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Rosenstock-Huessy: Was kostet die Geschichte? (1955)

4.5.1955

Weil wir sprechen dürfen, muss ein Preis gezahlt werden. Der Preis ist das rechtzeitige Lossprechen und die offene Absage, nachdem das Gesprochene erledigt ist. Aber wie sollten wir das rechtzeitig und offen wagen? Denn jede einmal ergehende Berufung stiftet aber Assoziation, Einheit, Bund. Sprechen, Ansagen, Ernennen sind der Kitt der Geschichte. Dieser Kitt umgreift und übergreift Geschlechter und Landschaften. Er bindet. Unerhörtes wird dadurch allein möglich, dass wir solchen Rufen Gehorsam schulden und ihnen Folge leisten. Wie könnte - ohne Gehör eine Pyramide oder die Peterskirche oder die George-Washington Brücke mit einem Zauberschlage entstehen? Brauchen wir nicht einen Zauberer für solche Taten? Der Zauberer ist die Sprache, so lange sie im Hörer Gehorsam hervorruft oder im Leser seine Intelligenz, seine Kraft, zwischen den Zeilen zu lesen.

Alle Zauber aber wirken unheilvoll, sobald sie überdehnt werden. Wer die Fabrikverträge kollektiv regelt, der hat den modernen Ruf der Industrie richtig verstanden. Wer aber seine Ehe als Vertrag regeln will, der hat das Zauberwort “Verträge“ ungebührlich überdehnt. Er erliegt dem Zauber. Ihn oder seine Ehe und bald alle Ehen beschädigt der allzuweit reichende Zauber eines Wortes, einer Figur: Vertrag. Ihm müsste also eine Lossagung vom magischen Bann des Allheilmittels “Vertrag“ die Augen öffnen. Der Bann des Zaubers „Vertrag“ muss gebrochen werden. Der Leser der Aufklärungsliteratur muss also heut seltsamerweise aus der Verzauberung gelöst werden, die ihn allenthalben in blosse, nackte Verträge einwickelt und verwickelt. Aus „Vertrag“, d.h. aus verständiger individueller Abrede, wird heut die Gesellschaftsordnung entwickelt. Das ist der Zauberwahn des abgelaufenen Zeitalters der Historischen Aufklärung. „Die geschichtliche Aufklärung erkennt kein Wunder an“, hat R.Pettazoni tollkühn noch 1951 ausgerufen.1 Dieser wahrhaft tierische Wahn des Herrn Pettazoni, der sich Religionshistoriker nennt, beherrscht heut die Massen des Westens und ihre Gelehrten-Katheder. Er ist reiner Wahn der Aufklärer. Denn der Zauberer Pettazoni und seine Kongresse für die Geschichte der Religion selber fordern ja von uns die Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Autorität. Nun ist Autorität immer ein Wunder. Nie beruht sie auf Vertrag zwischen Gleichen. Sie beruht allemal auf Unterwerfung. Und Pettazoni will Unterwerfung unter seine Autorität. Hier also ergibt sich der Preis des Sprechens. Einerseits verdanken wir alle Grossleistungen der Verbände des Menschen dem Nennen und Aussprechen. Andererseits verheddern alle Gruppen sich wegen dieser Macht des Wortes in nicht länger zeitgemässe oder nicht so weit sachgemässe Bindungen. Jeder „Logos“ verlangt seinen „Apologos“; jedes Sagen sein Entsagen. Denn alles Gesagte ist spezifisch und versagt vor neuen Lagen.

Die Alten haben aus Scheu, die Ansagekraft zu schwächen, wenig vom Lossagen gehandelt. Aber sie haben es in grossartige Formen gekleidet. Unsere Zeit hat aus Angst, die Lossagekraft zu schwächen, nur liberal von der Freiheit geredet. Nichtmal die Ehescheidungen haben Stil bei uns. Das Geheimnis aber liegt offenbar in dem rechten Rhythmus von Ansage und Lossage, von Ins-Leben-rufen und Begraben, und sobald Rhythmus regiert, dann findet auch die Lossagung ihre passende Form. Dann gäbe es also Ehescheidung im guten Ton. Das Fehlen eines guten Tons für die Ehescheidung ist das Entsetzen des Zeitalters. In diesem Mangel ist es ungesetzlich und entsetzlich. Den Rhythmus von Scheiden und Binden hat Jesus von Nazareth geordnet. Er hat die Bedingungen des Begrabens und des Ins-Leben-rufens, des Scheidens und Bündigens, festgelegt. Weder das Besagen noch das Lossagen, also die konservierende und die liberalisierende Haltung sind seitdem an sich interessant. Jeder Mensch braucht ja der anderen Menschen sprachliches Bekenntnis, Treue, auch wenn er sich nur auf einen Eisenbahnfahrplan verlassen muss. Jeder Mensch braucht aber auch seine eigene Untreue, auch wenn er nur ein Mädchen liebt und um ihretwillen Vater und Mutter verlässt.

Jesus hat daher der beiden Einheit festgelegt: Jeder Logos ist immer Beides: Scheidung und Stiftung, Beerdigung und Verhimmelung. Er ist beides in Einem. Was für eine seltsam verdrehte Reihenfolge haben wir aber wählen müssen? Das Beerdigen hat Christus vor das Heiraten gestellt. Kommt denn die Verhimmelung eines neuen Rufes oder neuen Anrufes: „Alle Deutschen an die Front“, „alle Werktätigen in die Partei“, „Die Jugend “, „Europa “, nicht zuerst? Jesus hat diese primitive Rohheit unserer Aktivisten nicht ernst genommen. Denn auch der Proletarier des kommunistischen Manifests sollte ja erst einmal seine Ketten abschütteln. Er sollte klassenbewusst werden. Mit einem Wort, er sollte sich erst einmal von dem Bestehenden los-sagen. Das aber ist immer die Kraft zum Beerdigen. Kein vom Weibe Geborener, der nicht bereits, wenn er erwacht, sich wortumkleidet, namentlich berufen, namensanerkannt, vorfände. Schon das Standesamt sorgt dafür. Also ist der persönliche Rhythmus zwischen Ernennung und Abdankung niemals der, dass erst ich ernenne und dann ich abdanke, oder dass ich erst mich binde und. dann mich löse. Nein, Du und ich finden sich Ernannt vor. Um zum Zuge zu kommen, müssen wir unsererseits, das Abdanken vor der Ernennung meistern.

In der Bibel heisst das Abdanken Beerdigen und das Ernennen Himmelfahrt, oder sie sprechen statt von Erde und Himmel von Tod und Auferstehung. Die Nennkraft, der Logos des Kreuzes, stellt uns beide Akte in ihrer unlöslichen Einheit vor Augen. Der Mensch findet sich ernannt vor; wie erwirbt er die Vollmacht, selber zu ernennen? Der Logos wird Fleisch, wenn er die doppelte Vollmacht verkörpert, zum alten Zauber „Danke“, zum neuen Zauber „Bitte“ zu sagen. Solche Rede ist immer öffentliche Rede; und dieses Beerdigen und Verhimmeln sind der Inhalt des menschlichen Bundes mit der Nennkraft, sind der Inhalt der Geschichte. Alle geschichtlichen Schöpfungen schaffen einen alten Logos ab, um einem neuen Logos Vollmacht zu erteilen.

Als Preis des Fortschritts müssen also die Abdankungen, Lossagungen, Entsagungen, Lossprechungen, Bannbrüche, Eheauflösungen gezahlt werden. Schöpfung verlangt Abschaffen. Wer spricht, muss treu zu seinem Worte stehen und dennoch auch seinem Worte untreu werden dürfen! Deshalb ist es verständlich, dass die Teufelei mit dem ersten begeisterten Worte der Menschen mitgesetzt war. Denn jedem Wort kommt „eine Weile“ zu, und die Teufelei verrechnet sich in der Länge dieser Weile. Die Teufelei des Don Juan verspricht die ewige Ehe und meint eine flüchtige Liebesnacht. Die Teufelei des Nationalismus verspricht das Ewige Reich der Deutschen und meint die flüchtige Reichsgründung von 1866, Ehescheidung und nationale Versteinerung sind wohl nicht zufällig das Gespann, das den Wagen des Westens von 1870 bis 1945 in den Abgrund gefahren hat. Man sagte sieh dort flüchtig los, wo die Flucht keinen Sinn hatte, und man band sich dort auf ewig, wo das Band zum Wahnsinn führen musste. Die Kirchen aber haben immer nur vom Binden und Lösen gesprochen, statt in der christlichen Reihenfolge von Lösen und Binden. So müssen wir alles neu lernen.

Die Lossagung kostet ihren Preis. Jede Abschaffung ist zeitraubend. Die Geschichte nämlich ist viel langsamer als die Liberalen begreifen wollen. Das alte Israel ist von 70 nach Christi bis 1943 beerdigt worden. Ein blosses Abreißen der vergangenen Ernennung und Verheissung bleibt nämlich wirkungslos. Keine alte Vollmacht stirbt dadurch, dass sich einer emanzipiert gebärdet und sich selber losspricht. Wir werden losgesprochen. Keine neue Vollmacht wird dadurch begründet, dass wir uns selber ernennen. Wir werden ernannt. Jede Lossagung und Neuernennung kostet Zeit. Wieviel Zeit sie jedes Mal kostet, stellt das Budget der Zeitrechnung dar.

Die [handschriftliche Einfügung ???] Lossagung ist nicht nur wünschenswert, sie ist heilsam. Die Lossagung vom Teufel ist die Eingangsformel des Taufgelöbnisses. Der Fahneneid an Hitler hat nur deshalb soviel Kopfschmerzen bereitet, weil die Lossagung, die Ex=auctorisation, und der Exhorzismus, die Exorzisierung in tiefem Schatten belassen worden sind. Aber weil jedes treuherzige Wort ein Eid ist, der den Sprecher bindet, deshalb ist Exorzisieren so wichtig. Horkos heisst der Eid. Das Christentum masste sich die Gewalt an, von Eiden zu entbinden. Wie wir gesehen haben, geht in der Lebensgeschichte wirklicher Menschenkinder diese Entbindung von alten Eiden immer ihren eigenen Schwüren vorauf.

Mir scheint, unsere liberale Gesellschaft ist so krank, weil das weltliche Denken den doppelten Rhythmus nicht meistern kann, der sowohl über das Binden vor dem Lösen, wie über das Iösen vor dem Binden verfügen kann.

Kriege werden nicht mehr erklärt, Frieden werden nicht mehr geschlossen, Verbrecher dürfen regieren, Ehen werden zerfetzt, weil die Exorzisten zu lächerlichen Knirpsen in der kirchlichen Hierarchie zusammengeschrumpft sind. Für das Liebesleben haben sich die Psychoanalytiker an die Stelle der alten Enteidiger gesetzt. Da sie aber vom Binden nichts verstehen, so ist ihr Lösen ein ähnlicher Uebergriff geworden wie beim Proletarier der Arbeitsvertrag. Der Psychoanalytiker muss selber gebunden sein und bleiben, bevor er lossprechen darf. [Einfügung hs.???] den Patienten versichert der Analytiker existentiell ihres Bundes, damit des Patienten Loslösung ins rechte Licht rücke. Er wird nicht gebunden um der Loslösung willen. Vielmehr wird gelöst um der Bindung willen.

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  1. In der holländischen “Mnemosyne“ 1951 (N,4) p.8.