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Rosenstock-Huessy: Symbol und Sitte als Lebensmächte (1929)

Symbol und Sitte als Lebensmächte
VON EUGEN ROSENSTOCK

I

WIR sprechen heute wieder von den Sitten, die uns — fehlen. Wir leiden unter den Symbolen, die uns nichts mehr bedeuten, und fangen deshalb an, nach Symbol und Sitte zu fragen und zu suchen. Wir sind dabei noch ungeschickt. In einem Kreis hatte ich über Symbol und Sitte zu sprechen. Die Tagesordnung war so bepackt, daß ich eine halbe Stunde später als angesetzt war, zu Worte kam, daß der Vorsitzende mich vorher ermahnte, kurz zu sein, und daß die Teilnehmer zunächst beruhigt wurden darüber, daß die ganze reichbesetzte Vortragstafel auch wirklich abserviert werden würde.

Das ist die heutige Sitte, Dinge auf Kongressen zu behandeln. Man han­delt an zwei oder drei Tagen das gesamte Seelenheil der europäischen Mensch­heit ab. Es wird eine Masse ausgezeichneter und fruchtbarer Gedanken geäußert, aber es ist, wie wenn man einen Sack Weizenkörner auf eine Betonunterlage ausstreut. Die Äußerungen verfangen nicht. Die Feststellung ist wichtig, daß auch das formlose Denken und Sprechen der Theoretiker sich fruchtbar nur in Sitten, in Kleidern von bestimmten Formen mitteilen kann.

Die heutigen Kongreßsitten sind Unsitten. Ich erinnere nur an die Historiker-, Juristen-, Philologentage mit ihrem Übermaß. Aber wo ich von Unsitte spreche, bin ich schon im Bereich der Sitte. Es läßt sich auch ganz klar feststellen, wodurch die übliche Tagungsform zur Unsitte wird. Das einzige Symbol einer solchen Tagung ist nämlich die Uhr. Jeder Red­ner, der den Kampf ums Dasein auf so einem Kongreß bestehen will, tut gut daran, die Uhr vor sich hinzulegen. Auch wenn wir uns zu dem Zweck treffen, über so ruhige Dinge wie Symbol und Sitte zu sprechen, so ergreift uns sofort die Unruhe des Fahrplanes, den die Uhr ausstrahlt. Spricht man über Ruhe und Erholung, so tut man es auf rastlose, un­ruhige Art. Die einzige Sitte nämlich, die heute in Vollkommenheit besteht, ist die des pünktlichen, „zeitgemäßen“, fahrplanmäßigen Verkehrs.

Die Klagen über das Fehlen der Sitte sind mithin nur begrenzt richtig. In jedem Augenblick der Geschichte sind Sitten vorhanden. Wenn wir heute unter Sittenlosigkeit leiden, so heißt das nicht, daß es überhaupt keine Sitten gibt. Im Gegenteil, wir werden gleich sehen, daß bestimmte Gebiete unseres Lebens außerordentlich feine, alten Zeiten fehlende Sitten, Ge­bräuche und Symbole entwickelt haben. Das Zweite, was wir hier gleich feststellen können, geht auf das Verhältnis von Sitte und Symbol. Der Fahrplan des Lebens hat in der Uhr sein Symbol. Sitte und Symbol ge­hören zusammen. Aus der Sitte erwächst das Symbol. Weshalb aber um­ gekehrt aus Symbol nicht Sitte werden kann, weshalb man also eine sitten­lose Zeit nicht mit Symbolik und Symbolismus behandeln darf, sondern daß man dem unlöslichen Auseinanderhervorgehen von Symbolen aus Sitten, und zwar in dieser Reihenfolge vertrauen muß, ist der zweite Gegen­stand unserer Untersuchung.

Aber bevor wir diese beiden Punkte erörtern, muß noch einmal festgestellt werden, was schon das erste Beispiel jenes eigenen Vortrages über Symbol und Sitte mich lehrte: über Sitte und Symbol läßt sich nicht rechten noch richten, nicht streiten noch disputieren. Sie ist oder ist nicht. Es gibt keinen kategorischen Imperativ der Sitte. Sie steht im Indikativ. Denn sie läßt sich nicht durch das Bewußtsein erzeugen. Diese Behauptung ärgert vielleicht. Aber gerade als Jurist möchte ich unterstreichen, daß in dieser Erkenntnis das Wesen der Sitte erkannt ist: in dem Augenblick, wo Sitte und Symbol beredet werden sollen, da sind sie schon nicht mehr da. Gerade deshalb war für die Rechtswissenschaft die Sitte ein bloßes Faktum wie die Kleidermode. Wir Juristen haben uns mit den Sitten nur negativ beschäftigt. Das Ei des Kolumbus war es nämlich immer, zu definieren, worin denn Recht und Sitte sich unterscheiden. War das mehr oder minder glücklich definiert, so war das juristische System mit der Sitte fertig. Auch die Theologen und Philosophen haben die Sitten auf diese Art behandelt. Wir Juristen haben nämlich gesagt: „Uns interessiert alles, was nicht Sitte, was Recht ist”, und die Phi­losophen haben gesagt: „Uns interessiert, was Sittlichkeit ist, was nicht bloße Sitte, sondern dem sittlichen Bewußtsein entsprungen ist”. Das Recht hat es mit dem Gemeinbewußtsein zu tun (Volksgeist, Gesetz­geber, Staatsraison, Verkehrsanschauung, Gesamtüberzeugung), Religion und, Philosophie mit dem Gewissen und seinem Selbstbewußtsein, mit der Seele und ihrem Gott. Beide beschäftigen sich daher mit einem Zustande, in dem die Sitten mehr oder weniger gleichgültig, sogar unbegreiflich werden. Die Sitten werden nicht hervorgerufen und heraufbeschworen von uns Juristen, Theologen und Philosophen, sondern sie werden ausgedeutet, um sie einigermaßen erträglich zu machen. Nun lehren wir Juristen, daß zum Recht nur das werden kann, dem eine ausdrückliche Rege­lung von der Vernunft gewiesen werden kann. Und damit ist über die Sitte schon ausgesagt: Ausdrücklich in vernünftiger Beweisführung läßt sich die Sitte nicht aufstellen. Die Sitte kann durch Vernunft, Spruch, Urteil nicht wiederhergestellt werden, wenn sie von irgendjemand ge­brochen ist. Wenn ich diesen Aufsatz in cyrillischer Schrift abliefere, so schadet es dem Recht zwischen mir und der Redaktion nichts, wenn mir die Redaktion den Aufsatz ungelesen wieder zurückschickt und das Hono­rar verweigert, aber die Sitte des Verkehrs zwischen Schriftsteller und Redaktion habe ich unwiederbringlich zerstört Die Abwicklung des Rechts­streites ändert nichts an dem Ungebräuchlichen und Ungehörigen meines Verhaltens. Der Aufsatz ist in falschem Gewande aufgetreten. Mein Ver­such, eine neue Sitte einzuführen, wird durch die längste Entschuldigungsrede oder Programmschrift nicht wirksamer. Eine Sitte, die von irgend­ jemandem gebrochen wird, hört in demselben Augenblick auf, ihren Sinn zu erfüllen, sie ist zerstört. Wir Juristen dürfen uns nun heute nicht mehr mit der bloßen Feststellung begnügen, daß das Recht durch Urteil wieder­hergestellt werden kann, wenn es gebrochen ist, die Sitte aber nicht. Denn die Sitte hat auch dem Recht bisher Dienste geleistet! So kommen heut gerade die Männer des Rechts und der Moral und des Gewissens gelaufen und klagen darüber, daß sie von der Nachbarin Sitte nicht mehr die Lei­stung stillschweigend erwarten können, die sie bisher wie selbstverständlich in Empfang genommen haben. Worin haben nun diese selbstverständlichen Leistungen der Sitte bestanden? Was hat Recht, Philosophie und Theolo­gie zur Voraussetzung?

Schon Carlyle hat alle Sitten durch seine Kleiderphilosophie erläutert. Denn warum tragen wir Kleider? Um in bestimmten Lagen der Arbeit, des Verkehrs, der Geselligkeit miteinander zu verkehren. Des Königs Purpurmantel und Krone, des Jugendbewegten Windjacke, des Mädchens Ball­kleid erlauben allen dreien, sicher in ihrem Kreis, in ihrer bestimmten Rolle aufzutreten. In der Kinderstube nimmt der König den Purpurmantel und die Krone ab, zum Examen zieht der Jugendbewegte den dunklen Anzug an, beim Sport verschwindet das Ballkleid. Das bedeutet, daß die Kleidersitten Menschen zu bestimmten Verrichtungen und Tätigkeiten miteinander verbinden und auseinander lösen.

Alle Sitten haben keinen anderen Zweck, als den zu binden und zu lösen. Die alte Bibelwahrheit, daß Binden und Lösen die größte Vollmacht zwi­schen den Menschen ist, ist — wahr. So wie die Ameisen, wenn sie ihres­ gleichen begegnen, stille stehn und sich gegenseitig befühlen und betasten, so müssen wir Menschen die Tageszeit entbieten und nach dem Befinden fragen, wenn wir uns treffen. Wenn ich jemand bei der gewöhnlichen Begegnung auf der Straße burschikos unterhaken würde, statt die Gruß­sitte zu beachten, so wäre ihm und wahrscheinlich auch mir der Morgen verdorben. Ich wäre ihm zu nahe getreten. Die sinnvolle Form meiner Verbindung mit diesem Menschen, die lockere des Vorübergehens wäre verpaßt worden. Und da ich nur den unterhake, mit dem ich länger zu­sammen bin und dem ich allmählich näher trete, so ist hier ein Teilvorgang aus einem längeren Verbindungsprozeß sinnlos herausgerissen und isoliert worden. Zu nahe tritt man, wo man das Nähertreten nicht abwartet.

Die Sitten ersparen Kraft und sie ermöglichen es uns, ja sie allein er­möglichen es uns, unbeschädigt unter Menschen zu gehen und von den Men­schen uns zu entfernen. Das Binden und Lösen von Menschen zu Gruppen, Verbänden und Scharen und Massen ist zunächst ein Naturschauspiel, das sich beobachten läßt. Es kann sich Bekanntes verbinden und lösen. Wenn die beste Freundin mit der besten Freundin in die Stadt pilgert, so ist das eine Begegnung, die ganz anders verläuft, als wenn ein Chauffeur einen Radfahrer auf der Straße anhält, um ihn nach dem Weg zu fragen.

Und dies ist nun die Kopernikanische Drehung in bezug auf die Sitte: Die Gegenwart unterscheidet sich von der Zeit des ancien regime grund­sätzlich hinsichtlich Binden und Lösen.

Die alte Zeit verwendet alle Sorgfalt auf das Binden und Lösen der einander Bekannten. Die Gegenwart erreicht ihre feinste Ausprägung in den Sitten zwischen Unbekannten.

Kindtaufe, Hochzeit und Begräbnis sind deshalb die großen Hauptstücke der Sitte der Altvorderen. Bekanntes, ewig Verbundenes, lange Ersehntes, untrennbar Verbundenes werden in den ungeheuren, Tage, Wochen und Monate dauernden Zeremonien dieser großen Feste gebunden oder gelöst. Eingehämmert wird in der Trauung die ewige Treue; das ganze Dorf und seine festliche Trunkenheit werden zum Zeugen des Bundes aufgerufen. Die unbedingte Öffentlichkeit, selbst beim Beschreiten des Ehebettes, zwingt das Paar ein für allemal und zeitlebens in ihren Bann. Wenn so ein alter Landpfarrer die Ehegatten zusammengibt mit all den tausend Ermahnungen, da wird ordentlich gehämmert; man hört ordentlich, wie ein Reif nach dem anderen sich um die beiden Menschen herumlegt. Bei all den Nöten des Lebens, den Charakter­gegensätzen, den wirtschaftlich widerstreitenden Interessen müssen diese Klammem halten.

Im Verkehr zwischen Unbekannten soll keine Klammer ewig halten. Eine Eisenbahnbekanntschaft muß am nächsten Tage vergessen sein können. In der Eisenbahn sind Leute, die gleich in der ersten Viertelstunde ihre Visitenkarte zücken, unangenehm. Ich will auf der Tram einer alten Dame Platz machen, aber ich will keine Weiterungen davon haben. Ein Kind, das auf der Straße fällt, wird aufgehoben, getröstet und ver­bunden werden, aber mit den Eltern des Kindes will man deswegen nichts zu tun kriegen. Mir sagte ein Kleinstädter, der nach Wien und Berlin kam: „Ach, die Großstädter sind gut“. Er hatte recht. Es liegt über der modernen Großstadt die Güte der Anonymität. Man hilft sich gegenseitig durch, der tägliche Verkehr vollzieht sich erstaunlich reibungslos. Die Pfarrer klagen, daß dabei so wenig für die Ewigkeit übrigbleibt. Die Wahrheit ist, daß man für die großen Lebensabschnitte, für die Ver­bindung mit der Familie, mit der Tante Euphemia und dem Onkel Alfons und der Cousine Gabriele wenig Zeit hat. Man geniert sich auch, wenn man einen Kondolenzbesuch machen muß, weil man absolut nicht weiß, was man da sagen soll. Die Frauen wissen auch oft nicht mehr, daß sie in Herrengesellschaft die Herrschaft über das Gespräch zu beanspruchen haben. Man verwischt heute in der Geselligkeit das Zeremoniell. Es besteht ein Verein in England zur Abschaffung der kostspieligen und zeitrauben­den Begräbnisse!

Anonym können wir alle miteinander durch Post, Eisenbahn, Radio, Schreibmaschine und Telephon glänzend verkehren. Wir haben nun die Formel gefunden: „Vorübergehende Verbindungen und Lösungen haben heut ihre passende Sille und ihr gutsitzendes Kleid“ . Alles was dem Fahr­plan unterliegt, zeigt etliche Symbolik. Die schönsten Reklamebilder sind: Schwungrad der Turbine, Kolbenstange der Lokomotive, Vorderrad und Steuer eines Automobils. Bindungen und Lösungen für lange und immer und der Verkehr zwischen den Bekannten darben der Sitte. Die Symbole dieses Umganges verkümmern und wirken veraltet und lächerlich. Wo aber Bekannte miteinander wirken müssen, entsteht durch diese Ver­kümmerung eine Erkrankung. Das Unheil, das die Gebiete, die von den Juristen, Theologen und Philosophen betreut werden, heute bedroht, ist das Fehlen der Liebes- und Arbeitssitten. Das Beispiel der Arbeitssitten mag näher ausgeführt werden, weil sich hier deutlich ergibt, daß Binden und Lösen auch vom Grundsatz des Vorübergehenden, Vergänglichen her gestaltet werden müßte, um zu gesunden. Wir haben heute alte Arbeitssitten patriarchalischer und handwerksmeisterlicher Art auf dem Lande. Sie zielen noch in schwachen Resten auf dauernde Treue­verhältnisse zwischen Meister Hans und Lehrling Kunz ab, und wir haben demgegenüber im städtischen Wirtschaftsleben heute einen bloßen recht­lichen, sittenlosen Zustand zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Die alten Sitten lassen sich nicht übernehmen, weil sie zwischen dauernden Bekannten eine örtliche Bindung schaffen wollten. Jede alte Sitte ist Ortssitte. Diese Bindungen an Ort, Tal, Landschaft, Heimat binden den einzelnen in eine unlösbare Dingwelt hinein, der er sich heute ver­weigert und verweigern muß. Das Vorübergehende aller örtlichen Bin­dungen ist für den Menschen des heutigen Wirtschaftskampfes die Grunderkenntnis, ohne die er unter die Räder kommt. Es heißt Selbst­mord predigen, wenn man Bauern oder Arbeiter heute unter Ortssitte, unter Lokalüberlieferung beisetzen, befrieden und einbalsanmieren wollte. „Wir haben auf Erden keine bleibende Statt“, ist aus Bibelspruch Sozial­gesetz geworden.

Die Folgen greifen tief ein in unsere Gepflogenheiten. Wir Juristen hatten bisher eine zentrale Gesetzgebung von der Hauptstadt des Landes her, die sich mit den Orts- und Landessitten auf halbem Wege traf und verschmolz. „Ländlich sittlich“ lautete der Spruch, dem „ein Reich, ein Recht“ gegenüber stand.

Das ist heut nicht mehr so. Der Arbeitnehmer von heute ist kein Tage­löhner des Dorfes Hinterkunzendorf sondern ein Arbeiter innerhalb des Deutsches Reiches. Seine Arbeitssitte ist daher eine überörtliche. Es geht heut um den Aufbau einer Reichsarbeitssitte. „Lokale Gebräuche“ sind heute meistens gleichbedeutend mit rückständig. Der Raum, innerhalb dessen der Arbeitnehmer von heute sich aus aller einzelnen täglichen Arbeit unbeschädigt muß herauslösen können, ist der des Deutschen Reichs oder Mitteleuropas oder der Welt. Die Art, mit der dieser abstrakte Raum sich unserer Einbildungskraft unterwirft, ist sehr bezeichnend: Die Eisenbahn­karte, die Landkarte, das Wegenetz und der Globus werden uns in die Köpfe eingehämmert. Wir lernen den Ort, an dem wir leben, auf eine unsinnliche Weise kennen, nämlich als einen Punkt innerhalb des Straßennetzes und der Verkehrswege. Wir lernen uns als Kraft innerhalb eines Kraftfeldes anschauen; und die Grenzen dieses Kraftfeldes erstrecken sich bis dorthin, von wo die fernsten Auswirkungen unsere Kraft lähmen oder antreiben. Kraft im Kraftfeld, Rädchen im Produktionsprozeß zu sein — das wird einem beim Studium der Handels-, Wanderungs- und Verkehrswege der Erde bewußt. Diese abstrakte Welt der Landkarte hat offenbar die ganz praktische Aufgabe, uns aus der Ortswelt, die wir mit unseren leiblichen Augen sehen und mit unseren Beinen erlaufen können, herauszulösen und hinüberzubinden in die große Welt, die uns heut unsere wechselnden Arbeitsgelegenheiten zudiktiert. Das Verhältnis von Recht und Sitte kehrt sich damit um: die Sitte wird heut universal, und das Recht wird heut viel mehr aus den überlasteten Zentralapparaten der Gesetzgebung hinaus­ verlegt werden müssen in die einzelnen Schiedsstellen und ihre Richter­sprüche für den einzelnen nie wiederkehrenden Fall.

Denken wir einmal die Linien der heutigen Entwicklung ins Unend­liche verlängert, so würden wir eine freie richterliche Gestaltung der einzelnen Tatbestände für jede Werkstatt und jeden Betrieb, also ein rein örtliches Recht erhalten, daneben aber eine Reichs- oder Weltarbeitssitte für die Aufnahme, Einführung, Schulung, Eingruppierung und Weiter­bildung der menschlichen Arbeitskräfte brauchen. Formelhaft ausgedrückt: Aller Streit wäre lokalem oder auch individuellem Gericht überantwortet, aller Frieden aber universal und allgemein. Und diese Weltarbeitssitte würde sich ihre Symbole schaffen. Eines der wichtigsten dieser Symbole würde der Globus oder die Landkarte sein. Recht, Sitte und Symbol würden hierbei in ihrer automatischen Zusammengehörigkeit sich gegen­seitig bestärken, verändern und ausbilden.

Untersuchen wir an diesem Beispiel noch einmal das Verhältnis von Recht und Sitte und zugleich das Verhältnis von Sitte und Symbol, von dem wir bisher ja noch nicht gesprochen haben. Der Arbeitsrechtler von heute hat zwar ein außerordentlich großes Gebiet von Gesetzen und Ver­ordnungen internationaler und einzelstaatlicher Geltung, aber der Jurist, und wer immer ihm helfen soll, Gesetze vorzubereiten und auszuführen, der merkt plötzlich, daß man die Arbeit in Deutschland mit dem Gesetz nicht ordnen kann. Das Arbeitsrecht reicht nicht aus, die Arbeit zu regeln. Es nutzt nichts, wenn ein Arbeiter auf seine Entlohnung klagen kann. Wir wissen alle, daß er erst zu klagen pflegt, nachdem er sein Arbeitsverhältnis bereits gelöst hat. Selbst dann, wenn er auf Zurücknahme der Kündigung klagt, gestaltet sich das praktisch so, daß der Arbeitgeber ihn nicht wieder in seinen Betrieb aufnimmt, sondern eine entsprechende Summe für die zu Unrecht erfolgte Kündigung als nachträgliche Ge­haltszahlung erlegt. Mit anderen Worten: Gerichtliche Klage und Arbeits­sitte heben einander auf. Wer in einem Arbeitsverhältnis bleiben will, kann nicht Klage erheben. Das Zusammenleben von Leuten, die mit­ einander prozessieren, ist zu anstößig. Wenn die Eheleute anfangen, mit­ einander vor Gericht zu gehen, dann sind sie auf dem Wege der Scheidung. Erst recht gilt das von den vorübergehenden Arbeitsverhältnissen. Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer miteinander prozessieren, dann gehen sie eben damit aneinander vorüber, sie trennen sich. Was folgt daraus? Daß Gesetze nicht unverbrüchlich funktionieren, schadet dem Recht nichts. Wird aber die Arbeitssitte gebrochen, so mag der Richter 5o Mark zusprechen, die Arbeitsgemeinschaft, die Trägerin der Sitte, bleibt zer­brochen.

Leute, die vier Wochen streiken, mögen sich einer Entscheidung nach­her unterwerfen; das, was in den vier Wochen hätte produziert werden können, ist dadurch nicht wieder eingebracht. Aber auch das Leben, das gemeinsam hätte gelebt werden müssen, ist vorbei. Die vielen Streike der Nachkriegszeit haben wohl jedermann davon überzeugt, daß die Arbeits­sitte, unter der wir zusammen leben und zusammen wirken und zusam­men schaffen, nicht dadurch behütet wird, daß es Rechtssätze und einen großen Umweg über das Reichsgericht in Leipzig gibt, durch die man einen Lokomotivführerstreik hinterher verurteilt. Das kommt immer zu spät. Die Sitte hat kein Schutzmittel, die Sitte hat keinen Schutzmann, der sie durchsetzt. Aber sie ist deshalb noch unentbehrlicher als das Recht.

Was du von der Minute ausgeschlagen, bringt keine Ewigkeit zurück. Das gilt am meisten von dem gesitteten Zusammenleben von Menschen. Selbst die Versöhnung darf nicht allzu oft bemüht werden, um die ge­brochenen Sitten wieder herzustellen; dazu ist selbst die Versöhnung ein zu ausdrücklicher, ein zu bewußter Schritt. Jedes Ehepaar weiß darum, wie spärlich es Versöhnungen geben darf; denn in so großer Nähe fordert die Ausdrücklichkeit der Versöhnung schon ein Übermaß von Bewußtheit. Man wird durch ein Licht unmittelbar vor den Augen nicht erleuchtet, sondern geblendet.

Von der aus Ungeschick übersehenen Sitte muß man daher lieber end­gültig absehen. Wenn ein Redner nicht am Schluss® des Vortrages von dem Sprecher der Versammlung seinen Dank erhält, so läßt sich das nie wieder nachholen. Ein privater Dank irgendeines Mannes hinterher hat niemals die gleiche Bedeutung.

Es ist also die Sitte gebunden an die Verkehrslage, an das Zusammen- sein von Menschen in einem ganz bestimmten Augenblick, zu einem be­ stimmten Ziel und einer bestimmten Aufgabe. Was dem Arbeitsrechtlar heute aufliegt, was ihm wirklich schlaflose Nächte macht, wenn er ach die Neugestaltung unseres Arbeitslebens in Deutschland vorstellt, das ist der trostlose Eindruck, wie die meisten Menschen immer nur auf dem Wege des Rechts, auf dem Wege der Gesetzgebung und zentralistischen Regelung Abhilfe suchen, während es doch nicht das Recht, sondern die Sitte ist, die den glatten, den sinnvollen Ablauf der Zusammenarbeit wiederherstellen müßte.

Und nun die Landkarte als Symbol. Wozu brauchen wir die Land­karte? Die Arbeiterbildung braucht sie, um den Arbeiter in seine wirkliche Weltlage von heute einzuführen, um aus dem Tagelöhner den modernen Industriearbeiter zu machen, um die Sitten der modernen Welt in einer kurzgefaßten Formel dem Neuling anschaulich zu machen.

Das Symbol ist also die Verdichtung der Sitten in einem Zeichen. Das Zeichen ist die einzige Form, in der die Sitte aus ihrem stets augenblick­lichen, stets unverbrüchlichen, stets unaussprechlichen Vollzug herausge­nommen und in die Schulstube hinübergetragen werden kann! Vom Recht kann ich das Gesetzbuch vorlegen, von der Sitte aber nur das Symbol. Die Sitte entzieht sich der Besprechbarkeit. Kindern Sitten schildern, heißt sie unfähig machen zu ihrem naiven Vollzug. Nicht nur, daß Sitten nur im Zeichen in die Schulstube hinübergetragen werden können. Wir dürfen sie auch nicht in der Form der Beschreibung hineinzutragen, versuchen. Die Schulen haben durch ihre Wut, Kenntnisse zu verbreiten, unzählige Sitten zerstört; die Religionsstunde ist das Grab des Kultus — der Katechismus hat die Liturgie erledigt. Die Sitte bleibt als etwas Körperliches, Sinn­liches, ein Attribut unserer Leiblichkeit. Die Landkarte kann den modernen Wirtschaftsmenschen auch im Augenblick der Muße und der Betrach­tung einführen in seine wirkliche Welt. Das kann kein theoretisches Buch. Marxens „Kapital“ leistet nicht das, was die Weltkarte in Mercators Projektion mit den Dampfschiffahrtslinien leistet. Wenn das Symbol die Verdichtung der Sitte in einem Zeichen ist, das man auch außerhalb dieses Augenblickes sich selbst oder anderen vorweisen kann, so wird das Symbol immer an jenen Vorgang erinnern müssen. Die Land­ karte erinnert eben an jenen Vorgang der Abwanderung von Tausenden und Millionen aus ihren Ländern und Wohnsitzen in die großen Städte, erinnert an ihre Ankunft auf dem Schlesischen Bahnhof in Berlin oder dem Auswandererhafen bei Hamburg. Ebenso tragen wir den Ring am Finger, um in jedem Augenblick inne zu werden des Ringwechsels bei der Hochzeit. Der Ring selber ist ohne die Erinnerung an den Ringwechsel bei der Hochzeit sinnlos. Das sieht man schon daraus, daß wir ja auch andere Ringe tragen. Nur der Trauring ist ein Symbol, die anderen Ringe sind es fast nie. Deshalb konnte Marxens Kapital nur zum „Symbol” der Wissenschaftsvergötzung werden. Denn es ist ein Buch. Hingegen ist die Landkarte heut ein Symbol des Weltverkehrs, an das sich ein ge­fährlicher neuer Aberglaube zu heften beginnt, ganz wie einst den Ring Zauber und Magie umwitterten. Die Landkarte und eine abergläubische Nachahmung des Kartenbildes durch ähnliche Schemata bedroht die Päd­agogik z. B. bereits in ernstem Umfang.

In „Hermann und Dorothea“ wird von dem Apotheker erzählt, wie er sich erinnert seiner Erziehung zur Geduld durch den Hinweis auf den Sarg. Der Sarg als die Verdichtung der Bestattung des Menschen, seiner Einsargung, seiner Beerdigung, daß da der Mensch wieder zu Erde wird, und daß sechs Fuß ausreichen, um ihn zu umschränken, — dieses Symbol zügelt das Quecksilber des jungen Kindes; dieses Symbol des einen Augen­blicks des Todes und des sich da abrollenden Vorganges geht ja an sich die Lobenden und gar das junge Kind nichts an. Aber das Symbol einer Sitte, die uns im Augenblick noch gar nichts angeht, kann von ferne wir­ken und „bedeutend dastehen“, wie der alte Goethe sich ausdrückte. Kraft des Symboles weiß der Mensch, daß eine Sitte auf ihn wartet.

Damit ist am Beispiel der Arbeitssitten zwischen Unbekannt im abstrakten Raum des Weltverkehrs Aufgabe und Not der Sitten und Symbole auf­gefunden worden.

Die Ehesitten, auf die hier nicht noch besonders eingegangen werden kann, müssen offenbar durch die Vorherrschaft der Sitten zwischen Un­bekannt katastrophal leiden. Die Ehe sucht daher heut das Pathos der Distanz zwischen den Gatten.

II

Die Symbole sind die allgegenwärtigen Abgesandten aller Augenblicke, der vergangenen und der zukünftigen unseres Lebens. Wie anders wirken sie als der Rechtssatz, in dem sich das Recht verdichtet. Die Gesetze des Rechts sind allgegenwärtige Richter über alle vergangenen und zu­ künftigen Verbrechen und Rechtsbrüche. Die Symbole hingegen sind Wahr­zeichen des Unverbrüchlichen, des unser in Vergangenheit und Zukunft Wartenden. Das Rechtsgesetz ersetzt die Gebrechen unseres allgegenwärtigen Lebens. Im Symbol hingegen verfügen wir über das Gefüge unseres zur Zeit abwesenden Lebens. Die Sitten selber aber, zwischen Gesetz und Symbol, begleiten und bekleiden Lebensabläufe. Sie könnten sich nicht in jedem Augenblick des Lebensablaufes zur Verfügung stellen, wenn nicht die Symbole uns vorher auf diese Sitten vorbereiteten und über diese Sitten einen Überblick gegeben hätten. So kommt es, daß Kinder, wenn sie spielen, mit Hilfe der Symbole das ganze Leben durchspielen können. Da haben sie den Ring und können Hochzeit spielen. Sie haben Windeln und schon ist das Kindbett und die Taufe da. Da haben sie den Stab mit der Scheibe und spielen Eisenbahn. In dem Pfänderspiel der Kinder von heute ist das alte germanische Gerichtsverfahren mit großer Treue er­halten. Da wir Menschen das noch Unerlebte entweder zu sehr oder zu wenig fürchten, so machen wir uns von allem Kommenden falsche Vor­stellungen. Das Symbol ist das einzige Mittel, uns vorher zu sagen, was kommt. Ohne Todessymbol z.B. könnte das Leben aus der Allgegenwärtig­keit des Todes keine Kraft ziehen. Das Zeichen der künftigen Sitte muß vorhergehendem uns zu dem, was auf uns wartet, zu erziehen. Zeichen und Erfüllung gehören zueinander. Wir berühren damit ein Ergebnis, das der Kindererziehung und der religiösen Offenbarung der Völker ge­meinsam ist.

Die Sitten braucht der Lebenslauf gerade im Augenblick seines Voll­zuges. Das Symbol braucht der Mensch vor und nach jener Station, an der ihm die Sitte umsteigen hilft. Es sind andere Menschen und andere Lebensalter, die Sitten brauchen und hervorbringen, andere wieder, die auf die Zeichen, die sie wachhalten und voraufdeuten, angewiesen sind. Diese Erkenntnis gibt uns den Schlüssel für das Verhältnis von Sitte und Zeichen. Der Mensch ist in den verschiedenen Zeiten seines Lebens ver­schieden stark wirksam, verschieden stark geschichtlich. Auf dem Weg zum Wirken fort und zum Wirken hin bedarf er der Zeichen. Im Wir­ken selbst aber bedarf er der Sitten. Denn im wirklichen Leben müssen wir umsteigen, müssen wir binden und lösen, gebunden und gelöst werden. Das Kind und der Greis aber, sie, die nicht mehr im wirklichen Leben stehen, sind die Träger und die Erneuerer der Symbolik. Den Neuling, so sahen wir, führt man durch Zeichen in das Leben ein, die Landkarte und der Sarg belehren den, der von der Weltwirtschaft und von der Allmacht des Todes sonst nichts weiß. Der Weltumsegler und der Ge­kreuzigte brauchen diese Symbole nicht. Aber hinter der Mannestat kommt noch ein Lebensalter. In ihm ist der Mensch aus dem Kampf gelöst und gerade dadurch mächtig, andere zu binden. Deshalb ist dieses höchste Alter symbolkräftig. Der alte Goethe, der alte Bismarck, das sind symbolische Gestalten. Hindenburg verkörpert die Geschichte der letzten 15 Jahre. Wenn der Mensch selbst so dicht wird, daß er Symbol großer geschicht­licher Abläufe geworden ist, dann belehrt er die Enkel. Diese Form der Belehrung ist verbindlich. Hindenburg bindet mehr junge Deutsche in die Gegenwart unseres Lebens als tausend Gesetzbücher und Verfassungsfeiern.

Er bindet aber die ungeschichtlichen Teile des Volkes stärker als die, die selber Geschichtsträger sind.

Das Symbol bindet oder löst den Neuling; die Sitte bindet und löst den Erfahrenen. Der Erfahrende, die Männer und Frauen also, die im Lebens­kampfe stehen, haben für Symbole mit Recht nichts übrig. Sie lassen sich auch die Sitten nur notgedrungen gefallen. Denn sie haben an sich keine Zeit. Wir bedauern es immer, wenn wir auf einer unbedeutenden Umsteigstation einmal länger auf einen Zug warten müssen und betrachten das fast durchweg als sinnlos. Männer und Frauen wollen, weil sie im wirklichen Leben stehen, für die Sitte keine Zeit opfern, trotzdem ist es das Grundkennzeichen der Sitte, daß sie Zeit braucht, vom „Guten Tag“ bis zur Abschiedsrede, die man dem Scheidenden im Kreise der Berufsgenossen hält. Immer ist es unanständig, in einer guten Gesell­schaft für diese Formen des Zusammenlebens keine Zeit aufzuwenden. Als der Generaldirektor der Reichsbahn an einem Dienstag starb, und das Begräbnis auf Donnerstag angesetzt war, da wählte man seinen Nachfolger an dem Mittwoch dazwischen. Das war unschicklich, viel unsittlicher, als die Gewissensmoralisten meinen, wenn sie von unsittlich sprechen; denn es wurde etwas zerstört in dem Gemein­schaftsleben der Menschen. Es wurde etwas zerrissen mit Gewalt, statt es würdig und langsam zu entknoten. Auch das vierte Lebensalter, das wir bisher noch nicht erwähnten, hat eine besondere Beziehung zu Sitte und Symbol: Der Jungmann und die Jungfrau stehen anders zu Sitte und Symbol, als Kinder oder Greise, aber auch als die Männer und Frauen, die das Mindestmaß an Lebenssitte vorn an der Front ausproben, an der Front des Daseinskampfes. Ein Mann von 45 Jahren, sahen wir, hat weder Zeit, mit Symbolen zu tändeln, noch ist er selbst irgendwie geeignet, Symbol zu sein. Dazu steckt er, wie die Sprache so sehr schön ausdrückt, viel zu tief in der Arbeit. Aber dieser selbe 45jährige wird sich auch wieder anders verhalten als der Jungmann. Er wird seine Antritts­besuche machen und seine Reden halten, und seine Zeitungsanzeigen ein­rücken, wie es nun einmal Sitte ist. Er hat keine Zeit, Sitten zu refor­mieren. Es kommt ihm lächerlich vor, sich im Kampf um die Sitte zu verzehren. Dazu geht bei ihm viel zu viel vor. Der Jungmann hingegen wählt unter den Symbolen, die ihm das Leben vorgebildet haben. Die Jugend lehnt viele Symbole und viele Sitten ab. Sie versucht zunächst ein­mal, ohne alle ererbten Sitten auszukommen. Sie ist der gegebene Zer­störer bloßer Formen, sie geht ein paar Jahre lang nicht in die Kirche, sie reformiert die Männertracht, und den Handkuß verachtet sie. Die Flegeljahre sind für die Erneuerung der Sitten eines Volkes ein außer­ordentlich wichtiges Sieb, durch das Schutt und Asche hindurchfallen können. Was läßt nun der Jungmann von Sitten und Symbolen übrig? Das, was die junge Frau, die Braut von ihm an Sitten und Symbolen ver­langt. Die Braut bewahrt; nur widerstrebend gibt sie aus Liebe zu dem Mann ein Stück oder das andere aus dem Urväterhausrat ihrer Sitten her. Heute geschieht dieses Opfer an Sitte und Symbol durch die Braut nicht erst dem bekannten Bräutigam gegenüber. Sondern das junge Weib opfert heut bereits, wenn sie hinaustritt in den Kreis der Männerwelt, wenn sie Kameradin wird als Angestellte, als Studentin, vieles von dem, was sie in alter Zeit bis zum Hochzeitstage zu bewahren pflegte.

Es wiederholt sich hier jene Umsetzung von Sitten zwischen Bekannten in Sitten zwischen Unbekannten.

Trotzdem ist die Frau auch heut in dieser schwerer kenntlichen Form die Bewahrende. Sie ist es schon einfach durch die Mode ihrer Kleidung, sie muß immer ein Mehr fordern gegenüber den gewaltsamen Abstrichen, die der junge Mann als Stürmer und Dränger an jeder Sitte vorneh­men möchte. Ein Beschleunigen einerseits, ein Verlangsamen des Sittenwandels andererseits ist also die Aufgabe der Jugendlichen, der Bräute und Freier.

Wir mußten Sitte und Symbol den Lebensaltern erst einmal zuordnen, ehe wir die Frage nach der Erneuerung der Sitten beantworten können; Jetzt ist das Verhältnis von Sitte und Zeichen geklärt. Das Aller kann ja nur solche Sitten zum Symbol verdichten, die von Männern und Frauen im Lebenskämpfe als unerläßlich erprobt worden sind. Männer und Frauen wiederum bewähren im Lebenskampf die Sitten, die in der Vermählung von Freiersmann und Braut ausgelesen und zur Prüfung angenommen worden sind.

Für unsere Zeit ergibt sich daraus:
In einem Zeitalter des Formenschwundes kann man nicht bei den Symbolen anfangen. So sehr ich die evangelischen „Hochkirchler“ etwa achte und respektiere, so wenig glaube ich, daß sie die letzten Nöte wenden werden, in denen unser kahles, formloses, moralpredigendes Kirchentum steckt. Denn die Symbole kommen hinter den Sitten. Die Verdichtung des Lebens wirkt erst verbindlich auf ein neues Geschlecht, wenn außer Zweifel steht, daß wirkliches Leben gebunden und gelöst worden ist. Den Zeichen müssen nicht nur Sitten Vorbeigehen. Nein noch etwas muß hin­ zutreten: Den Sitten muß ein Augenblick höchster Not vorhergegangen sein. Die Einsetzungsworte der Evangelien sprechen ja da eine beredte Sprache. Wiederholt darf nur werden, was einmal überraschend und neu der einzige Ausweg aus dem Labyrinth gewesen ist. Ein Beispiel für viele: In einem Haus, in dem die Eltern das Tischgebet gern einführen wollten, schickte die Mutter eines Sonntags die Mädchen fort und kochte mit den Kindern ein ganz besonders köstliches Mahl. Die Kinder waren so hin­ gerissen von der Zubereitung der Speisen, daß sie sich über das Ge­wöhnliche durchaus erheben wollten, als sie zu Tisch gingen. Es war „ihr“ Essen in einem wunderbaren Sinn geworden. Auch das besondere, daß sie mit der Mutter allein hatten kochen dürfen, trug dazu bei. und so war das Tischgebet an jenem Sonntag unerläßlicch für sie geworden als Ausdruck der großen gemeinsamen Tat. An den Alltagen, die nun folgten, wurde aber dasselbe Tischgebet unverbrüchlich wiederholt. Kein Kind kam auf die Idee, das einmal in einem erhöhten Augenblick geprägte Gebet deshalb fallen zu lassen, weil nicht alle Tage Sonntag ist. Die Verbindlichkeit hätte dem Gebet aber gefehlt, wenn die Eltern eines Tages den Kindern das Gebet ohne Not bloß aus Moral vorgesprochen hätten.

Wir wissen schon, daß der Formenschwund nicht auf dem Gebiet der Verkehrssitte heute liegt, sondern dort, wo ein längeres Zusammenleben der Menschen sich gestalten will. Beim Übergang von unbekannt in bekannt läuft heute die 5chicksalsfront der Sitte. Das ist das Pathos des Freizeitengedankens. Für die Freizeit folgt aus unseren Erkenntnissen einiges Grund­legende. Geschickt für diese Gestaltung etwa einer Freizeit, eines Wochen­endes, einer Schulungswoche, eines Volkshochschullehrganges wird nur der Mensch sein, der keine fertigen Ämter und Sitten in diese Zeiträume hineinbringt. In allen diesen Lebenskreisen wird heute der wirken, der improvisieren kann. Improvisieren, Unvorhergesehenes tun, heißt ja nicht, Launen und Einfälle haben, oder irgend etwas Willkürliches tun. Son­dern der edle Sinn von Improvisieren ist hier gemeint, der uns Menschen auch da die Bewährung erlaubt, wo wir „Unvorhersehbares“ meistern müssen. Wer sich in der heutigen Formverirrung nicht aufs Improvisieren versteht, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes. Denn in jeder Mehrzahl von Menschen ist fast ein jeder Beteiligter durch einen anderen Grad von Formenschwund, Formersatz oder Formenneuerung charakterisiert. Solch ein Gemenge von Beteiligung kann zur Teilnahme nur in unvorhergesehenen Formen gewonnen und herangezogen werden. Nur Menschen, die sich die Funktion bei Tisch und im Haus und in der Versammlung und beim Rat und bei der Leitung von den in diesem Kreise wirklich lebendigen Kräften gebieten lassen, werden die Lebens­sitten gestalten, die eines Tages wieder symbolhaltig werden können. Denn nur sie werden miteinander den Übergang von unbekannt, anonym und pseudonym in bekannt, namentlich und vertraut erkämpfen. — Unsitte und Zeichenlosigkeit sind auch Lebensmächte. Solange Sitte und Sym­bol fehlen, machen sich Unsitten breit und falsche Zeichen. Der heutige Aberglaube der Anthroposophie, Mazdasnanleute, Christian Science usw. hält irgendein verkümmertes altes Symbol und irgendeinige exotische Lebenssitten fest. — Richtig. Der Mensch kann nicht nackt da­ stehen ohne zu frieren. Das Leben kann nicht ablaufen ohne Weichen und Fahrbahnen. Das heutige Gewimmel von allen möglichen bizarren Sitten und importierten Symbolen ist also ein durchaus verständlicher Vorhang über einem schmerzhaften Neubildungsprozeß. Aber er ist nicht die Neubildung selbst. Die Neubildung geschieht an der Front des Arbeitskampfes und des Lebens der Geschlechter miteinander. Die neuen Sitten wachsen nur dort, wo man nicht an sie denkt, wo man aber trotzdem im heißesten Kampfe darum ringt, menschlich zu bleiben. Im Kampf des Lebensmittags menschlich bleiben heißt sich Zeit nehmen. Sitten werden dort wachsen, wo Menschen sich Zeit nehmen, trotzdem sie eigentlich „keine Zeit“ haben. Wo sie sich Zeit nehmen aus Ehrfurcht vor den anderen Menschen, die sie nicht beschädigen möchten. Aus Angst, den anderen zu verletzen, nehmen wir uns für ihn Zeit, und siehe: schon ist eine Sitte um uns. Menschen, die sich Zeit genommen haben in ihrem Leben auch da, wo sie nichts dafür bezahlt bekommen, werden zeitlos und wirken zeitlos. So wie im „Edlen Blut“ von Wildenbruch der Dichter triumphierend ausbricht: „Er hatte Zeit, er hatte innerlich Zeit!“ Jedes verbindliche Symbol in seiner Zeitlosigkeit entstammt dem Zeit­opfer eines Menschen, der sich hat binden und lösen lassen. Wer nur lösen will, der Revolutionär bindet nicht; wer nur gebunden bleibt, der Mann des Gesetzes, bleibt unerlöst. Beides muß geschehen; das alte Streben muß erfüllt und dadurch aufgelöst, das neue Streben muß gebunden und dadurch vollendbar werden. Zwischen beidem müssen wir ausharren.

Wir haben mit diesem Satz an den Kern der christlichen und der jüdischen Offenbarung gerührt und dennoch befinden wir uns mit ihr zu­gleich bei einem der dringendsten Anliegen unseres Wirtschaftslebens. Denn das dringendste Anliegen dieser Wirtschaft ist, die Belegschaften änderungswillig zu machen. Diese Umstellungsfähigkeit unserer Betriebe aber scheitert am Fehlen entsprechendem Sitten. Wenn ein Unternehmer heut eine grundlegende Änderung plant, so pflegt der erste, der den Plan sabotiert, sein Betriebsdirektor zu sein. Dann kommt weiterer Sand in den Motor der Veränderung, den er andrehen möchte, durch die Meister, die Angestellten, die Vorarbeiter. So sind die meisten Umstellungen heut nur um den Preis rücksichtsloser Entlassungen zu haben. Es fehlen die Sitten, in denen sich eine solche Wandlung reibungslos abspielen könnte. Daher bleibt nur der Bruch. Ein ungeheuerlicher Raubbau an Arbeitsfreude ist die Folge. Dort, wo man vor dein Äußersten zurückschreckt, wird die Arbeitsfreude dadurch zerstört, daß man zu lange auf falschen Wegen und im alten Trott verharrt. Dort hingegen, wo man sich „umstellt“, wird die Arbeitsfreude zerstört, weil man jäh abbricht und einfach mit neuen Leuten anfängt; die etwa aus der alten Zeit im Werk verbleibenden Ar­beitskräfte aber stehen mißtrauisch, eingeschüchtert und erregt den neuen Leuten gegenüber.

Hier offenbart sich die schöpferische Kraft der Sitten, die in einer Arbeitsgemeinschaft die Lust zum täglichen Neuanfang rege erhalten würden. Diese Kraft ging einst von der Morgenandacht des bäuerlichen Betriebes aus. Die Zeitopfer, die sich heut die Menschen im Betriebe leisten müßten, sind anders beschaffen, weil wir in der modernen ver­gänglichen Arbeitsordnung nicht gemeinsam beten dürfen, ohne zu lästern. Beten kann nur die Gemeinschaft miteinander, die auf Leben und Tod aneinander gekettet ist. (Vgl. dazu ausführlich, ‘Luthers Volkstum und die Volksbildung’ in Rosenslock-Wittig „Alter der Kirche“ II (19:18), 675 bis 728); Die Lockerheit moderner Arbeitsgemeinschaften verbietet den Rückgriff auf die alten Sitten wie auf die alten Zeichen. Aber es ist ein Irrtum, zu meinen, daß darum die Sitten und Zeichen als solche heut entbehrt werden können. Die Brutalität, die bei jeder wirtschaftlichen Umstellung heut entfaltet werden muß, nur um das Nötigste auch durch­zusetzen, zeigt die Krankheit an, unter der unser Volkskörper leidet. Ein Übermaß an Gesetzlichkeit hat die leichten zarten Gebilde der Sitte zer­stört und statt der geringen Zeitopfer, die zarte Sitten zum Binden und zum Lösen brauchen, bringen wir ungeheure Geldopfer, um mittelst starker Gesetze brechen, streiten und richten zu können. Das Leben wird bei uns mehr durch starke als durch zarte Mittel in die notwendigen Bahnen gelenkt. Das Gesetz ist deshalb bevorzugt, die Sitte vernachlässigt.

Die Arbeitsgemeinschaft des modernen Betriebes kann aber mit Ge­setzen nicht viel anfangen. Oder genauer: sie kann auf dem Wege des Rechts nur immer brechen und ganz von vorn anfangen. Sie ist aber heut darauf angewiesen, in verbindlichen Formen sich ohne Bruch ständig zu wandeln. Deshalb ist ihr jene Welt notwendig, von der wir eben beim Improvisieren gesprochen haben: die Welt, in der das Zusammenleben eines bloßen Gemenges von Einzelnen Gestalt annimmt und durch Teil­nahme eines jeden gesittet wird: die Lager und Freizeiten der Volk-Bil­dung und Volk-Werdung. Weil der Betrieb heut vor Improvisa, Un­vorhersehbarem seine Elastizität bewahren muß, deshalb ist heut aller Betriebspolitik diese Gesittungsarbeit der Volksbildung zugeordnet, die beiden Ordnungen, die sich heut zueinander finden müssen, sind die Wirtschaftsbetriebe und die gestaltende Volkbildung.

Denn jene brauchen, diese erproben die verbindlichen Sitten unseres Zusammenlebens in der Vergänglichkeit und Flüchtigkeit des diesseitigen Arbeitslebens. Inhaltlich ist der Volkbildung von heut nicht das Dauernde, Treue, sondern das Vorübergehende und Vergängliche zur Gestaltung auf­ gegeben.

III

Damit ist inhaltlich ein Abschluß erreicht. Aber über das Verfahren, in dem wir diese Ergebnisse gewonnen haben, ist noch ein Wort zu sagen. Haben wir doch mehrfach an theologischen Dogmen, an Rechtsfragen, an Pädagogisches gerührt. Wo gehört nun eine Untersuchung über Zei­chen und Sitten hin? Mit welchem Handwerkszeug arbeitet sie? Daß die Rechtswissenschaft die Sitte nur als Grenzgebiet definiert hat, mußte mehrfach hervorgehoben werden. Die Moral hat die Sittlichkeit ähnlich auf Kosten der Sitten bevorzugt Die Metaphysik der Sitten ist ein Beleg dafür. Es ist eben die Philosophie bisher ebenso wie die Rechts­wissenschaft der Sitte unfreundlich begegnet. Hegel hat keine Philosophie der Sitte geschrieben, das ist kein Zufall. Denn wer hinter die Erschei­nungen in das Wesen eindringen will, — und das will der Philosoph — der entkleidet die Vorgänge des Lebens ihrer Gestalt. Das Bild zu Sais ent­schleiert — mag der Wahrheit zugute kommen, aber der Lauf der Dinge ist gehemmt, dort wo wir hinter die Dinge glauben kommen zu müssen. Die Uhr, deren Werk wir analysieren, steht still. Die Philosophie brauchen wir, um uns aus der Welt zu lösen; die Sitten, um uns in die Welt zu binden. Mit dem hinter den Erscheinungen der Dinge liegenden Wesen hat die Sitte nicht zu tun. Die Sitten sind, im Gegensatz zu den philoso­phischen Wesenheiten, im wahren Sinne des Wortes „Übergangserscheinungen“. Dies kann als eine Steigerung unserer bisherigen Definition gelten.

Der Mensch ist ein Übergang, hat der gesagt, der die Philosophie über­ winden wollte. Denn für den Philosophen ist der Mensch ein für allemal gleich als Vernunftwesen. Für den, der unter Sittenlosigkeit leidet, ist der Mensch eine Übergangserscheinung. Die Sitten aber sind jene „kurzen Angewohnheiten” Nietzsches, durch die der Mensch in den Weltlauf hineinkonjugiert und hineindekliniert wird. Mehr oder weniger unregelmäßige Verben sind wir alle. Um sittlich zu werden, muß unser flüchtiges vergängliches Wesen hineingebeugt und flektiert werden im Sinne der Grammatik, damit werden wir eines Wandels durch das Leben fähig. So aber sieht der Philosoph den Menschen grundsätzlich nicht an. Sondern er will das Wesen des Menschen erkennen. Wenn wir uns demnach mit Sitte und Symbol im 20. Jahrhundert beschäftigen müssen, so steht dem eine jahrhundertelange Tradition in unserer deutschen Geisteswelt gegenüber, die das für den ausgewachsenen Mann für unwesentlich hält.

Wenn der Einzelne in sich selbst ruht, ungebunden und unerlöst als Persönlichkeit an und für sich, dann ist die Beugung des Menschen durch die Fälle des Lebens und die Rollen in der Gemeinschaft nicht wichtig. Aber wer übergehen muß aus Ich in Du und Es und Wir, aus dem Genetiv der Urheberschaft in den Akkusativ der Beschuldigung und Vo­kativ der Anrede, — der forscht nach den Geheimnissen der Konjugation und Deklination des Menschen in der Gemeinschaft. Der Übergang aus einem Aggregatzustand der Gesellung in andere ebenso unerläßliche Aggregatzustände verlangt Kraft und Arbeit. Über diese Aggregatzustände ist hier nicht zu handeln, wo es nur um die Kraft zu ihrer Durchwand­lung geht. Aber es wird eine Wissenschaft sein, in der von beiden die Rede zu sein hat.

In meiner Schrift: „Angewandte Seelenkunde“ (Darmstadt 192/1) habe ich auf diese Urgrammatik des Menschen als des Trägers der Rollen und der Wechselfälle des Lebens hingewiesen. Andere sind mir gefolgt. Die Lehre von Sitte und Zeichen gehört nicht in die Philosophie und nicht in die Jurisprudenz und nicht in die Theologie. Gehört sic in die Pädagogik? Ich glaube nicht. Es ist gerade das Tragische, daß sie dorthin abgeschoben worden ist. Sie geht aber die Erwachsenen an. So­ lange freilich nur die Volkswirte mit der Welt der Erwachsenen zu tun hatten, mußten sich die Erzieher in ihrer Pädagogik mit Sitte und Symbol ernsthaft beschäftigen. Unsere Ausführungen haben das eine deutlich machen sollen, daß die Pädagogik zu einer Grundwissenschaft gehört, in der nicht nur vom Kinde, sondern in der von allen Lebensaltern des Men­schen gehandelt werden muß in ihrem Verhältnis zu Sitte und Zeichen. Diese Grundwissenschaft sei noch mit einem Wort charakterisiert. Man kann sie vielleicht am fehllosesten als Oiko-Nomie bezeichnen, das ist die Lehre vom Haushalt der menschlichen Kräfte, so wie ich sie in meinem „Kräften der Gemeinschaft“ (Soziologie Band I, Berlin 1926) aufgestellt habe. Die Oiko-Nomic wäre die neue Grundwissenschaft. Innerhalb ihrer haben die Pädagogik und die Andragogik, die Kindererziehung und die Erwach­senenbildung, beide als Teildisziplinen zu gelten. Der tiefste Sinn der öko­nomischen Geschichtsauffassung ist damit angegeben. Da aber die meisten angeblichen Anhänger dieser tiefen Lehre in einem rein wirtschaftlichen Materialismus stecken zu bleiben pflegen, so ist es schwer, mit diesem einen Wort auszukommen. Immerhin ist es sprachlich das wohlgebildetste Wort. Und es darf uns natürlich nicht hindern, die alten Wissensgebiete heran­zuziehen, die bisher unsere Lehren schon mittelbar mit betreut haben. In unserem Werk: „Im Kampf um die Erwachsenenbildung“ haben Picht und ich 1926 durch unser Kapitel „Andragogik“ die Pädagogik aus ihrer Vereinzelung herauszulösen versucht. Aber nicht nur die Pädagogik hat vorgearbeitet. Die neue Grundwissenschaft wird nämlich einerseits vieles von dem benutzen müssen, was die Großen der Pädagogik immer gelehrt haben, außerdem aber das, was in einem theologischen Sondergebiet, wenn auch in heute schwer verständlicher Form, überliefert zu werden pflegt. Wir meinen damit die Lehren der sogenannten natürlichen Theo­logie. Ehe nämlich vom Glauben an das Kirchendogma geredet werden kann, muß auch der Theologe das Glauben und Vertrauen, das Wissen und Fürwahrhalten, das Bekennen und Verteidigen als menschliche Kraft er­wiesen haben. Die Kräfte des Zusammenlebens von Menschen verschie­denen Alters waren daher tatsächlich der Inhalt der „natürlichen“ Theo­logie. Die Lebensmächte der Sitten und der Zeichen sind nun nichts anderes als die bleibenden Ordnungen dieser menschlichen Kräfte. Nicht nur die Pädagogen, sondern auch Juristen, Ärzte und Theologen öffnen sich heut der neuen Grundwissenschaft vom Haushalt der menschlichen Kräfte. Wir nannten die Grundwissenschaft vorhin mit dem griechischen Wort Oiko-Nomie, Gesetzgebung des Haushaltes der Menschen. Denn eine anständige Wissenschaft muß nun einmal einen internationalen griechischen Namen haben. Man kann diese selbe Grundwissenschaft auch als Volkswissenschaft bezeichnen, was ich für meine Person vorziehen würde.

Es ist nicht meines Amtes, den Pädagogen hier die Nutzanwendung unserer Grunderkenntnisse über das Verhältnis von Sitte und Zeichen vorwegzunehmen. Doch glaube ich eins ohne Vermessenheit aussprechen zu dürfen, daß diese Lehre den Erziehern eine gewisse Entlastung bringt. Die Entlastung geht, soviel ich sehe, in doppelter Richtung: zunächst in theoretischer: Gewisse Erkenntnisse werden vereinfacht, wenn sie nicht nur um der Kindererziehung willen gesucht werden. In der praktischen Richtung wird es auf das hinauskommen, was ich in meinem Aufsatz von Neuland zwischen Demagogik und Pädagogik (Kunstwart 1927) aus­geführt habe. Die Arbeit des Erziehers an den Formen des Kindeslebens muß vergebens bleiben, wenn das Liebes- und Arbeitsleben der Erwachse­nen formlos verläuft. Die Kindessitten und die Symbole für die Hineinbindung der Jugend in den geschichtlichen Prozeß des Volkes bleiben abhängig von dem wirklichen Leben der die Geschichte machenden Ge­nerationen. Es ist unmöglich, Formen und Sitten in kindliche Herzen, einzupflanzen, wenn die Eltern durch keine Sitten oder Zeichen gebunden und gelöst werden.

Der große Erkenntnisbereich, den wir durchschritten haben, dürfte zweckmäßig hier am Schlusse noch einmal in seine Grundsätze zusammen­ gefaßt werden. Als Grundsätze der geschichtlichen Ökonomie haben sich erwiesen:

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