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Rosenstock-Huessy: Zukunftsglaube

Eugen Rosenstock-Huessy

Ein Brevier für Futurologen,

aus des Autors Schrifttum zusammengestellt von Georg Müller

Deutsches Pfarrerblatt 2.Ausgabe März 1970 1 H2415 D s.172 - 176

Die Fundangaben unter den Zitaten beziehen sich, wo nichts anderes vermerkt ist, auf folgende Veröffentlichungen:

Ansatz und Zielsetzung :

Wir Nach-Kriegs-Denker beschäftigen uns weniger mit dem offenbarten Wesen des wahren Gottes oder dem wahren Wesen der Natur als mit der Erhaltung einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft. Wenn wir nach dieser fragen, stellen wir die Wahrheitsfrage noch einmal; aber unser besonderes Bemühen gilt der lebendigen Verwirklichung der Wahrheit im Menschengeschlecht. Wahrheit ist göttlich offenbart worden.- credo ut intelligam. Wahrheit ist rein und kann wissenschaftlich erfasst erden – cogito ergo sum. Wahrheit ist lebenswichtig und muß in der Gesellschaft dargestellt werden – respondeo etsi mutabor. Dieser Angriff auf den Cartesianismus ist unvermeidlich, seit das „reine“ Denken überall in den Bereich sozialer Untersuchungen eindringt. Für Historiker, Wissenschaftler und Psychologen scheint es unerträglich, nicht „reine“ Denker, echte Wissenschaftler zu sein. Was für ein Unheil!

Geheimnis 97

Medizinmann, Priester, Prophet und Sänger haben uns sprechen gelehrt, uns als Überlebende, uns als Erdensöhne, uns als Laien, uns als Freunde. Stämme, Tempelkulte, Israel und Hellas, weil sie Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und Freundschaften zu bleibenden Stimmen stiften, deshalb sind sie ewig unsere Sprachbürgen. Das gilt für das weite Erdenrund von Nagasaki bis nach Island, von Moskau bis Rio de Janeiro. Wer den Toten nie gelauscht hat, kann in der Arbeitsteilung der Erde keinen Platz finden. Wer das „Höre Israel” nicht hört, verfehlt seine Lebensgeschichte. Und wem Homer nicht singt, dem fehlen die Freunde. Heim, Wirtschaft, Freiheit, Freundschaft gibt es nur dank Sprache.

Sprache I,346

Die Gegenwart bedarf des Muts, des Auftretens, des Entschlusses, der Entscheidung; aber die Zukunft bedarf des Glaubens, der Hingabe, der Demut und des Gehorsams, und die Vergangenheit bedarf der Ehrfurcht, der Geduld. Es wird in Europa und in der westlichen Welt nicht besser werden, solange sie nicht einen Weg findet, die Zukunftsgläubigkeit der russischen Revolution zu übertrumpfen. Es mag ein Tag kommen, wo die Kirchen eben deswegen verlassen stehen, weil sie die göttliche Dreieinigkeit der Zeit verraten haben. Die Zukunft ist so alt und so ursprünglich wie die Vergangenheit. Genauer gesagt: Vergangenheit recht verstanden ist der Teil der Zukunft, der bereits angehoben hat.
Wir bestimmen unsere Nachfolger, und wir bestimmen die Vergangenheit. Das ist das Höchste, was unsere Liebe tun kann. Wir bestimmen unsere Nachfolger, nicht daß wir ihn ernennen dürfen, aber indem wir solche Opfer bringen, daß er wachsen kann. Die Zukunft bestimmen die Menschen mehr dadurch, daß sie Opfer bringen, als daß sie Gesetze geben. Deswegen ist die Zukunft in unserer Zeitrechnung durch den neueröffnet worden, der sich grenzenlos zum Opfer gebracht hat, so dass jeder empfinden kann, dass ein Opfer für ihn gebracht ist, das darauf wartet, von ihm angenommen zu werden.

Rundfunkansprache 1962

I. Zeit gibt es unter den Menschen nur dank Sprache

Zeit gibt es unter den Menschen nur dank Sprache. Wir selber binden uns in eine zusammenhängende Geschichte. Wir selber scheiden zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Und tun das weder um der Vergangenheit, noch um der Zukunft willen, sondern wir belasten uns mit dem Kometenschweif der Vergangenheit und der Morgendämmerung einer Zukunft nur deshalb, weil wir die kläglichen Augenblicke unseres unvordenklichen Daseins zu einer mächtigen Gegenwart möchten vereinigen können. Wir haben nur soviel Zeit, wie wir Namen tragen, unter denen Generationen von Menschen willens sind, trotz der Brüche in der Zeit gemeinsam zu handeln. Daher genießen wir Gegenwart, wenn wir anderen Menschen aus anderen Zeiten, aus der Zukunft und aus der Vergangenheit, in ein und demselben Geist die Hand reichen können. Weil Zeit dank Sprache sich ereignet, ist Sprachphilosophie wertlos. Denn philosophieren heißt, von der Zeit abstrahieren. Die erste Gegenwart ist also der ausgedehnte Augenblick zwischen einem Namen, der vergangene Jahre erleuchtet, und einem Titel, der zukünftige Jahre gleichen Vollbringens vorweg durchleuchtet.
Cäsar leuchtet lange noch zurück als der große Römer; Kaiser als der von Cäsar abgeleitete Titel, verheißt 2000 Jahre lang das Reich der Zukunft. Mithin gibt es in der rechten Zeit eine deutliche Beziehung zwischen den vergangenen und künftigen Jahren. Je mehr wir erben, um so mehr Erwartung erahnen wir. Ein Mensch, der keine Vergangenheit hat, hat keine Zukunft. Die heutige Welt hat keine Zukunft, weil sie die Vergangenheit Millionen Jahre lang gemacht hat, also einen gleichgültigen Schwindel, und an die Wand zur Zukunft nur einen Weltkrieg zu setzen hat.

Sprache II,523f.

Mit Christi Geburt fängt die christliche Zeitrechnung an. Sie zählt so gut nach rückwärts wie nach vorwärts. In dieser Kraft aber, abwechselnd unser Haupt vorwärts und rückwärts zu richten, besteht unsere Freiheit, allen drei Lebensaltern zugleich anzugehören. Wir müssen beides: manchmal sagen wir: danke! und manchmal sagen wir: bitte! Daher ist uns diese in der Mitte aller Zeiten nach Anfang und Ende hin frei bewegliche Zeitrechnung auf den Leib geschrieben. Wer in dieser Zeitrechnung lebt, der geht der Zukunft und der Vergangenheit gleichzeitig entgegen. Seit dem Jahre 534 - seitdem wurde uns die neue Zeitrechnung voll bewußt - hat jede Generation gleichzeitig eine alte Vorzeit neu belebt und eine Zukunft neu begrüßt. Man denke an all die Erneuerungen, Wiedergeburten, Renaissancen, seitdem die Kreuzfahrer sich als Urchristen zu verjüngen gedachten und dreizehn Päpste des elften Jahrhunderts als „Zweite” die Namen ihrer Vorbilder aus dem ersten Jahrtausend annahmen. Von der sogenannten Renaissance des klassischen Altertums weiß doch jeder. Aber sie ist nur ein Einzelfall des menschlichen Januscharakters. Wir marschieren in die Zukunft mit rückwärts gewandtem Gesicht, weil wir in der christlichen Zeitrechnung die Vollmacht erlangt haben, uns innerhalb der Vollzahl der Zeiten gleichzeitig der Vergangenheit und der Zukunft begeistert zuzuwenden.

Soziologie II, 87

Das Ritual ist erforderlich, um eine Sprache zu schaffen, die fünfzig oder hundertfünfzig Generationen hindurch dauern soll. Ein Ritual ist für eine solche Sprache wesentlich. Die Beziehung irgendeines Rituals zur Zeit ist die einer Stunde oder eines Tages zur ganzen Vergangenheit, die sie in ihrem Namen heraufruft, und zur ganzen Vergangenheit, die sie mit ihren Feiergewändern verhüllt. Wenn ein neues Element entdeckt und benannt wird, übt die heutige Menschheit noch die alte Ritualdisziplin aus. Das Ritual wurde so lange wie möglich ausgedehnt entsprechend seiner erstaunlichen Aufgabe, einen Zeitabschnitt der Verheißung und Erfüllung darzustellen.

Sprache II, 533

Wie Israels Propheten Zukunft erschaffen mußten als die Zeit des uns noch überraschenden Schöpfers, so mußte zuvor der Angst vor den Ahnen und ihrer Vergangenheit Paroli geboten werden durch Erschaffung einer ewigen Gegenwart. Wenn Schiller ausruft: „Ewigkeit schwingt über ihnen Kreise”, so hat er damit das Reichsgeheimnis wunderbar in Worte gefaßt. „Gegenwart” ist eine Schöpfung unseres Geistes in den Reichen gewesen. Ahnenkult und Stammbäume und Totempfähle haben Vergangenheit erschaffen, hingegen haben Kreisläufe am Himmel und auf Erden Gegenwart glaubhaft erbaut. Propheten verdanken wir die Glaubenserfahrungen echter Zukunft. Sprache II,652 Alle Rufe der Universalsprache, wie sie aus namentlichen Trägern sich bildet, gehören zusammen. Die schon berufenen Namen sind jener Teil unserer Zukunft, den unsere Vorgänger schon angegeben haben. Unsere Vergangenheit ist halb Schutt, halb aber ist sie der schon geschaffene Teil unserer Zukunft. Wer so sich von Name zu Name, von Einsetzung zu Außerkraftsetzung, zu Wiederinkraftsetzen vorwärts tastet, der gehorcht nicht dem äußeren Zwang, denn er nimmt teil am Gespräch seit Erschaffung der Welt. Sprache I, 47 Weil der Glaube an die zwingenden Götter und den rufenden Gott unsere Sprache hervorruft, damit sie uns befreie, deshalb wurzelt sie nie in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Wer sie nur als geschichtliches Erbe nachspräche, wäre dekadent. Denn nur deshalb wirst Du angesprochen, statt in des Taygetos Schluchten mit den Untauglichen geworfen zu werden, weil Dich jemand so liebt, daß er Dir einen eigenen Namen zu geben willens ist. In diesem Augenblick vertraut er nicht etwa nur Dich der Zukunft an. O nein, in unbegreiflichem Leichtsinn vertraut er ja auch die Zukunft Dir an. Wir haben keine Wahl: die schon angehobenen oder vollendeten Tatsachen können nur durch ihre Befürwortung kraft der Benennung von neuen, kommenden Menschen in die Zukunft hinüber errettet werden. Geschichte ist die Auslese all der bereits gestern angefangenen Zukunft aus dem Schutt mit Hilfe des Weitersagens.

Sprache I, 64

Was ist christlich? Daß aus den Maschinen-Wegen ein neuer Weg sich herauslöst, der nächste Weg. Christus ist dein nächster Weg. Woran erkennst du ihn? Daß du ihn dir nicht ausgedacht hast. Daß er dir gestattet, Zukunft und Vergangenheit mit Namen zu nennen; daß er dir gestattet, deine Feinde anzusehen.

Sprache I, 148

Die Individuen werden innerhalb eines Gesprächs bereits zu Zeugen der Zukunft. Die Wissenschaft sagt nicht voraus; sondern für die Zukunft brauchen wir Menschen, die sich bewähren. Sie müssen unsere Gesetze, unsere Hoffnungen, unsere Versprechungen garantieren. Denn alle Fragen, die bei der Konfirmation, in dir Armee, bei der Eheschließung, beim Notar und vor Gericht gestellt werden, sollen zukünftige Bahnen heraufbeschwören. Der Antworter will sich beim Wort nehmen lassen, und er akzeptiert ein künftiges Leben, das sich an dem von ihm ausgesprochenen Satz entzünden wird.

Sprache II, 551

Dies ist die schöpferische Leistung der Sprache: die Sprache stellt uns in die Geschichte, in die Zukunft, und sie stellt uns hoch und tief. In den Antworten auf die drei Fragen, die jede Sprachtätigkeit erfragen können, werden sie jedem neu in die Gesellschaft Eintretenden eingepflanzt.

Sprache II, 553f

Bevor wir uns nicht der Wirklichkeit des Unbegreiflichen versichert haben, haben wir einander nichts zu sagen. Kein Mensch kann sprechen, der nicht hofft, Neues mitzuteilen. Kein Mensch kann zuhören, der nicht liebt. Kein Gespräch kann stattfinden, ohne daß Friede herrscht. Glaube, Liebe, Hoffnung, Friede liegen allem Wortwechsel vorauf. Und in ihnen siegt die Zukunft über die bekannte Vergangenheit.

Atem, 58

Die Unterredung macht uns zu Menschen. Wir sind mehr Mensch, wenn wir mit unseren Mitmenschen in der höchsten Potenz sprechen, als wenn wir ,,denken” oder ,,arbeiten”. Denn im Gespräch erst werden wir in Gottes Hand eingepflanzt und empfangen uns zurück aus den durch das Gespräch erregten Kräften. Diese Kräfte „grammatikalisieren“ uns. Sie sind nicht so sehr ,,übernatürlich”, als daß sie uns erst in unsere höchste Potenz hineinreißen, nämlich in die Potenz, der Zeiten Herr zu. werden. Welches aber sind diese Kräfte? Sie sind nichts Mystisches. Sie sind die Kräfte, kraft deren wir uns Zeit nehmen! Ohne Glaube bleibt der Mensch ein Stummel seiner selbst; denn die Zukunft bleibt ihm verschlossen. Ohne Hoffnung ist der Mensch von seinen Wurzeln in der Vergangenheit abgeschnitten, denn sie erregten in ihm keine Wünsche mehr. Und ohne Liebe ist dem Menschen sein Gegenüber ein bloßer weltlicher Gegenstand; denn er kann sich nicht zur lebendigen Gegenwart in der Einheit mit seinem Gegenüber bekennen. Der Glaube nimmt sich Zeit nach vorn, die Hoffnung Zeit nach rückwärts, die Liebe umarmt den bloßen Gegenstand, damit er ihre Gegenwart teile.

Atem, 100f.

Das Wort „Zukunft” ist heute gründlich abgenützt. Von jeder Verlängerung einer Ordnung über heute hinaus kann gesagt werden, sie reiche in die Zukunft. Seinen vollen Klang aber erhält das Wort Zukunft nur, wenn zwischen heute und dann ein Todesfall anerkannt und angenommen wird. Nur eine solche Bruchstelle macht es nämlich lohnend, die Vorstellung ,,Zukunft” zu bemühen. Sie enthält ein Risiko, das Risiko, daß der Lebende selber den Eintritt in der Folge in der Zukunft nicht herbeiführen kann. Er muß den Erfolg seines Tuns also anderen anvertrauen, so wie der Lehrer die Lehre dem Lernenden anvertrauen muß und selber den endgültigen Erfolg nicht schauen kann.

Atem,126

II. Die Zukunft der Menschheit geht logisch ihrer Gegenwart voraus

Die Zukunft der Menschheit geht logisch ihrer Gegenwart voraus. Denn wir haben keine Gegenwart, sobald wir unseren Glauben an die Zukunft verlieren. Was wir Gegenwart nennen, ist das Ergebnis eines Kampfes in uns zwischen der Zukunft und der Vergangenheit. Mechanismen sind wiederholbar; die Wissenschaft ist kein solcher Mechanismus, oder sie hört auf Wissenschaft zu sein.

Sprache II,202

Der leibliche Aspekt des Glaubens wird von uns häufig übersehen. Indessen heißt Glauben haben soviel, wie Atem haben. Die Hoffnung lebt in unseren Augen, die Liebe wohnt in unseren Herzen; der Glaube erweitert unsere Inspiration, unsere Kraft zum Ein- und Ausatmen, läßt selbst unsere Verbindung mit dem Geist sichtbar werden, indem er uns ganz tiefen Atem schenkt trotz Drohung und Druck niederer Mächte. Wer Glauben besitzt, atmet tief und frei und ringt auch in Gefahr und Verzweiflung nicht nach Luft.

Geheimnis, 254f.

Hoffen kommt aus den Bildern des Vergangenen - niemand kann auf das hoffen, wovon er gar nichts weiß, und ist daher die idealistische Eigenschaft. Genau umgekehrt von dem, was die Menschen heut denken, stammt jede Idee aus vergangener Realität und will ihre Rückkehr. Alle Renaissancen sind Rückkehrhoffnungen. Glaube aber kommt aus der Zukunft auf uns zu. Nur wenn Hoffnung von Anbeginn und Glaube vom Ziel her mich stoßen und ziehen, kann die Liebe tanzen. Sie rhythmisiert. Wie erhaben, daß die Evangelien das Wort, ,,Hoffnung” nicht enthalten! Nur Johannes, der Gottes poihμa dem griechischen Poem entgegenstellt, muß es als erster auch mit den Hoffnungen der Griechen aufnehmen! Und Paulus muß das eben auch. Aber noch weiß die apostolische Generation um ihre sola fides, d. h. um den Unterschied eines neuen ,,Gezogenwerdens vom Ende her”.

Geheimnis, 263

Die gesamte res publica academica bildet sich ein, der Raum ihrer Persönlichkeiten, ihrer Gedanken, ihrer Individualitäten erstrecke sich gleichmäßig sowohl nach rückwärts wie nach vorwärts. Schiller weiss es besser: „Ewig still steht die Vergangenheit, pfeilschnell kommt die Zukunft hergezogen.” Aber selber er hat die Plattheit der Idealisten in Sachen „Zeit” nicht besiegt. Sprache II,20lf. Es kann keine Wissenschaft unter einem Schicksal geben, unter einer Zeit, die eine vierte Raumdimension ist. Wissenschaftler leben im Glauben an eine Zukunft, die in ihrer Beschaffenheit von der Vergangenheit nicht abhängig ist. Die Zeit der wissenschaftlichen Welt ist aus drei Zeitformen zusammengesetzt, das Heranziehen der Zukunft und das Abstoßen von der Vergangenheit verbinden sich, um eine Gegenwart wissenschaftlicher Forschung zu schaffen. Die Zeit ist also dreidimensional in der Geschichte der Wissenschaft. Und nur in der Geschichte zeigt sich die Zeit in ihrer wahren Potenz.

Sprache II, 257

Marx’ ökonomischer und historischer Materialismus geht von der gleichen Art häretischer Folgerichtigkeit aus, mit der uns unsere Pfingstsekten heute plagen. Diese Sekten sind unvermeidlich als unsere gerechte Strafe dafür, daß wir den dritten Artikel des Pfingstgeistes stets vergaßen. Dementsprechend ist der Marxismus eine unvermeidliche Häresie, denn bloße „ökumenische Bewegungen“ werden uns nicht retten; sie entspringen aus einer rein geographischen Sicht. Aber die Christenheit bewegt sich nicht im Raum, sondern sie besiegt den Tod durch neue Zeitfugen. Sie ist Gottes Ökonomie. Wenn die Zeit aus den Fugen ist, muß Hamlet sie in seinen Tod zurecht rücken. Dieser Haushalt der Generationen von Seelen muß an die Stelle des Haushalts der Bücher treten. Wenn das Leben über den Tod triumphiert, mag wohl der Lebensstandard sinken; allein der Haushalt des Heils kann die Haushaltspläne der säkularen Revolutionen überwinden.

Sprache II, 297

Wir müssen zwei Mächten den Laufpaß geben, die das abgelaufene Jahrhundert tyrannisiert haben: der Romantik und der Utopie. Die haben uns zusammen in den Abgrund gestürzt. Die gesamte reiche Romantik verklärte die Vergangenheit. Die Utopisten aber planen die Zukunft. Wer die Zukunft plant, leugnet das Stiften. Wer in der Vergangenheit seine Geheimnisse sucht, der leugnet den Fortgang der Schöpfung. Drehen wir die beiden Richtungen um. Die Zukunft dünkt dem Stifter geheimnisvoll, die Vergangenheit aber wird von ihm nüchtern durchschaut. Wo immer der Tod dem Leben dienstbar wird, aus Liebe und Hingabe, da wird die Zukunft geheimnisvoll. Denn nur die Selbstsucht rechnet alles vorher aus. Hingegen unsere Vergangenheit werde zur Utopie, nämlich zu einem nichtigen, ungenügenden, unbefriedigenden Ort. Was ja der Name Utopie besagen will. Utopos bedeutet den Unort, den Nicht-Ort. Die Zukunft werde voller Götter. Die Vergangenheit der Physik und der Weltkriege aber werde als Utopie, als unzulänglich durchschaut. Dann wird Gott uns nachsehen, wenn wir ein bißchen seine Polytheisten werden. Denn der eine Schöpfer und seine vielen Elohim, seine Götter, werden am Ende nicht einander widersprechen. Der Dienst an den Elohim wird uns vielmehr gestatten, in reicher Gliederung das volle Ebenbild des Schöpfers zu werden, und das heißt auf dem festen Boden wieder zu landen, den jedesmal das vertrauensvolle In-Eins-wirken mehrerer Generationen aus den Fetzen des Raumes erschafft. Die Götter des Landes ruft nicht der starke Arm des einzelnen herbei, wohl aber wird ein Land bestellt, wo die vier Jahreszeiten von Stiftern, Vätern, Söhnen und Enkeln zusammenwirken.

Sprache I, 192

In der Natur gibt es gar nicht so etwas wie Gegenwart; ein Augenblick, dünn wie eine Rasierklinge, scheidet Vergangenheit von Zukunft. Die Gegenwart wird geschaffen unter dem Druck von Zukunft und Vergangenheit. Du und ich schweben zwischen Vergangenheit und Zukunft, und wir wissen es und müssen das beste daraus machen. Was wir sagen, das eben sagen wir unter dem Druck von beiden Zeiten. Die Gegenwart ergibt sich erst im Zusammenprall von Zukunft und Vergangenheit, nur aus Glauben. Darum ist jedes Wort, das wir sagen, alt wie neu, traditionsgebunden wie zukunftsbeladen. Wir steuern dahin zwischen den Ursprüngen des uns in Sprache, Sprechen und Denken Gegebenen und unserem zukünftigen Geschick. Echte Zeit hat zwei Richtungen: rückwärts und vorwärts; sie erstreckt sich vom Jetzt, wo wir sprechen, in die Vergangenheit und in die Zukunft. Das mechanische Bild einer geraden Linie, die in der Vergangenheit bei Null beginnt und vorwärts auf die Zukunft hin verläuft, läßt sich nicht auf ein lebendes Wesen anwenden, das einen Ausgleich finden muß zwischen dem Rück- und Vorblick und beides abwägen muß: Leistungen und Bedürfnisse.

Sprache I, 321

Für eine Metanomik der Zeit ist der Begriff der Zeit-ungenossen-schaft grundlegend. Denn sie erblickt den Geschichtsprozeß gerade darin, daß Menschen sich zu einer gemeinsamen Zeit durchkämpfen. Wir treten ja liebend in eine gemeinsame Gegenwart, wo uns vorher eine gleichgültige Welt gegenüberstand. Eine gemeinsame Zukunft wartet derer, die gleichen Glaubens sind. Und aus derselben Geschichte stammen alle die, die die gleichen Hoffnungen haben.

Sprache II,384

Zeithergabe ist die Bedingung der Lehre. Wir müssen uns Zeit füreinander nehmen, wenn wir voneinander lernen sollen. Aber die Zeiten, welche Lehrer und Schüler hergeben, sind entgegengesetzter Qualität. Und wir müssen diesen Gegensatz ernstnehmen, damit wir auf die zeitbildenden Kräfte selber stoßen.
Der Lehrende spricht zu einem Schüler, weil dieser potentiell „jünger” ist, weil er also ihn, den Lehrer, zu überleben vermag. Die sonst im Lehrenden zu Grabe getragene Wahrheit wird dadurch, daß ein Lernender sie empfängt, gegen den Tod ihres Trägers geschützt. Die Zukunft der Wahrheit wird also von dem heutigen Dasein des Lehrers abgelöst. Dieser dringt über sich selber hinaus. Sie wird also sozusagen „vervorwärtigt”. Der Lernende umgekehrt gewinnt Zutritt zu der im Lehrenden ihm entgegentretenden Vergangenheit. Er wird dank der Belehrung vor sein eigenes Leben zurückgeführt. Er wird „verrückwärtigt”.

Sprache II, 391f.

Die Leute tun so, als ob sie die Dreifaltigkeit - Vater, Sohn und Heiliger Geist - durch irgendeinen allgemeinen Gottesglauben ersetzen können, und sie tun so, als ob die Hoffnung das einzige ist, was heute, am Ende der Zeiten und im Zeitalter der Atombombe, die Menschheit noch zusammenhalten kann. Wenn Sie die Bücher von Paul Schütz oder von Ernst Bloch lesen - also hier Marxisten und dort Theologen -, so fällt Ihnen auf, daß sie dasselbe tun wie der Ökumenische Rat der Kirchen in Evanston, der auch, um den Wirtschaftlern zu gefallen, seine Tagung benannt hat: „Jesus Christus, die Hoffnung der Welt.” Das sind alles Leute, die aus dem Diesseits die Zukunft ableiten wollen. Ohne Tod, ohne Schmerz, ohne Leiden, ohne Verzweiflung, ohne Nacht soll der nächste Tag anbrechen, nur weil wir das so hoffen.
Das neue Testament hat - wie Sie wissen - vorne vier Evangelien und dann eine Masse Briefe. Was steht denn in den vier Evangelien nicht drin? - das Wort „Hoffnung”. Das Wort Hoffnung kommt in den vier Evangelien nicht vor. Aber das Wort „Glaube“, um das ist die „Frohe Botschaft” geschrieben, daß nämlich der Herr soviel Glauben hatte, daß aus dem Senfkorn eine ungeheuere Staude geworden ist, die christliche Kirche.
Hoffnung ist nur ein Zufügen zu etwas, was man schon hat, was nun besser werden soll. Wenn Sie heute leben, dann können Sie sagen: Ich hoffe, auch morgen zu leben, oder ich hoffe, in Gesundheit meinen 100, Geburtstag zu erleben, oder ich hoffe, einen Lehrauftrag zu kriegen bei dieser ungeheuren Wassersnot der Universität.
Das ist nicht Glaube. Der Glaube ist nämlich ganz etwas anderes, der Glaube sagt: Ich bin bereit, alle meine bisherigen Hoffungen preiszugeben. Ich weiß nicht, ob das hoffenswürdig ist, daß ich heiraten will oder reich werden will oder einen Volkswagen besitzen oder eine Reise nach Amerika oder um die Welt machen kann. Ich hoffe das, ja. Ich bin aber jederzeit bereit, wenn es Gottes Wille ist, einzusehen, daß er es besser weiß. Glaube heißt also die Fähigkeit, das bisherige ideologische Gespinst, das ich mir selbst umgeschleimt habe, abzustoßen und zu sagen: Mein Wille soll doch nicht geschehen, sondern Gottes Wille, und der wird schon besser wissen, was mir frommt, als ich mit meinen Lebensplänen und meinen Ersparnissen und was weiß ich noch alles. Alles Hoffen setzt die Vergangenheit fort, aller Glaube setzt die Zukunft durch! Das ist nicht dasselbe, Durchsetzen und Fortsetzen. Es wird aber heute völlig vermischt. Und die Welt ist sehr krank, weil die Ökonomie des Glaubens mit dem Glauben der Ökonomen verwechselt wird.
Die Verwandlung der Geschichte in ein Heute, das ist die Kraft des Glaubens, und das ist die Ökonomie des Glaubens; denn da rücken Hoffnung, Liebe und Glaube an ihre richtige Stelle. Nur das Kind Gottes, das noch glaubt, von Gott geschaffen zu werden, ist dem Leiden gewachsen. Jeder Mensch, der nur hoffen will, bleibt in dem Vorparadies des irdischen Menschen, da, wo bei Dante das irdische Paradies geschildert wird, zwischen Fegefeuer und Himmel.

Rundfunkansprache 1963

Dank Plato und der Naturforschung ist das Gleichgewicht zwischen Zukunft und Vergangenheit gestört. Vor die Geburt wollen die Leute dringen, aber nicht mehr hinter den Tod. Alles wollen sie wissen, mit anderen Worten: nichts wollen sie glauben. Denn an die „vor-der-Geburt”-Geschichte reicht man durch Wissen heran, hingegen an das nach dem Tod Geschehende durch Glauben. Aber gemeinsam leben läßt sich nut, wenn wir ebenso hinter unseren Tod wie vor unser Leben dringen. Der Glaube an die Zukunft - zum Unterschied von den verflossenen Jahrmillionen der Geologen - mißt freilich die Jahre der Zukunft nicht im einzelnen ab. Vielmehr ist die Eigenschaft, auf deren Einsatz hin Gemeinschaft sich bildet, gerade die Unermeßlichkeit der Zeit; daß wir also aufhören, die Zeit zu messen, gibt ihr den Charakter der Unendlichkeit. Die geglaubte Zeit bleibt - vielleicht tatsächlich begrenzt, und sie endet irgendwann. Aber die gemeinsame Zeit bildet sich nicht, solange wir auf diese Begrenztheit starren oder an dies Ende denken. Sprache II, 398 Wir machen uns wohl alle Vorstellungen über die Zukunft unserer Kinder. Aber wehe uns und ihnen, wenn wir diese unsere Vorstellungen über ihre Zukunft mit ihrer wirklichen Zukunft verwechseln. Die wirkliche Zukunft entspringt aus der Wirksamkeit unseres Glaubens, ihrer Hoffnungen und unserer gemeinsamen Liebe. Diese gewirkte Zukunft muß unsere bloßen Vorstellungen über die Zukunft jeden Tag aufs neue aus dem Felde schlagen.

Sprache I, 402

Der volle Glaube ragt in die Zukunft hinüber. Diese Zukunft ist nicht verlängerte Gegenwart. Nein, der Weg in sie wird durch meinen eigenen Tod so unterbrochen, daß meine Gegenwart jäh abbricht. Ich kann nur „wiederkommen”, muß aber zunächst sterben: Daher ist das Verdienst des Glaubens um so größer, je bildloser er ist, je freier von vorgefaßten Vorstellungen. Die Hoffnung hingegen ist nicht bildlos. Der Mensch kann nur in bestimmten Vorstellungen hoffen. Deshalb haben Juden und Christen und Mohammedaner größere Unterschiede im Glauben als in ihren Hoffnungen. Die Hoffnung belädt uns mit bildhaften Erwartungen. Wir hoffen, uns wiederzusehen, unsere Hand zu behalten, zu siegen, gesund zu bleiben. Offenbar würden wir glauben müssen, auch ohne uns wiederzusehen, auch im Exil, auch in der Niederlage oder der Krankheit. Die Evangelien kommen ohne das Wort „Hoffnung” aus, denn sie sind die Aussaat eines neuen Glaubens.

Sprache II,412

III. Die Geschichte des Heils auf Erden ist die Geschichte des Vordringens des Singulars gegen den Plural

Das Heil kommt in eine Welt zahlloser Stämme, vieler Länder und Erdteile und vieler Götter. Die Geschichte des Heils setzt Singulare gegen jeden dieser Plurale. Und je nachdem sie sich gegen die Mehrzahl der Götter, die Mehrzahl der Länder oder schließlich drittens die Mehrzahl der Stämme richtet, gliedert sie sich in drei Epochen. In der ersten Epoche wird der Singular des Einen Gottes durchgesetzt gegen den Plural der vielen Abgötter. Das Resultat dieser Epoche ist die christliche Kirche, und ihre Geschichte füllt das erste Jahrtausend unserer Ära. Am ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung ist daher die Kirchengeschichte der wichtige und der interessante Teil.
Im zweiten Jahrtausend wird der Singular der Einen Welt durchgesetzt gegen den Plural der unverbundenen Erdteile, der chinesischen Mauern und der unentdeckten Länder unserer Erde. Das Resultat des zweiten Jahrtausends ist die Einheit der natürlichen Welt, und deshalb ist die Weltgeschichte das große Thema des zweiten Jahrtausends.
Es muß aber auch noch der Singular des Einen Menschengeschlechts durchgesetzt werden gegen die verschiedenen Lebensalter im Volk, gegen die verschiedenen Rassen unseres Stammbaums und gegen die Klassen in der Gesellschaft. Und es ist nach dieser Richtung, dass sich der Schwerpunkt der menschlichen Kämpfe verlegt. Rassenkampf, Klassenkampf, Jugendbewegung brechen heute auf. Sie stellen an die Zukunft die große Frage nach der Einheit des Menschengeschlechts.
Das dritte Jahrtausend wird nach dem Singular der Heilsgeschichte trotz der Verschiedenheit der Stämme fragen und die Antwort geben müssen.

Heilkraft 29

Genau deswegen, weil das Christentum die Zukunft erschaffen hat, ist der Fortschritt die Gabe der christlichen Zeitrechnung.

Zukunft 178

Der ursprünglich aus christlicher Einsicht geschaffene Fortschritt war von zerbrechlichen, aber lebendigen Herzen abhängig, die sich einverstanden erklärten, zu sterben und Geburtsstätten Gottes zu werden; die todferne und leblose Maschinerie des modernen „Fortschritts” verwirft aus logischen Gründen das Herz als ein unzuverlässiges Ärgernis. Der Erfinder eines mechanischen Herzens gilt für Millionen von Amerikanern als ein Halbgott.

Zukunft 124

Der neue Sonnenkalender erzieht die Menschen dazu, sich die Zukunft nicht als etwas Neues zu denken, sondern als etwas, das im voraus berechnet werden kann. In dieser Welt der Wirtschaft und der Technik ist die Zukunft nichts als die Verlängerung der Vergangenheit. Hätten frühere Zivilisationen die Zukunft als ein Anhängsel zu der uns bekannten Vergangenheit zu denken gewagt, so wäre wahrscheinlich niemals eine besondere grammatikalische Form für das Futurum erfunden worden. Wirkliche Zukunft umfaßt in ihrer eigentlichen Bedeutung eine Qualitätsänderung, eine Überraschung und eine Verheißung. In der Zukunft leben heißt, gleichgültig der gegenwärtigen Mühsal gegenüber zu sein.
Die Abschaffung der echten Zukunft ist der Preis, den wir bezahlen müssen, wenn wir unseren Kalender so überlasten, als wenn die kommenden Tage ebensosehr unser eigen seien wie unsere vergangenen. Wer die Zukunft als sein Privateigentum behandelt, wird nie die volle Wohltat ihres regenerativen Charakters erfahren. Natürlich kann ein erwachsener Mensch nicht umhin, die Zukunft als logisches Ergebnis seiner Vergangenheit zu behandeln. Er muß sich notwendigerweise von seiner Vergangenheit ein halbes Jahr oder mehr im voraus borgen. Aber wenn er das tut, zeigt er, dass ihm wenig wirkliche Zeit übrigbleibt. In der gesamten Zeit, die er im voraus verabredet ist, kann wirkliche Zukunft in sein Leben nicht eintreten. Denn diese Festlegung im voraus verhindert, dass unsere Tage in das Buch des Lebens eingehen.
Die moderne Abart der Zeit, die wir Arbeitszeit nennen, ist erforschtes Gebiet. Sie ist vorweggenommene Zeit, die für die Produktion notwendige Zeit, die von einem festgelegten Punkt in der Zukunft nach rückwärts berechnet wird. Wer in diesen „Stundenplan“ verstrickt ist, gehört zu einem Denkschema, das in der Vergangenheit errichtet wurde. Die Struktur der industrialisierten Welt läßt das Rädchen in der Maschine in den Vorhöfen oder Vorzimmern des wirklichen Lebens, in einer im voraus organisierten Welt ohne Zukunft. Und es erhebt sich die Frage: wo wird dieser Mensch seine Zukunft finden?

Der unbezahlbare Mensch 1955,53ff.

Über alle Zeit, die jetzt dem Menschen erträglich dünkt, wird der warten und harren müssen, der die Fruchtbarkeit dem Asphalt unserer Großstädte wieder abgewinnen will. So, wie wir heute leben, ist die Fruchtbarkeit sozusagen nur noch ein Überrest alter Ordnungen, romantischer Ordnungen der Bauernschaften, der Kleidermoden, der Traditionen auf dem Lande. Die Wirklichkeit sieht ja so aus, daß wir aus den hastig lebenden, frühreifen, geschlechtsüberforderten Kindern von zwölf, dreizehn und vierzehn Jahren herauswachsen lassen müssen langsam reifende, geduldig wartende, gläubig staunende, immer noch nicht ermüdende Seelen. Hier ist also der Weg des Volkes Gottes neu offenbart. Die alte Zeit hat in den Leiden der Märtyrer, in dem Harren der Kinder Israels in der Wüste immer wieder um solche Verlangsamung des Lebens gewusst.
Gott weicht in seinen Himmel zurück, sobald wir seine Schöpfungszeiten vergewaltigen. Er hat sich zurückgezogen, und deswegen, im Gefühl dieser Vereinsamung, habe ich darum gebeten, vom Volke Gottes einstweilen nicht zu reden. Als Verheißung darf vielleicht unsere Stimme dieses Wort dann wieder in den Mund nehmen, wenn wir als die Qualität das „Noch-nicht”, „Noch-lange-nicht”, „Wer- weiß-wann” hinzufügen. Mit der äußersten Geduld gegenüber dem Gebrauch dieses heiligen Namens gewinnt das Volk Gottes die Qualität aus dem 22.Psalm zurück, die ihm heute verloren gegangen ist - die Qualität der Berufung, die Qualität der endgültigen Bestimmung zu neuer Fruchtbarkeit, zu einem Augenblick, wo der Mensch und das Volk nicht mehr im Gegensatz stehen, weil ein Völkerschoß gläubig ihr Einatmen, innehalten, Ausatmen bestimmt

Rundfunkansprache 1960

(Wahrer) Fortschritt bedeutet für uns, mehr und mehr der wahre Mensch zu werden, den unser Schöpfer ins Leben ruft und nicht von unserer Verantwortung in dieser Aufgabe abzufallen. Mein Glaube an den Fortschritt besteht in der Überzeugung, daß jedes Jahrhundert unseres Zeitalters immer weniger abgefallen ist und daß der Mensch immer natürlicher geworden ist, immer vollständiger dementsprechend, was er von Anfang an sein sollte. Während uns die „Evolution” lehren will, wie wir uns an unseren eigenen Haaren in die Höhe ziehen, bringt uns der Fortschritt immer mehr in die Hand unseres Schöpfers und läßt uns immer weniger aus seiner Hand fallen. Das Symbol der Spirale ist nutzlos mit seiner schlangenartigen Rückwärtsbewegung, weil es versucht, zwischen den Vorstellungen von Abwärts und Aufwärts einen Kompromiß zu schließen. Der Mensch ist nicht dazu erschaffen, die Wege der Geschichte zu „kennen”; ihm ist einzig erlaubt, an sie zu glauben. Die Hauptuntugend der Schlange ist, zwischen dem, was wir wissen können, und dem, was wir glauben, Verwirrung zu stiften. Die Spirale ist die Schlange selbst, in ihrem ausgestopften Zustand, wenn man so sagen will. Die Spirale drückt eben im Maschinenzeitalter genau das aus, was die Ägypter in der Schlange sahen. Daß die Zuschauer sich in ihrem Verstand dieses bedeutungslose Symbol wählen, kann nur beweisen, wie gern wir bereit sind, jeden Preis für den Stolz zu zahlen, nicht weiter als Zuschauer in dem großen Welttheater der Geschichte zu sein. Unter keinen Umständen ist die Geschichte eine Spirale. Unter keinen Umständen ist der Mensch ein Zuschauer der Geschichte.

Zukunft 128f.

Was Kyros 540 vor Christus oblag, und was Konstantin 325 tun mußte, die Anrufung des Einzigen wahren Gottes, war nur die Wiederaufnahme der Offenbarung am brennenden Busch, die In-Eins-Ziehung der drei für die Heiden ewig getrennt bleibenden Gezeiten: Zukunft, Vergangenheit, Gegenwart. Gott lebt nur da, wo diese drei Zeiten alle Seine Zeiten bleiben. Die Hitlers leben in der Vergangenheit, die Konjunkturpolitiker leben in der zyklischen Gegenwart, die sehnsuchtsvollen Hungerleider nach dem Unerreichlichen leben in der Totalrevolution der nackten Zukunft.

Sprache II, 758

Erst wird uns ein Ereignis verheißen: so wird Zukunft. Wir müssen ein Ereignis erleiden, und so wird Gegenwart. Wir müssen ein Ereignis festhalten, und so wird Vergangenheit. Aus Zukunft, Gegenwatt und Vergangenheit wird die Geschichte und besteht Geschichte, bis sie summiert, analysiert, klassifiziert, begraben und zu Schutt werden darf. Zeitlos im Raum liegt dann das Tote, Nur der Nominativ ist dann übrig, der bloße Name, oder sogar nur das Wort, die Ziffer, wie Karl Jaspers das nennt: die „Chiffre”. Ist die Sprache so gestorben, dann muß ein neuer Vorfall einen Namen wieder ausrufen. Denn nur Vokative erschaffen die wirkliche Zeit, weil sie immer mit der Verheißung anhebt. Die Eulen der Minerva, die Definierer, die Revisoren, enden die Epoche. Sprache II,764 Es ist durchaus zulässig, die christliche Heilsgeschichte den Gottesartikeln unsres Dogmas zu unterstellen, die das Apostolikum ausspricht. Hat man erst einmal unbefangen und untheologisch zur Kenntnis genommen, was vom Jahre 0 bis heute wirklich passiert ist und was sich heute vorbereitet, dann bringt diese nachträgliche Kontrolle auch dem Dogma Gewinn. Ich halte diesen Gewinn für sehr beträchtlich. In den drei Glaubensartikeln ist bekanntlich erst von der Schöpfung, dann von der Erlösung und zum Schluß von der Offenbarung die Rede. Sobald wir nun beginnen, heilsgeschichtlich zu denken, so öffnet sich unser Blick für die erstaunliche Tatsache, daß die historische Verwirklichung dieser Gottesprozession in einer anderen Reihenfolge stattgefunden hat. Die Kirche des ersten Jahrtausends war naturgemäß einzig darauf bedacht, Corpus Christi zu sein. Und so ist der zweite Glaubensartikel das Herzstück der Kirche. Jesu Vater der wahre Gott, Jesus der wahre Christ, der Geist seiner Kirche der Heilige Geist. Wer das glaubt, kann selig werden. Die Kirche ist die Gemeinschaft der Erlösten.
Im zweiten Jahrtausend wird Frau Welt, das gespenstische kosmische Ungeheuer, als Schöpfung zum Schöpfer zurückgeführt. Magie, Dämonen, Chaos, Unordnung, Trennung aller Teile der Welt wird aufgehoben. Nachdem die christliche Seele ihren Wohnplatz in Gott gefunden hat, konnte die Natur von aller Widergöttlichkeit gereinigt werden. Der erste Glaubensartikel ist erst in der natürlichen Welt lebendiger Besitz der Menschheit geworden. Die moderne Naturwissenschaft ist also selber ein heilsgeschichtlicher Vorgang. Sie erst hat ernst damit gemacht, daß das Himmelreich nur in unser Herz kommen kann. Der Sternenhimmel ist nicht die Residenz eines alten Herrn mit einem weißen Bart und posaunenblasenden Engeln um ihn herum. Die sieben Himmel sind um nichts göttlicher als die sieben Schichten der Erdrinde. Gegen die vielen Lokalgötter der Antike mag die Versetzung Gottes in einen lokalen Himmelsraum ihre Wirkung getan haben. Unsere Kinder können von einem solchen Gott nicht berührt werden. Das danken wir der Naturwissenschaft. Sie pflanzte Plato in die paulinische Universität und verlieh der antiken Wissenschaft die paulinischen Elemente, die Plato und Aristoteles abgingen: die Gewißheit des Fortschritts, die Öffentlichkeit des Geistes, die selbstlose Bruderschaft des Forschers. Diese drei Prinzipien hat Paulus aus der Liturgie der Kirche in die Lehre der Völker übertragen und damit deren Wissen dem Heil der Welt geöffnet. Das dritte Jahrtausend ringt um den dritten Glaubensartikel. Die Wiederbelebung aller erstorbenen Teile des einen Menschengeschlechts, die Wiederbegeisterung aller mechanisierten Teile des einzelnen Menschenlebens ist sein doppeltes Anliegen. Dieser dritte Glaubensartikel soll Gewalt gewinnen über ein Leben, während dessen wir mehrmals unsere Rollen wechseln müssen: deshalb bedarf er eines Zusatzes. Ist unser Leben so wechselnd, dann muß der heilige Geist wieder und wieder ergreifen können. Und damit er das kann, muß er auch von uns Jahr um Jahr oder Jahrzehnt um Jahrzehnt wieder entdeckt werden können. Die geistigen Entdeckungen des Menschen geschehen ihm aber immer nur in der Form neuer Ausdrucksweise und neuer Sprache. Der Zusatz zum dritten Glaubensartikel würde also lauten: „Ich glaube an den Heiligen Geist…, der sich unser wiederbemächtigt hat von Geschlecht zu Geschlecht und den wir neu entdecken dürfen an jedem Lebenstag.” Wie der alte Hymnus der Kirche es schon ausdrückt: Qui temporum das tempeia, ut alleves fastidium (Der du den Zeiten gibst Gezeiten, daß-du Überdruß behebst). Diese freundliche Erleichterung gibt Gott auch unserem geistigen Leben; er erlaubt uns einen Wechsel unseres Vokabulars. Und er erlaubt ihn uns, damit die Offenbarung uns mit ursprünglicher Gewalt, herrlich wie am ersten Tag, neu ergreifen kann. Damit ist ans Licht gestellt, weshalb das Weltalter der gesellschaftlichen Vergänglichkeit es in erster Linie mit der Wiedererzeugung der Offenbarung zu tun hat. Und nun ergibt ein Rückblick: das erste Jahrtausend hat es mit dem zweiten Glaubensartikel zu tun, das zweite Jahrtausend mit dem ersten, das dritte Jahrtausend mit dem dritten. Das Schlagwort für das erste Jahrtausend lautet resurrectio, Auferstehung, Ostern. Das Schlagwort des zweiten Jahrtausends lautet Renaissance, Wiedergeburt, Weihnacht. Das Schlagwort, um das die Völker und Massen heute noch sich verzehren unter dem Druck der Propaganda, des Radiogeschreis, des künstlichen Lichts und des künstlichen Lärms, lautet re-inspiratio, Wiederbegeisterung, Pfingsten, ja auch bescheiden genug: respiratio, atmen. Den „Atem des Geistes” gilt es wieder zu entdecken. Denn atmen kann nur der ganze Mensch. Deshalb bittet die Kirche am Heilig Abend schlicht:
„Herr, laß uns atmen”, Da nobis respirare.

Heilkraft 35ff.

Wir haben genau soviel Zukunft, als wir unsere Vergangenheit erkennen. Nur zusammen dürfen Zukunft und Geschichte unsere Glaubensartikel sein! Wenn jemand den Wunsch hat, mit seiner eigenen Zeit zu vergehen, kann ihn niemand hindern oder ihm das widerlegen. Die Zeitgrenzen unserer Rolle auf Erden wählen wir selber.

Sprache II,830

Nur um der Zukunft willen gehen wir nicht nackt einher, sondern sind mit Geschichte bekleidet.

Geheimnis 31

Dr. G. M.,
4813 Bethel,
Landgrafenweg 4