Rosenstock-Huessy: Stalins Einebnung und die Chronologie der Weltkriegsrevolution (1961)
Züricher Woche, 1.12.1961
Den Verfasser des nachfolgenden Aufsatzes brauchen wir unseren Lesern nicht mehr vorzustellen: wir haben das bereits in der Ausgabe vom 20. Oktober getan, in der Professor Rosenstock-Huessy den Leiter «Eine Friedenswoche» schrieb. Professor Rosenstock, der gegenwärtig in Europa weilt — er leitet als Gastprofessor für vier Monate das Amerika-Institut der Universität Köln — demonstriert in seinem zweiten, speziell für die «Zürcher Woche» geschriebenen Aufsatz über die «Einebnung Stalins» seine Kunst, unverhoffte Bezüge über Jahrzehnte hinweg herzustellen und ungewöhnliche Durchblicke zu öffnen. Sein Geschichtsbild unterscheidet sich merklich von dem hierzulande üblichen und regt dort, wo der schweizerische Leser sich etwas verblüfft die Augen reiben wird, mindestens zum eigenen Nachdenken an.
Im alten Rom wurde der Name des gestürzten Imperators ausgekratzt, so als habe er nie die Münzen und Statuen geziert; und der Rückfall der Stalinallee in Berlin auf den guten alten Namen Frankfurter Allee sieht diesen Vorgang ähnlich. Aber innerhalb unserer Zeitrechnung reisst niemals der Faden ab. Den Spenglers und Toynbees zum Trotz gibt es seit Christus nur eine einzige Geschichte, und so kann auch die Degradierung Stalins Namen nur einebnen oder umbetonen, aber er bleibt ein Akt in der Revolution der Weltkriege. Wegen dieser Kontrapunktik lohnt es die Frage zu stellen: Was bedeuten Stalins Erhöhung und Stalins Einebnung für die Gliederung unserer Epoche?
Dieser Frage weicht die bürgerliche Welt geflissentlich aus. Man beschimpft den, der nach ihr fragt, als Astrologen. Die geschichtliche Wissenschaft ist zur Naturwissenschaft entartet, d.h. sie hat sich dem Raum statt der Zeit verschrieben. Im Raum lagern die Toten und die blossen Dinge, aber leben denn die Völker wie Flüsse oder Gebirge in blossen Räumen? Menschen werden bestimmt durch segnende oder fluchende Namen, die aus der rollenden Zeit an uns ergehen und uns aus einem Raum in den anderen hinüberzuwechseln heissen.
Ist die «Mutter Helvetia» nur ein geographischer Begriff? Dann muss sie als Gletscher Garten enden. Ist aber Mutter Helvetia ein Name, der einst geheiligt wurde, um die älteren Heilsnamen von Kaiser und Reich zu überbieten, dann ist sie ewigen Lebens fähig und kann sich selbst aus tiefem Fall erholen. Denn jedes gestiftete Leben ist rhythmisch. Weil die Zeit ihre Lebhaftigkeit durch Rhythmik gegen den Tod behaupten muss, deshalb atmen wir, und deshalb gehen Herz und Geschichte in Sprüngen. Wir dürfen «rhythmisch» mit dem Wort «walten» verdeutschen und sagen: Geschichte ist waltende Zeit. In der Epoche der Weltkriegsrevolution waltet ein Rhythmus, auf den die Einebnung Stalins majestätisch hinweist. Grosse Geschichte wird immer hohe Zeiten und tiefen Fall zeigen. Da gibt es den 1. August und den 14. Juli, oder den 22. Januar 1905, den Roten Sonntag von Sankt Petersburg. Er geht uns vielleicht besonders an, weil russische Arbeiter damals zum ersten Mal in die weltweite Arbeiterbewegung eingereiht wurden. Wir können aber auch den 13. August 1961 anführen; denn die Mauer in Berlin, die an ihm erstand, teilt der Welt mit, dass der russische Flügel der Weltrevolution endgültig nach Osten abmarschieren will. So dürfen wir Lebenden die grosse Epoche der Revolution walten sehen, die sich in zwei Weltkriegen mit Vor- und Nachspiel verkörpert hat. Diese WeltKriegsrevolution antwortet auf die Revolution von 1789. In dieser war eine Nation der grosse Schauspieler und im Gefolge von 1789 hat jede europäische Nation das gleiche Theaterstück aufgeführt.
Aber der Weltkrieg richtet sich gegen die Nationen. Er setzt sie ab. Aber auch er zeigt, wie die Revolution von 1789, einen Rhythmus.
In der Kürze eines einzelnen Aufsätzchens muss ich diesen Rhythmus vergröbern, damit der Leser hinter den Klischees des Westens und des Ostens ihn wahrzunehmen beginnt. Und so fordere ich ihn auf, doch bitte einmal die Jahre 1904-05 und die Jahre 1960-61 am dicksten aufzutragen, als Anfang und Ende der Epoche. Ferner bitte ich ihn, die Jahre 1914-1945 eng genug aneinanderzurücken, damit das Wort des Marschalls Foch von 1919 «un armistice de vingt ans» ihm endlich seinen Dienst leisten kann. Denn tut er das, was ich hier erbitte, dann tut sich der innigste Zusammenhang auf
- zwischen Churchill I von 1917 und Churchill Il von 1940,
- zwischen dem Demokraten Woodrow Wilson und dem ersten Demokraten nach ihm, F. D. Roosevelt,
- zwischen Pétain I von 1916 und Pétain II von 1940,
- zwischen Hitler I alias Ludendorff und Ludendorff Il alias Hitler.
Auch wird ihm alsdann der Kontrast wichtig werden, dass bei der Revolution der Nation 3 Jahre Revolution daheim den 23 Jahren Krieg in Europa vorausgegangen sind. Hingegen wird die Epoche 1914 bis 1945 von drei Jahren Krieg in Europa eröffnet und erst 1917 wird daraus eine Weltrevolution. 1920 erschien meine Schrift: Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution, die auf diese Umkehr der Waltung zwischen Revolution und Krieg ihre Diagnose und Prognose gründete. Ich habe damals den Lügenkaiser Hitler und seine Ausrottung der Juden prophezeit, als die bescheidene Stimmgabel, auf die Krieg und Revolution gleichmässig wuchteten. Vielleicht lag diese Leitfähigkeit daran, dass ich für einen Augenblick Zivilist und Militär in einem war. Es schalten nämlich unsere zivilistischen Staatsdenker die Kriege aus ihren Systemen aus; die militärischen Strategen hingegen vertäuben sich gegen die Revolutionen. Und so entgeht beiden Gruppen der Rhythmus zwischen Kriegen und Revolutionen. Oder besser gesagt: Seit 150 Jahren sind so die Politiker und die Militärs diesem Rhythmus entgangen. Darum ist der Westen zeittaub: durch seine Zerreissung in Militär und Zivil hat er sich kastriert. Der Osten aber ist raum-blind, weil er dazu neigt, sein bisschen russische Revolution seit 1917 so wichtig zu nehmen, als sei sie die globale Weltrevolution.
Was aber ist wirklich seit 1905 geschehen? Vor 1905 stiessen die Grossmächte ernstlich nur in Europa aufeinander. Aber 1905 wurde die Erde doppelmeerig und erst damit wurde sie rund, wurde sie politisch die wirkliche Erde des Globus. Nun erst stiess Russland in Asien — ebenso auf eine industrielle Welt wie in Europa und Amerika stiess in den Philippinen und in Korea auf Europa.
Wer so alt ist, dass er sich an den russisch-japanischen Krieg von 1904 und die Meuterei auf dem «Potemkin» erinnert, der weiss auch, dass 1904/05 das Lebensgefühl Europas sich grundlegend gewandelt hat. Die Vokabel Europa selber verschwindet damals vor dem Worte Welt. Da war der neue Baustil, die neue Physik, da war Stravinsky, da war ein Bruch in den Regierungen und in der Geschichtsschreibung. Seit 1905 wusste zum Beispiel Kaiser Wilhelm II. nichts mehr zu sagen, denn die bürgerliche nationalistische Gesellschaft, die er so gerne gesteuert hätte, wich den neuen Vorstellungen der Biologen, der Massenpsychologie, einer weltweiten Völkergesellschaft. Die Weltrevolution begann also 1905 in den Geistern. Wie ein Symbol verfasste damals Hans von Helmolt eine Weltgeschichte in fünf Erdteilen und setzte sogar einen australischen Band neben die Bände Amerika, Afrika, Asien und Europa. Auch dart nicht vergessen werden, dass Oswald Spengler seinen «Untergang des Abendlandes» 1911 begonnen hat und dass Nietzsche den Weltkrieg 1889 als den einzigen Ausweg heraufbeschwor. Von 1904 bis heute entringt sich der Globus der Welt als Ganzes den grössenwahnsinnigen Nationen. Weil der Globus in dieser Weltrevolution zu walten beginnt, so ist ihre Sprache notgedrungen polyglott. Was da geschieht, kann man also oekonomisch, religiös, politisch oder biologisch ausdrücken. Die Kriegsrevolution ist u. a. auch Marxens grosser Kladderadatsch, und sie ist der grosse Kladderadatsch sowohl als kriegerischer Zusammenprall der Industrievölker wie als die Oktoberrevolution von 1917 in Russland. Mit Lenin hat sich der Weltkrieg sogar auf Russlands Landesinnere ausgewirkt. Die zeitweilige Überschwemmung Osteuropas durch die russischen Soldaten ist der Russischen Revolution sozusagen nur von aussen auferlegt worden. Heute siegt sie in Sibirien, und da siegt sie nicht als souveräne russische Revolution, sondern als ein blosses ausführendes Organ im Wandel der Produktionsmittel über den gesamten Globus. Die russische Revolution kann die westliche Weit nicht revolutionieren, denn diese ist in den beiden Weltkriegen wirtschaftlich konsolidiert worden, so dass Lenin selbst hat ausrufen müssen: «Mein Kommunismus ist das Hindenburgprogramm plus Sowjets». Was aber ist das Hindenburgprogramm? Die deutschen Rüstungpläne von 1916! Im Westen hat der Kommunismus keine Zukunft. Schlesien und Pommern sind ohne Kommunismus mit Kleinbesitzern polonisiert worden. Westwärts von Polen haben die Weltkriege die Industrien hinreichend eingeplant. Seitdem Henry Ford seine Arbeiter als Käufer seiner Autos anerkannte, können Kunde und Produzent nicht mehr in getrennte Wirtschaften ausweichen. Damit gibt es den Kapitalismus nicht mehr, wie ihn Marx definiert hat. Die Entdeckung von Henry Ford von 1915 wiederholt heute jedes Exportland im fernsten Kolonialgebiet. Der Inhalt unserer Weltrevolution ist die Solidarität zwischen Käufern und Verkäufern; und vor dieser phantastischen Entdeckung des Globus wirken alle monistischen Wirtschaftsmodelle komisch.
Kommunismus, Kapitalismus, Merkantilismus, Kolonialismus, Sozialismus werden zu akademischen Spielzeugen. Mutter Erde verlangt von ihren Söhnen einen endlosen Plural ihrer Wirtschaftsformen. Die Theologen proklamieren einen Gott, die Juristen fingieren einen Staat, aber die Idee eines einzigen Wirtschaftssystems ist zwischen 1904 und 1960 als Götzendienst blossgestellt. Vermutlich ist die Antithese des Kommunismus gegen den Götzendienst des Kapitalismus nützlich gewesen, denn beim Tauziehen zwischen Kapitalismus und Kommunismus können nun beide stürzen.
Und sie stürzen, sobald und soweit global gewirtschaftet werden muss. Diesen Pluralismus unserer Wirtschaftsmethoden hat das amerikanische Committee on Economic Power seit 1935 anzuerkennen begonnen. Und er tritt in Kuba, in Argentinien, in den Schweizer Alpentälern und in Schweden, in Italien und in Afrika deutlich genug in Kraft, um sagen zu können: Er ist eine Tatsache, das heisst eine durch Leiden und Taten zweier Generationen in die Welt neu eingesetzter Tatbestand. Zum Inhalt der Epoche von 1904 bis 1961, oder von 1905 bis 1960, wird die globale Einheit für der Menschen tägliches Brot. Die industrielle Produktion beruht auf Wissenschaft. Diese Wissenschaft ist universal.
Deshalb wird auch das tägliche Brot den Menschen auf der Erde künftig nur universal gereicht werden können, und zwar jeden Tag in einer anderen Produktionsweise. Genau so steht es im Vaterunser, dass Gott uns nur täglich, also jeden Tag anders, unser Brot geben kann. Holz, Wasser, Kohle, Elektrizität, Atomkraft lösen einander ab, um uns zu ernähren.
Jedes dieser Produktionsmittel verkörpert eine andere Wirtschaftsordnung. So hart die Hirnschalen der Bankiers, der Marxisten und der Professoren der Ökonomie auch widerstehen, den pluralen Charakter der Wirtschaft haben die beiden Weltkriege unübersehbar gemacht.
Der Name Stalin bedeutet die Verschleierung dieses Tatbestandes. Aber der Pluralismus der Wirtschaftsweisen setzt den Bolschewismus zum östlichen Flügel der globalen Revolution herunter. Dabei hilft die im Westen scheinbar unbekannte Tatsache, dass die Russen die Weltrevolution und die Revolution von 1917 nie gleichgesetzt haben. 1930 liess Sokholow in einem Roman einen Bauern zum andern sagen: «Es ist so weit gekommen, dass die Weltrevolution jeden Augenblick eintreffen kann.» (Rosenstock-Huessy: Die Europäischen Revolutionen, 3. Auflage 1961, S. 501.) Weil die Angsthasen des Westens zwischen 1917 und Weltkriegsrevolution nicht unterscheiden, bleiben ihnen der Stalinismus und seine Überwindung gleich rätselhaft. Stalin ist in Wahrheit das Symbol der übertriebenen Bewusstheit der russischen Revolution, Sowie man die Schweiz das Symbol der übertriebenen Bewusstlosigkeit unserer Weltkriegsrevolution nennen dürfte.
Es hatten nämlich Lenin und Stalin den Verlauf der französischen Revolutionen von 1789, 1830, 1848 1871 minutiös, d. h. Tag um Tag, studiert. Und sie hatten sich geschworen, die Wechselfälle dieser Revolutionen freiwillig selbst rechtzeitig zu vollziehen. So hat Stalin Thermidor und Brumaire, Directoire und Napoléon und sogar die Bourbonen von 1815 selber darzuleben versucht. Weil überbewusst, ist er sein eigener Konterrevolutionär geworden. Weil er aber nur einen Bruchteil der in die Weltkriege verstrickten Weltteile vertrat, so hat sein Revolutionskalender nie ganz gestimmt. Immerhin hat er 1931 Deutschlands Angriff für 1941 richtig vorausgesagt. Aus diesem Grunde hat er auch Iwan den Schrecklichen, Peter den Grossen und Nikolaus I in buntem Wechsel verkörpert. In Erwartung der Weltrevolution wich er in alle Phasen der auf sie hinzielenden Vorgeschichte noch einmal aus. Wenn in Frankreich es hiess, die Revolution verzehre ihre eigenen Kinder, so war Stalin dieser Menschenfresser. Die Stalinisten erwarten noch heute die Weltrevolution. Für Chruschtschow aber ist sie so wie für den Westen in den letzten 55 Jahren als Revolution ausgebrannt. Daher muss er heute die Epoche von 1914 bis 1961 eng zusammenziehen. Der Zweite Weltkrieg mit seinem Stalin und seinem Stalingrad muss sich in die überwundene oder vollendete Tatsache der ein und einzigen Weltrevolution einreihen. Wenden wir das auf die Schweiz an, so würde das so aussehen, dass man die Elektrifizierung der Bahn nach dem Ersten und die Altersversicherung als Frucht des Zweiten Weltkrieges identifizierte. Für Deutschland würde die Entstalinisierung so aussehen, dass man in Hitler den Zwangsvorstellungs-Wiederholer Ludendorffs zu sehen begänne. Stalin hat das Schicksal der Welt gefährdet, weil er sein eigenes Tun im Zweiten Weltkrieg und das Tun des Weltgeistes im Ersten Weltkrieg auseinandergerissen hat.
[So ist also zu hoffen, daß eines Tages die Schweizer Schulkinder und die russischen Schulkinder doch dieselbe Weltgeschichte werden lernen dürfen.]1
„Stalins Einebnung und die Chronologie der Weltkriegsrevolution” als PDF-Scan
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Rosenstock-Huessy schrieb am 13.2.1966 in einem Brief an Georg Müller: … Lotte Hüssy sendet mir noch die Aufsätze in der „Zürcher Woche“ 1961, 20. Oktober. „Eine Friedenswoche“ und 1. Dezember „Stalins Einebnung und die Chronologie der Weltkriegsrevolution“. Vielleicht willst Du diese zwei rarissima auch verbuchen. Dann füge bitte auch hinzu, es habe der damalige Chefredakteur Hans Fleig den Schluß des zweiten Artikels eigenmächtig ohne Mitteilung an mich kastriert. Er schnitt den Schlußsatz ab, mit der Begründung, daß er sonst seiner Zeitschrift das Grab grabe!! Der anstößige Satz aber lautete etwa: - er liegt vielleicht in Deinem Archiv -: „So ist also zu hoffen, daß eines Tages die Schweizer Schulkinder und die russischen Schulkinder doch dieselbe Weltgeschichte werden lernen dürfen.“ ↩