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Meister Fritz Eitel: Wer hat Recht (1920)

Wer wollte diese heikle Frage zu aller Zufriedenheit beantworten ? Niemand!

Oder wird es soweit kommen, dab dies doch möglich ist? Niemals, solange es Menschen gibt! Menschen mit Verschiedenheit des Charakters, des Gemüts, des Berufs, des Standes, des Geschlechts oder auch der Körperbeschaffenheit. Diese Verschiedenheit der menschlichen Natur ist eine der Ursachen fortgesetzter Kämpfe. Kämpfe, hervorgerufen durch die Meinungsverschiedenheit in der Auffassung des Rechtsbegriffs. So, wie die Elemente im häufigen Kampf miteinander stehen, wie die Natur in stetem Wechsel begriffen ist, so werden auch die Menschen immerwährenden Kämpfen unterworfen sein. „Was er schuf, zerstört er wieder. Nimmer ruht der Wünsche Streit“, sagt Schiller. Diese menschliche Naturnotwendigkeit ist unabwendbar und an sich nichts Schlimmes. Darauf weist auch ein Zitat aus Göthe’s Werken hin, das lautet: „Nur nicht so viel Federlesens, laß mich in den Himmel rein, denn ich bin ein Mensch gewesen, und das heißt ein Kämpfer sein”. Aber dennoch darf der Mensch als das entwickeltste und edelste Geschöpf sich nicht mit der rücksichtslosen Natur des Raubtieres oder mit der entfesselten, haßerfüllten Wut des rasenden Feuerelements vergleichen. Er muß höher stehen. Seine Kämpfe müssen in Bahnen gelenkt werden, die seiner würdig sind. Nicht ewig sollen die Worte Schillers Berechtigung haben: „Doch der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn”.

Für einen wahrhaft gebildeten Menschen, d. h. nicht allein mit Schulweisheit vollgepfropften, sondern moralisch gebildeten Menschen gilt heute schon die Behauptung als widersinnig: „Ich habe unter allen Umständen recht!“ Denn es wird wohl kaum jemand geben, der ernsthaft zu bestreiten wagt, daß jeder Mensch mit mehr oder weniger Fehlern behaftet ist. Schon daraus läßt sich die unzweifelhafte Folgerung schließen, daß auch jeder mehr oder - weniger Irrtümern und Täuschungen unterliegt, d. h. mit seiner Meinung oder in seinem Tun und Lassen unrecht hat. Dessen ungeachtet, wird es doch der weiseste Orakelspruch nicht fertig bringen, den Ausweg zu finden, der zur allseitigen Zufriedenheit führt, wenn er die Frage entscheiden soll: Wer hat recht? Praktisch erfolglos wird auch der salomonische Spruch des gemütlichen Dorfschulzen sein, der nach Anhörung der beiden streitenden Parteien jedem erklärte: Du hast recht! Und als der Gemeindediener einwandte, daß doch unmöglich beide Teile recht haben könnten, diesem prompt erwiderte: Du hast auch recht.

Die Verschiedenheit des Rechtsgefühls des Einzelmenschen überträgt sich natürlich auf Familie, Gesellschaft und Staat. In jeder Staatsform wird es infolgedessen verschiedene Auffassungen und Rechtsbegriffe geben. Abgesehen von denjenigen, die ausnahmsweise als hartnäckig und rechthaberisch genannt werden dürfen, glauben grobe Teile der Schichten der menschlichen Gesellschaft aus ehrlicher, innerer Überzeugung, mit ihrer Ansicht das allein Richtige getroffen zu haben. Die natürliche Folge ist ein immerwährender, erbitterter Kampf ums Recht. — Ist das notwendig? Woher kommt das? oder besser, wie kann dieser Kampf gemildert werden? Wie können Rechtsbegriffe ausgeglichen werden? Es fehlt am gegenseitigen Verständnis. Der im engen Gefühlskreis verharrende Blick einer Masse von Menschen und das Widerstreben, sich in die Schwäche und Stärke, in das Gute und Schlimme und deren Ursachen bei den Nebenmenschen hineinzudenken und zu fühlen, stören ohne direktes Übelwollen den Ausgleich des Rechtsbegriff. Ich möchte hier ein Beispiel gebrauchen. Es ist, bei der schon angeführten Verschiedenheit der Menschennatur, als besähe jeder die Vorgänge seiner Zeit durch einen Scheinwerfer. Was er innerhalb dieses Lichtkegels sieht, das kennt er aufs Genaueste. Täglich dasselbe und immer dasselbe. Allmählich bildet dieser begrenzte, lichte Raum seine Anschauungsweise, die er sich nicht bestreiten läßt, weil sein Blick ihm täglich untrügerische Tatsachen vor Augen stellt, aber was außerhalb des Lichtkegels liegt, ist für ihn dunkel. Daraus ergibt sich ein verkehrter, einseitiger, mangelhafter Rechtsbegriff. Kein Wirkungskreis, kein Lichtkegel ist so groß, um alles zu übersehen. Deshalb ist es notwendig, sich heranzudrängen an die verschiedenen menschlichen Scheinwerfer, und durchzublicken in das Gebiet des Nebenmenschen, um verstehen zu lernen. Dann wird gegenseitig die Beantwortung der Frage: wer hat recht? eine weniger schwierige sein.

Wer sich sträubt, in die Art und Gründe der Anschauung des Andern einzudringen, der kann auch kein Vertreter des wahren Rechtsstandpunktes sein. Reiche Erfahrung ist ein fundamentaler Grundsatz des Rechtsurteil. Wenn auch nie eine Götterdämmerung die ganze Menschheit beglücken wird, wenn es auch unvermeidliche, schwankende Rechtsbegriffe immer geben wird, aber sie dürfen bei gegenseitigem Verständnis nicht von Haß durchsickert sein. Wenn der gesunde und arbeitende Mensch infolge des Drucks der Sorge klagt, mir geht es schlecht, und er fragt den Blinden im Blindenasyl, oder den Krebskranken im Sanatorium, so wird der ihm sagen: Dir geht es nicht schlecht. Wer hat recht?

Mögen Stürme und Kämpfe über das Menschentum hinweggehen, sie können zum Segen sein, wenn Achtung vor der Meinung und dem Rechtsbegriff des Nebenmenschen das Menschheitsstreben in Bahnen lenkt, die in dem Gefühl gemeinsamer Arbeit eine Frage nicht mehr so hart klingen läßt, die Frage: Wer hat recht?

D.M.G.

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Rosenstock, Eugen (Psyd.: Fritz Eitel), Wer hat Recht? (1920), in: Daimler Werkzeitung, 2. Jahr, Nr.5/6 (1919/20), hrsg.v.d. DaimlerBenz AG, Moers: Brendow Buchkunstverlag o.J. (ND 1991), S.84/85.

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