichen Wesens. In der holländischen Sprache heißt es: das Schiff hat 60 Seelen an Bord. Die starke Kraft in uns, die sich meldet und über uns selbst hinaus lebt, die uns die Gewißheit gibt, nicht zur Umwelt verdammt zu sein, das ist die Kraft der Seele, frei und unberechenbar. Diese Kraft war aus dem Wort Seele verschwunden. Die Seele ist es, die all diese lästigen Veränderungen der Existenzformen in dieser Welt und Bewußtseinsinhalte überdauert. Der Mensch hat viele Erscheinungsformen in dieser Welt, aber nur eine Seele. Die Seele ist selbst keine äußere Form, sie ist die Kraft im Menschen, die Tod und Wechsel überwindet und aus Katastrophen und Verwüstung Sinn münzt.”1 Sie ist unser Bootsmann, der den Kahn über die Strudel steuert.

Wie wichtig war diese Wiederentdeckung der menschlichen Seele für uns, daß wir uns selbst in den Jahren, wo wir selber so bewegt lebten, verstehen konnten. Unser Umbruch hatte doch mit diesen Kräften zu tun? Unsere Unruhe bekam eine beruhigende Deutung. Darum haben wir es auch gewagt, in unserer Zielsetzung das nicht geläufige Wort »Zielsrevalidatie«, Seelenheilung, oder das Wieder-gesund-machen-der-Seele zu wählen. Gerade diese Kraft in uns zu stärken, daran horchen zu lernen, damit die großen elementaren Kräfte sich in unserem Lebenslauf verwirklichen konnten, stand uns vor Augen. Noch einmal mit Rosenstocks Worten: „Der Lebenslauf eines echten menschlichen Wesens umschließt ein Geheimnis, das tiefer ist als die Erfüllung eines Ideals oder eines philosophischen Systems. »Reifsein ist alles.« Jeden Schritt im Leben zur rechten Zeit tun, das ist die größte persönliche Aufgabe des Menschen, die Aufgabe, die seine Arbeit und seine Leidenschaften ineinander verschränkt, seine natürlichen Bedürfnisse und seinegeschichtliche Rolle miteinander verkettet.”2 Das alles lauschten wir dem Wort Psychologie nicht ab! Sorgt der Psychologe und der Psychiater nicht dafür, das Normale so schnell wie möglich wieder herzustellen? Und sowie die Kraft der Seele uns selber auf neue Wege geführt hatte, so glaubten wir, derartige Verwandlungen seien auch für andere festgefahrene Menschen möglich. Könnten wir für das Aufwecken oder Vernehmen dieser Kräfte einen Übungsplatz gründen? Auch andere auf ein Jahr zu nötigen, mit einzusteigen in das riskante aber eben deswegen lebenweckende Wagnis der Seelenheilung?

Zugegeben: die Behörden haben bis jetzt noch nicht verstanden, was wir damit meinen. Höchsten geben sie uns the benefit of doubt.

Aber es ging uns um mehr. Auch die weitergreifende Einheit der vielen unterschiedlichen Menschen, Auf-einander-hören, was noch nie zusammen gesehen war, oder die Entdeckung, wirklich zusammen zu gehören auf Grund der Bereitschaft auf einander zu hören, stand uns vor Augen. Denn die Seele ist keine individualistische Angelegenheit, sondern die Kraft uns zu wagen verlieren und damit einzutreten in neue Verbände, Körperschaften. Nach dem Sieg des einen Gottes, wie Rosenstock in »Des Christen Zukunft« schreibt, über die vielen Götter, nach der Erstehung der einen Erde aus den vielen unverbundenen Ländern, ist nun die Zeit für das Heranwachsen des einen wahren Menschengeschlechts, dank oder trotz zahlloser tiefer Unterschiede unter uns Menschen, angebrochen. Zweimal setzte Rosenstock sich ganz für solche Übungsplätze ein. 1928 für das Arbeitslager in Löwenberg in Schlesien und im Jahre 1939 für das Camp William James in den USA. Er schaffte einen Raum, in dem viele, die von Natur aus nicht zu einer Gruppierung gehörten, solidarisch miteinander leben lernen konnten. Gelehrte, Studenten, Industriearbeiter, Bauern und Dorfbewohner brachte er für die gemeinsamen Aufgaben zusammen. Und für viele wurden diese relativ kurzen Perioden zu einer einschneidenden Lebenserfahrung.

Für uns wurden diese beiden Versuche, an einer anderen Gesellschaft zu bauen, sicher auch die Isolierung der Universität zu durchbrechen, Anlaß und Ansatz, uns auf unsere heutigen eigenen Beiträge zu besinnen, z. B. in wieweit das Institut der Privatfamilie nicht, vergleichbar mit der Universität, immer mehr isoliert in der Gesellschaft steht. Entweder sind da die großen Verbände wie Gewerkschaften, Krankenhäuser und Fabriken oder die kleinen Privathäuser mit dem kleinen Familienkreis. Das eine unpersönlich, das andere zu persönlich mit zu wenig gesellschaftlicher Schlagkraft. Könnte nicht etwas zwischen zu groß oder zu klein gegründet werden? Eine Art Kloster, aber vorbei an dem nur Religiösen, eine Art Kibbutz, aber vorbei an zu viel Arbeitsorganisation.

So hat Rosenstocks eigener Versuch mit dem Arbeitslager uns angesprochen, aber nicht nur das. Dann wäre es eine technische Angelegenheit geworden. Nein, das eifrige Lesen und gemeinsam Besprechen all seiner Werke hat uns de Boden gelegt zur eigenen Gestaltug. Jahrelang lasen wir seine Bücher, die endlich wieder vom ganzen Leben sprachen, statt sich zu verlieren auf spezialistischem Gebiete. Seine Werke über die Bedeutung der Geschichte, der Zeiten, von dem Gang und Rang der Revolutionen, das Erkennen von dem Weg der menschlichen Bestimmung und besonders auch seine Leidenschaft für die Sprache haben uns tief betroffen gemacht.

Das wunderbare Vermögen des Menschen sprechen zu können! Nicht so sehr die »technische« Fähigkeit, sondern vielmehr, daß durch Sprechen die Wirklichkeit entsteht. Wir Menschen und die ganze Schöpfung um uns herum entstammen, entspringen dem Wort, wie immer noch die Schöpfung, die Wirklichkeit fortschreitet durch Wort und Erwiderung, durch Aufruf und Antwort! Wie weit läßt Rosenstock darin die stumme Evolutionslehre hinter sich! Und wie hat diese Lehre uns in die Irre geführt mit ihrer Allmählichkeit!

Ich erinnere mich noch lebhaft, daß Rosenstock mich fragte, ob ich verstünde, daß Teilhard de Jardin soviel Erfolg hatte. Und dann sagte er: „Er hat in seinem Lexikon nicht einmal das Wort oreille (Ohr)!” „Eine leibhaftige Grammatik” gibt Rosenstock seinem großen Sprachwerk, „Die Sprache des Menschengeschlechts”, als Untertitel mit. Worte nehmen Gestalt an, inkorporieren, schaffen durch alle Zeiten hindurch die Wirklichkeit, und wir nehmen mit unserem Sprechen daran teil.

„Echtes Sprechen weckt Hörer und Sprecher aufs neue ins Leben, eine Tatsache, die die Propagandisten leugnen, denn sie denken Menschen greifen zu können, ohne selbst ergriffen zu sein.”3

Seine Erbschaft, durch die Kraft des wahren Sprechens und wahren Hörens zwischen Personen und Gruppen Frieden, den nächsten Frieden zu stiften und uns durch das kommende Zeitalter bestimmen zu lassen, ja die haben wir gewählt. Da liegt auch der Grund, daß wir unser Haus nach diesem Manne benannt haben, aber auch, daß wir ihn freimütig, noch während seines Lebens — wir fingen mit dem Haus 1970 an - um die Erlaubnis dafür baten.

Sein Brief zur Erwiderung lautete:

(Poststempel März 12 1970)

Four Wells
Lieber Wim, mehrmals habe ich Deinen Brief gelesen. Denn er war ja eine große Überraschung. Ich hatte mir für Dich einen Weg nach Deutschland hinein vorgestellt. Euer Plan ist aber viel großartiger. Vier Familien — das ist ein Quartett wie die vier Evangelisten und das ist also wie die Erschaffung der Welt. Nehmt Euch Zeit, auch mit der Namengebung. Natürlich bin ich erfreut. Aber laß es langsam werden, damit es Euch nicht bedränge oder bedrücke. Wenn ich Euch mit Hilfe meines Namens die sinnvolle Einheit Eures Tuns vor Augen rücken darf, dann ist das für mich das schönste Geschenk.
Grüße alle herzlich von
Deinem Eugen.

Erst später erfuhren wir, wie unsere Bitte Rosenstock in Verlegenheit gebracht hat, und wir merkten erst, wieviel Risiko er auf sich nahm, seinen Namen so öffentlich mit unserem Unterfangen zu verbinden. Bedeutet dies nun, daß wir Rosenstockianer sind, durch dick und dünn ihm nachfolgen?

Gewiß, anfänglich, mehrere Jahre sogar, habe ich jedenfalls mich kaum außerhalb der sicheren Pfade des Zitierens gewagt. Den großen Lehrer lernte ich buchstabieren. Aber glücklicherweise fand ich die eigene Freiheit wieder, entwickelte sich das Vermögen, seine Lehre auf eine Art und Weise in Worte zu bringen. Ja, im Laufe der Jahre habe ich mich vereinzelt gegen ihn gewehrt. Auch Rosenstock, wieviel Zukunft er auch vor sich hat — sein Leben und Wirken werden genährt von den Aufgaben des Dritten Jahrtausends —, war Kind seiner Zeit. Niemand war sich dessen mehr bewußt als Rosenstock selbst. Als er einmal bei uns zu Besuch war es mag im Jahre 1963 gewesen sein - und vor dem Bücherschrank stand und da fast alle seine Bücher sah, da sagte er: »Wim, ich hoffe der Tag kommt, daß du meine Bücher verbrennst.« Ich war entsetzt und konnte mir keine größere Katastrophe vorstellen. Ich fand es einen unpassenden Witz. Viel, viel später verstand ich, wie er dies gemeint hat. Daß wir eben sein Leben nicht imitieren sollten, fortsetzen vielleicht, aber dann ja als unser eigenes Leben: der Verwandlung und Veränderung unterworfen, anderen Zeiten unterliegend, offen für einen neuen Gehorsam, fähig zum Abschiednehmen und bereit, neu betroffen zu werden. Auch an seinem Leben vorbei. Diese Freiheit lernten wir von ihm. Leben und Wirken in seinem Geist bedeutet den Mut aufbringen, was vorüber, was veraltet ist, wie teuer es auch gewesen sein mag, hinter uns zu lassen, zugunsten eines neuen Einschlags aus einer neuen Zukunft. Vorbei an dem, was gestern noch gut genannt wurde. Selbst gibt er von solchem zeitgenährten Leben ein Beispiel, das genannt wird im Interview mit Jürgen Schulz im Südwest Rundfunk, über den deutschen Einmarsch in die Sowjetunion: „Und da ziehen die deutschen Soldaten wieder hin, auf zum Krieg in Rußland, kommen dort um, erfrieren sich Zehen, alles für die Ehre Deutschlands. Aber die Ehre Deutschlands war schon längst hin!”

5. Unser Aufbruch, ein zeitgenährtes Löwenberg und Camp William James?

Die Stifung des Rosenstock-Huessy-Hauses unter der obengenannten Zielsetzung hat für uns alle mit Rosenstock zu tun. Nun zwar nicht so sehr Studenten, Industriearbeiter und Bauern als vielmehr Männer, Frauen.

Kinder, Alte und Junge, Starke und Geschwächte, Gesunde und Kranke verschiedene Rassen, Kirchliche und Nichtkirchliche, Nachbarschaftsleute und politisch Verantwortliche, das Jüngste drei, der Älteste 76 Jahre alt.

6. Vorbei am Idealbild des selfmade man.

Übungsstätte für Menschen, die am eigenen Leib erfahren, wie sehr ihre individuelle Existenz vom Leben anderer abhängig ist. Wie sehr unsere Existenz ergänzt, komplementiert wird von anderen. Das Frausein durchs Mannsein, das Schon-alt-sein durch das noch Jugendliche, der gelehrte Kopf durch den schlichten Geist. Und so reichen wir gemeinsam an einen wahreren Menschen, als wir in einem individuellen, nicht mitteilenden Leben wären. Wie sehr erfahren wir die Wahrheit aus dem Buch „Der unbezahlbare Mensch”, wo erst nach 120 Seiten die Figur des einzelnen, des mit sich selber einigen Menschen an die Reihe kommt:

„Den Menschen als Einheit zu betrachten, widerspricht dem Wesen der Gesellschaft. Die Ideale unserer Gruppe und Klasse, die Nützlichkeit in unserer Produktionskapazität, der Stachel des Geschlechts in unserem Fleische, all diese Kräfte machen uns zu Teilen größerer Einheiten, einer Arbeitsgruppe, eines begeisterten Kollektivs oder eines Paares. Und wie steht es um jenes Individuum, das sich schon heute unter den Händen der Ärzte und Psychologen, innerhalb der Wirtschaftsordnung und des politischen Kampfes oder der Revolution immer mehr auflöst? Es ist durchaus nicht selbstverständlich, daß der Mensch ein singuläres und einmaliges Wesen ist.”4

Der selfmade man ging unter den Händen der Ärzte verloren. Oder eben bei vielen nicht, weshalb wir im echten Fortschritt stecken bleiben. Setzen wir die Zukunft immer mehr aufs Spiel, weil die Geburt eines anderen Menschentypus immer wieder aufgeschoben wird? Was alles muß noch geschehen, bevor die Augen geöffnet werden und wir wirklich andere Wege gehen z. B. in der Frage der Kernenergie? Sind 30 Jahre wegen Radioaktivität keine Schafe mehr schlachten dürfen in Wales nicht genug?5

Vorbei am Idealbild des neunzehnten Jahrhunderts, sei es einer christlichen Persönlichkeit, sei es vom liberaleren Schnitt! Weg vom erfolgreichen Menschen, am liebsten vom erfolgreichen Mann, mit dem verglichen der Rest des Volkes weit zurück bleibt. Die Mehrheit bleibt der ewige Schlemihl, gut für Sozialpflege und Almosen. Wie kommen wir daran vorbei? Wie wird der Mensch geboren, der sich gerade der Unzulänglichkeit seiner Person bewußt ist? Der weiß von seinem Verkettetsein mit de Mitmenschen, wie wir einander Ergänzung sind?

7. Leben lernen als einer des anderen Ergänzung.

Unentrinnbar füreinander, denn du wohnst im selben Haus. Sehr schwer manchmal, denn die Unterschiede der Charaktere sind groß. Und von der menschlichen Verführung zum Neid, zum Schlauberger, zur Manipulation, Dickköpfigkeit, zu Anspielungen, zur Halbheit, bleiben wir bestimmt nicht verschont. Kein Wunder, daß wir als Hauslosung den berühmten Satz aus „I am an impure thinker” verwenden: »Respondeo, etsi mutabor« — Ich antworte, sei es auch, daß ich mich ändere. Rosenstock sagt im obengenannten Interview mit Jürgen Schulz auch: „Gehirne können nicht bereuen.” Nur durch die primäre Kraft zum Sprechen, Hören und Vernehmen und Sich-darauf-einlassen wird unser eisernes Denkvermögen, unsere harte Logik angegriffen; sind wir imstande, uns zu ändern. Echtes Sprechen und echtes Hören führt uns in einen Prozeß, dessen Abspiegelung die persönlichen Fürwörter bilden. Aber nicht in der Reihenfolge, die wir schon jahrhundertelang in der Schule lehren und lernen: ich, erste Person, du zweite Person und er/sie dritte Person. Erst als letzter Akt in dem Prozeß, in dem wir aufgebrochen werden durch Rede und Antwort, entsteht unser Ich, weg vom unanständigen Platz, den die Alexandriner ihm zudachten, der ersten Person. Das „Ich” ist eine Folge vorangegangenen Aufrufs und gegebener Erwiderung. Die ausgedachte erste Person ist in Wirklichkeit die Dritte.

8. Was geht unserm Ich denn voraus?

Ein Betroffenwerden. Wodurch? Durch einen ersten Sprecher oder Ereignisse, die uns erst einmal aufhören lassen. Voran geht ein: He, du da! Und damit werden wir zur zweiten Person, wir werden eingeschaltet in den Prozeß. Das Allerbeste ist: Es wird gesprochen, erste Person. So abhängig sind wir von dem überhaupt Angesprochenwerden, von dem Anruf. Meistens merken wir erst viel später, was uns nicht alles zugestoßen ist, welchen Umständen wir unser Ichgefühl verdanken. Diese grammatische Reihenfolge, er=1, du=2, ich=3 — übrigens in ‘Übereinstimmung hebräischen Grammatik! — ist viel lebensechter als die akademisch bedachte der Alexandriner.

Betroffen werden, dadurch sich verändern, das geschieht auch noch auf andere Art und Weise. Neben dem Gebet als höchstem Rang des Sprechens - denn ein wahres Gebet endet mit den Worten, nicht mein Wille, sondern der Deinige geschehe; ich gebe meine Bereitschaft, die Folgen meines Gebets auf mich zu nehmen, bekannt — stehen uns noch zwei Kräfte zur Verfügung. Rosenstock nennt neben dem Gebet noch das Leiden und die Liebe. Das Leiden wirft einen aus den Gleisen, und ein verliebter Mensch kennt sich selber nicht mehr. Den Mut haben, die Bereitschaft, eine oder mehrere dieser Kräfte zuzulassen, führt uns zur echten Änderung. Da kommt ein Prozeß in Gang, dank dessen eine überraschende Entwicklung zustande kommen kann. Anders als die Futuristen sich ausdenken! Denn nicht nur bleibt unser Denken unbekehrbar, es ist begrenzt. Das Leben selbst mit seiner unerschöpflichen Energie und seinen unendlichen Überraschungen muß uns zu Hilfe kommen! Wenn wir so zu leben wagen, wenn das Leben selbst wieder zu vielsagender Bedeutung wird, zum »dabar«, dem hebräischen Zeitwort, das geschehen, sich ereignen, bedeutet und zu Unrecht mit der viel zu statischen Bedeutung »Wort« übersetzt wird — wenn das Leben wieder zum Ereignis wird, dann können wir schon origineller dran gehen als aus dem langweiligen »cogito ergo sum«. Denken als Ausgangspunkt gebiert keine anderen Menschen.

Nun, alle diese Gedankengänge, all diese Entdeckungen haben uns dazu gebracht, uns in die Gefahrenzone zu begeben, uns abhängig von einander und von diesen Kräften zu machen, den nicht leichten Pfad, einer des anderen Ergänzung zu werden, zu gehen, Ergänzung gerade jener Seiten, die uns nicht liegen.

Kann dies auch Jesu Wort sein: Liebe deine Feinde? Vergegenwärtigt der Feind nicht, was bei mir fehlt, was ich nicht schätze oder sogar hasse? Zusammen wohnen ist etwas anderes als beieinander zu Besuch kommen oder einander regelmäßig treffen im Büro. Ja gesagt, unentrinnbar füreinander durch eine Struktur, durch welche wir uns jeden Tag mehrfach begegnen und getroffen werden können. Es ist wahr, auch jetzt noch kannst du dich entziehen, kannst Abstand halten — wie ein Ehepaar am Tisch und im Bett einander ignorieren kann, aber du weißt es!

Gewollt unentrinnbar: am Tagesanfang die Morgenbesprechung, im Laufe des Tages die längeren Kaffee- und Teepausen, die Mahlzeiten, das gemeinsame Arbeiten, die wöchentliche große Hausversammlung und Feste-Bewohner-Zusammenkunft an den Abenden, die kleine „Sorgegruppe” zu vier Personen, ein Quartett, das sich regelmäßig trifft und ein Stück gegenseitige Verantwortung auf sich nimmt, gemeinsam mit den Bewohnern, die durch Not dazu gezwungen für ungefähr ein Jahr unter unserem Dach verbleiben.

Rosenstock hat in uns, den Stiftern des Rosenstock-Hauses, solch einen Moment, den jeder ja kennt, in uns erweckt: Jetzt oder Nie! Den Moment, wo langes Suchen und Tasten, Zögern und ein Herumsitzen von Jahren zur Klarheit kommt. Das ist, um noch einmal auf die am Anfang gestellte Frage zurückzukommen, etwas völlig anderes, als einer philosophischen Richtung anhängen, Kantianer werden, als Stütze im üblichen Leben. Es war der Funke, der weiter reichte als jemandes Denken sich zu eigen machen oder alle kleine Tatsachen auswendig kennen. Der Funke, der hinüberschlug und ein bis da zu schwach benanntes Leben aufrüttelte, Kraft verlieh, Bereitschaft, das heutige Leben teilweise aufzugeben, um das Neue gestalten zu können. Es könnte dich den Arbeitsposten oder was anderes Wichtiges im Leben kosten.

Ohne die tiefeinschneidenden Wirkungen Rosenstocks, auch im Sinne unseres kirchlichen und gesellschaftlichen Sitzes im Leben von Geburt an, wäre es nicht zu dem Rosenstock-Haus gekommen. Gewiß, der Zweite Weltkrieg brach auf kräftige Weise in unsere ruhige Existenz hinein, unterminierte vieles von dem, was als selbstverständlich galt. Aber die Deutung des Gewichts des Geschehens, die wurde uns erst bewußt durch Rosenstock. Und dann natürlich keine Deutung als zerebrale Angelegenheit. Keine Verhandlung wie die Welt, auch wenn sie in Flammen aufgeht, ineinander steckt, wie alles auf eine Reihe gebracht werden kann und weiter basta! Nein, es war eine Aufklärung meines eigenen vagen Wissens, meines eigenen Lebens, wie dies eingewoben liegt in dieser Zeit. Deswegen ein einziges Leben, anders als das Leben Luthers oder Marx’ oder meines eigenen Großvaters. Sie alle waren Kinder ihrer Zeit voll anderer Nöte und anderer Aufgaben.

9. Hätte es auch ein anderer gewesen sein können als Rosenstock?

Theoretisch ja, so wie man auch theoretisch gesprochen mit einer anderen Person verheiratet gewesen sein könnte als mit dem eigenen Mann oder der Frau! Aber er war es nun einmal. Er war es, der uns zu dem Wissen, der Entdeckung geführt hat, daß unser Leben auf einen viel größeren Kontext bezogen ist, als wir je dachten oder dessen wir uns bewußt waren. Er war es, der das was in mir aufbrodelte, bestimmte, so daß es mit dem, was sich weltweit und geschichtlich ereignete, verknüpft wurde. Er erregte das Gefühl: das ist es, darum handelt es sich, ja dies sind Antworten auf die Fragen, die sich in unseren Herzen nisteten. Kein Denktrick oder Gehirngymnastik, die man perfekyt beherrschen muß, sondern eine Seele, die orientiert wird, sich ausgesprochen hört in seinen Äußerungen. Da liegt für mich der Beweggrund unseres Wegziehens als vier Ehepaare aus unseren normalen Behausungen. Aufgewacht, sich auf den Weg gemacht, ohne genau zu wissen, was alles daraus werden konnte. Ängstlich, aber zugleich unumgänglich, reizend und befreiend.

10. Nur für uns?

Gerade durch die viel größere Bezogenheit meinten wir, daß unser Unterfangen nicht auf uns selbst, auf diese kleine Gruppe begrenzt bleiben dürfte. Wir wollten versuchen, die Lehre Rosenstocks zu leben und andere dazuzuziehen. Wenn nicht, hätte ich das Gefühl gehabt, daß wir gehandelt hätten als Leute, die sich auf einem abgelegenen Berg um dort die kommende Sintflut abzuwarten. Selbst sicher in ihrem gut angelegten Lagerplatz. Leute, die Atomschutzbunker bauen, spielen offenbar mit solchen Gedanken. Deswegen auf der Suche nach einem großen Gebäude, viel größer als nur für unsere eigenen Bedürfnisse, damit andere mitmachen konnten. Andere, die sich verwandt fühlten, die auch ihre Orientierung verloren hatten, entwurzelt waren. Wir wollten einen Hort, wo wir uns beschäftigen konnten mit dem, was uns lebenswichtig schien. Vorüber an der gewöhnlichen Aufmerksamkeit auf wichtige Angelegenheiten, die aber trotz der Wichtigkeit unserem täglichen Leben untergeordnet blieb. Die Gesprächsgruppen, in denen wir uns jahrelang — hinterher gesehen - vorbereitet hatten mittels allerhand gesellschaftlicher, kirchlicher und politischer Themen, waren uns zu freibleibend geworden. Wir wollten unsere neuerworbenen Einsichten jetzt auch leben, praktizieren. Und es lag eigentlich auf der Hand, daß Menschen, die in Not verkehrten, desorientiert waren, als potentielle Gesellen für unser Unternehmen in Betracht kamen. War uns selber nicht viel abhandengekommen? Wir fühlten uns verwandt mit Menschen, die auf ihre Art displaced persons waren. Die Wichtigkeit, Krisen zu erleiden und Scheitern als bedeutend zu erleben, wurde uns klar. Gehirne können nicht bereuen, wohlan, dann muß die Seele sich der Wahrheit unterziehen. Die zarte Seite ins uns, die besser erfährt, wo der Geist Gottes als unsere Geisteskraft weht, die möchten wir stärken. Unsere Geisteskraft, unsere Vernunft darf allein im Dienste der Seele, die tiefer versteht, zum neuen Glanz kommen. Wenn die Seele geschwächt ist, sogar tot ist, herrscht das Denken. Liegt hier auch eine Antwort auf das merkwürdige Phänomen, daß die Mehrheit der Menschen immer wieder nur dem schon längst Bekannten traut? Die Kraft der Seele scheint denen ungewiß, dem gradlinigen, unbekehrbaren Gehirn gegenüber. Die Politiker machen gerne von dieser Befürchtung vor dem Neuen, noch Unbekannten Gebrauch, um die Macht zu behalten. Wirf doch keine alten Schuhe weg bevor du neue hast! Auch in den sechziger Jahren warf man Rudi Dutschke, Cohn Bendit und Benno Ohnesorg vor, daß sie keinen Blaudruck, wie sie denn die Welt geplant hätten, vorzeigen konnten. Lächelnd, hoch erhaben über diese zwar bewegten, aber chaotischen Menschen, verfolgen die Mächtigen unerschütterlich ihren Weg. Ein Weg, der immer mehr der Vernichtung unserer Erde nahekommt, weil Gehirne nicht bereuen können.

Im günstigsten Fall wurden wir Idealisten gescholten, wohlwollende Leute, die vielleicht teilweise ihre Übergangsprobleme in die Gründung des Hauses sublimieren. Es mag sein, daß etwas von dieser biologischen Kraft mit im Spiel war, aber Idealisten, nein. Dafür hatten wir zuviel von Rosenstock begriffen. Idealisten sind im Grunde Platonisten, Leute, die ihre Einsichten, Ideen für wichtiger und wahrer halten als die gegebenen Situationen, geschweige denn die lebendigen Zeiten. Sie nennen ihre idealistischen Einsichten nicht umsonst absolut und ewig. Ideen sind unbereubaren Gehirnen ähnlich. Sie sollen und müssen sich durchsetzen, sei es auch, daß es Köpfe kostet.

Nein, wir hatten gerade ein wenig gelernt, auf unsere Ideale zu verzichten. Man tauscht doch nicht den einen Ismus für den anderen ein? Das Nicht-mehr-Wissen, das in Verwirrung-geraten-können, sich zu verabschieden lernen von dem, was früher ideal oder selbstverständlich war, eben das wurde ein wichtiges Leitmotiv für uns.

Vieles mußten wir uns abgewöhnen, viel Unbekanntes hinzulernen. Wir konnten es nur, denke ich, dank Rosenstocks Lehre. Die zeigte uns die Durchblicke, mit denen wir uns orientieren konnten. Unsere Fahrt kam uns als ein Geländespiel vor mit Fähnchen, Aufgaben und anderen Anzeigen.

Es war der neuen Lage, als Arbeits-, Lebens- und Wohngemeinschaft, in solch einem großen Gebäude sowie unseren zahlreichen Begegnungen mit Gruppen und einzelnen Personen zu verdanken, daß wir auf Strom liegen blieben, nicht zu rasch einschliefen. Jedes Menschenkind, das unter unser Dach kommt, bringt etwas hinein, hat etwas von den Engeln, die man unwissend beherbergt, laut dem Verfasser des Hebräerbriefs. Eine neue Geschichte kommt hinzu, fügt etwas uns hinzu, auch wenn die Züge oft vergleichbar sind mit den Zügen früherer Bewohner. Der Gast stellt auch seine kritischen Fragen. Ab und zu empfinden wir es als irritierend; man kann auch dumme Fragens tellen, aber immerhin, die Fragen sind sehr wesentlich , sie stimmen uns nachdenklich. Sitzen wir schon zu lange in einer bestimmten Richtung? Ist uns das Nest zu warm geworden? Ist schon zuviel wieder selbstverständlich geworden?

Natürlich ist nach 18 Jahren alles eingefahren, aber wenn das bedeutet , das wir wieder dem Subjekt/Objekt verfallen sind und uns benehmen wie Generalsekretäre, die alles schon längst gesehen und gewußt haben, dann wird es Zeit, von unseren Freunden und Gästen aufgerüttelt zu werden.

11. Fruchttragen und Nachfolge

Wir haben damals angefangen, jedenfalls ich, zu meinen, zu glauben wir bauen für das Dritte Jahrtausend, oder sind mindestens Vorfeld, Übungsplatz fürs dritte Millenium. Aber wenn es nur bei uns bewendet bleibt ist es dann nicht wishful thinking? Was ist denn unsere Auswirkung? Wenn man sieht wie Rudolf Steiner in den vielen Walddorfschulen zur Gestalt gekommen ist, warum bleibt Rosenstocks Erbe so karg? Weil er eben soweit voraus seinen Posten bezogen hat? Oder lebt und wirkt Rosenstock viel mehr, als wir zu sehen vermögen? Steht unsere Zeit, als Haus aus seinem Wirken geboren, noch aus? Oder wird es nur einaltrig bleiben?

Inwieweit sind unbekannterweise schon viele einen vergleichbaren Weg gegangen? Und in wieweit ist das Verstehen der Zeiten, das so stark bei Rosenstock entwickelt war und das ihn fähig machte, Zeitalter hinter sich zu lassen und andere wieder zuzulassen oder auch für andere sichtbar zu machen, nicht doch als neues Paradigma von vielen erkannt worden? Und auf welchen Gebieten sind Rosenstocks Einsichten inzwischen so vertraut geworden, daß sie nicht mehr als neu empfunden werden?

Arg optimistisch bin ich darüber nicht, aber kann es auch nicht gut beurteilen. Ich arbeite nicht an einer Universität, aber ob das Veraltetsein der Universität wie Rosenstock das in „Das Geheimnis der Universität” beschreibt, überholt ist, bezweifle ich. Lehrt die Universität schon oder wieder »am Donnerstag, was am Montag not tut«?

Ihre Bündnisse mit den ökonomischen/industriellen und militärischen Machtzentren stimmt mich schwermütig. Was ragt schon über These und Antithese in den aufeinanderfolgenden Doktorarbeiten hinaus? Bleibt es nicht innerhalb eines bestimmten inneren wissenschaftlichen Interessengebiets? Angesichts der Methode an den Schulen muß notwendigerweise daraus kommen, daß die linken Studenten, wenn sie einmal ihre Arbeitsstelle bezogen haben, ebenso rechts amtieren und advisieren als ihre rechtens Kollegen. Sie lernen ja doch dieselben Gesetze.

Von welchen Gebieten können wir ein fruchtbareres Wissen erhoffen als von all diesen Denktanks? Wo regen sich oder entstehen zukunftschaffende Kräfte?

„Bei jedem epochalen Gebilde — zu Unterschied von dem Verein - sind aber die Bausteine nur solche Kräfte, die dem Tod der ersten Generation gewachsen sind.”

Leben solche Kräfte auch in uns?

Wir befinden uns in einem Vorgang, der seine erste Glut verloren hat. Ein Prozeß, der viel schneller verläuft und viel endlicher ist als ich je vermutete. Achtzehn Jahre als Gemeinschaft existieren ohne den tragenden Strom der Liturgie wie inden Klöstern, ist schon viel. Aber wie vererbt sich dieses Haus? Die Frage ist nicht zu beantworten. Vielleicht habe ich die falsche Frage gestellt. Wer weiß, ob eine unterirdische Verästelung schon im Gange ist. Vielleicht lebt unser Haus schon weiter in Menschen, die mit uns in Berührung kamen, und ich bin zu wenig bereit zu hoffen, daß unser Haus einmal niederbrennt, damit andere Häuser wachsen können, sowie Rosenstock einst von seinen Büchern sprach. Inzwischen versuchen wir offen zu bleiben für neue Anrufe und Aufgaben. Aber da müssen wir eine Wahl treffen, denn man kann nicht alles. Wir haben die letzten zwei Jahre oft darüber gesprochen, ob wir uns nicht mehr in Richtung „Planetary service” bewegen sollten. Mehr Verbindungen mit Peace-Corps-artigen Gruppierungen. Wir haben gute Verbindungen mit solchen Gruppen, aber wir kamen doch zu der Schlußfolgerung, daß unser Wirken zwar unterschiedlich ist von dieser Art Arbeit, aber andererseits doch alles mit dem Glauben an das Planetenzeitalter zu tun hat. Anders gesagt, wir arbeiten schon „planetarisch”, auch mit dem Aspekt der geschützten Wohnform seelischen Ursprungs.

Bei der Gründung drang in die Zielsetzung das Wort kosmopolitisch ein, ein nicht geläufiges Wort, aber es erweist sich als sehr hilfreich, in welcher Richtung wir unseren Posten haben: verbunden zu bleiben mit dem kosmischen Leben, das sich uns zuwendet in Anruf und Aufruf, und uns darüber zu freuen. Und uns nicht zuviel zu kümmern über die Auswirkungen, denn stehen die uns zu?

Trotzdem bleibt die Frage: muß das Haus noch mehr Aspekte beherbergen, damit wir noch mehr aneinander klug werden können, oder ist unser Blumenstrauß bunt genug, um genügend lebhaft zu wirken? Viel Energie muß aufgeboten werden aus der Sorge um den schweren Gang vieler unserer Gäste. Möchten wir zuviel? Wie sieht eine wirksame Bilanz menschlicher Kräfte innerhalb einer Gruppe aus? Wie bleiben wir im Bilde, was sich als wichtig »extra nostros muros« vollzieht? Jedenfalls ist ein reger und regelmäßiger Verkehr mit vielen von außen für uns durchaus lebenswichtig.

Mein Beitrag endet mit vielen Fragen. Andere können nur beurteilen, inwieweit inwieweit wir Frucht tragen. Mag es jedenfalls für uns selbst Frucht tragen! Auf dem Ozean der Geschehnisse ist unser Schifflein ein winziger Punkt. Und wir hoffen, aus den vielen Geschehnissen heraus das Not-wendige zu lesen.

Ich schrieb viel über den Anfang, den Antrieb, weniger über das tägliche Leben. Darüber wurde schon oft berichtet in Jahresberichten und allerhand Artikeln, aber einen Punkt möchte ich noch herausnehmen. Zu den vier Ehepaaren als Anfängern haben sich von Anfang an und im Laufe der Zeit andere hinzugesetzt, ohne viel oder überhaupt etwas von Rosenstock zu wissen. Verschiedene von den Nachkömmlingen lesen auch nicht in den noch immer währenden Lesekreis in den Werken Rosenstocks. In den fünfziger Jahren haben wir damit angefangen, weil die Bücher für jeden von uns allein zu schwierig waren. Wir lasen da seine Bücher laut und versuchten, aneinander klug zu werden durch mehrfache Auslegungen. Wie gesagt, welche aus dem festen Kern machen da nicht mit. Anfänglich war dies mindestens fremd, bei mir erregte es wohl auch Ärger, aber im Ganzen unseres Hauses waren sie genau so darin. Sie waren keine schlechteren Mitbewohner. Sie waren offenbar von anderen Lehrern oder Lehrerinnen herbeigerufen. Ich denke auch, daß es zum Geiste des Hauses gehört, daß wir nicht ausmachen, wie andere wieder betroffen gemacht werden. Die später Gekommenen brauchen und sollen vielleicht auch nicht auf dieselbe Art und Weise, wie wir drangegangen sind, weitermachen. Können das auch nicht. Die Gründung des Hauses, der allererste Anfang war gemacht worden, man konnte sich melden, sich in den fahrenden Zug setzen und weiter mitmachen. Das wird auch der Unterschied zwischen der kleinen ursprünglichen Gruppe und den späteren anderen bleiben. Sind wir in diesem Sinne nicht schon mehraltrig?

Denn nur den Anfang habe ich verglichen mit der schweren Aufgabe, einen stehenden Zug in Bewegung zu setzen. Damit hört das Bild des Zuges auf, denn wir hoffen gemeinsam, Anfänger und Nachfolger, eben nicht wie ein Zug auf vorgegebenen Gleisen zu fahren, sondern einander und den Ereignissen offen zu bleiben. Denn so, glaube ich, nähern wir uns unserer menschlichen Bestimmung an. Sie ist nicht vorgegeben, höchstens versprochen.

Wim Leenman

  1. „Der unbezahlbare Mensch”, Berlin 1955, S. 130 

  2. „Der unbezahlbare Mensch”, Berlin 1955, S. 131 

  3. »Heilkraft und Wahrheit«, Stuttgart 1952 

  4. »Der unbezahlbare Mensch«, Berlin 1955, S. 123 

  5. Haarlems Dagblad, 21. Jan. 1988