Rosenstock-Huessy: Unsichtbare Welt
Weil die Welt zu hell geworden
und mit selbstgespeistem Lichte
unsere Augen ewig beizte,
sank sie plötzlich in das Dunkel,
heute liegt sie unsichtbar.
Als ich drum im Bilderladen
diese Welt im Bilde suchte,
war ich plötzlich auch wie blind.
Keins der Bilder gab mehr Farbe,
ausgeblichen die Gestalten,
ausgeblichen ganz der Sinn.
Ausgegangen sind die Formen,
die als Gottes Bildersprache
alle Ordnung unter Menschen
heiligten und hell verklärten.
Ausgegangen ist das Licht,
das auf unsern Tageswegen
unsere Rechte, unsere Pflichten
sichtbar wies. Ausgegangen sind
sogar die klaren Worte,
die wie goldgeschnitten
immer alles wohlgereimt verklären.
Und so stand ich blind im Dunkel;
in dem Laden,
in mir selber,
in der Straße,
in dem Staate,
in dem Volk verlosch das Licht.
Und in dieser unsichtbar und
ungeformt gewordenen Welt
soll ich heute Dich beschenken,
soll das Weihnachtslicht
in eine Gabe farbig niederglühn?
Sieh auch sie verschwand im Dunkel.
Wie wenn erst noch alles wieder
ungesehen sollte werden,
eh es wieder kommen darf!
Unsichtbare kleine Gabe –
ach sie war schon inhaltsleer!
War nur eine kleine
offne, ungefüllte, leere Schale,
ohne süßen oder bittern,
ohne irgendwelchen Inhalt.
Und wie eine Schale
reicht sich uns die Zeit ja heute
ohne süßen, ohne bittern,
ohne Inhalt noch entgegen.
Nimm die Schale denn des Festes,
da die Silberschale fehlet,
da sogar der schöne Umschlag,
für die Worte eine Schale,
fehlt mit seinen goldenen Lettern:
Hier „die unsichtbare Welt”.
Nimm das Fest als offene Schale,
und das ganze Licht des Himmels,
fülle sie im tiefen Dunkel
einer unsichtbaren Nacht.
Welt des Krieges, Welt des Neides,
Welt der Menschen, Welt der Bilder,
unsichtbar und ohne Formen:
Weiche vor der Weihnacht Licht!
Eugen Rosenstock-Huessy an Margrit
Weihnachten 1917