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Rosenstock-Huessy: Kirche und Menschheit (1927)

KIRCHE UND MENSCHHEIT

1.

In seinem Bemühen, dem Christentum ein Ende zu machen, hat Friedrich Nietzsche einmal die schnei­dende Frage gestellt: »Wenn Jesus von Nazareth die Menschheit hat erlösen wollen, sollte es ihm nicht vielleicht mißlungen sein?« So vergessen ist die Lei­stung des Christentums. Wo alles so gründlich vergessen ist, muß man nach allem neu fragen. Nietz­sches Peitschenhieb zielt auf Jesus, dessen Vorrang er nicht ertragen konnte, wie er freimütig bekannt hat. Deshalb fragt er an dem Gebilde vorbei, das ihn ge­zwungen hat, von dem Erstgeborenen überhaupt Kenntnis zu nehmen. Ohne Ressentiment fragen wir besser und genauer nach dieser Schöpfung, die Nietz­sche zur Empörung noch 1900 Jahre nach Christi Geburt gezwungen hat, nach dem Rätsel der Stiftung Jesu. Diese Frage ist scharf begrenzt. Sie verzichtet auf alle Sentimentalität und Gefühlswerte. Sie fragt nur nach der Leistung der Stiftung, die nach ihrem Stifter »Kirche«, Herrenhaus, heißt, im menschlichen Diesseits. Wissenschaftlich nennt man dies menschli­che Diesseits heut den soziologischen Bereich. Für den Soziologen also ist die Kirche eine sich an die Mensch­heit wendende Gestalt im Diesseits.

Da ergibt sich nun sogleich Eines: Die Kirche ist inner­halb unserer Zeitrechnung die erste solche allmenschli­che Institution. Nietzsches Frage enthält mithin eine Er­schleichung, so als habe Jesus, da er doch »die Mensch­heit« soll haben erlösen wollen, eine Menschheit vor­gefunden. Nur dann hätte er sich ja unmittelbar der Erlösung dieser Menschheit zuwenden können. In Wahrheit aber weiß das Selbstbewußtsein der vor­christlichen Zeit nur von dem Leben menschlicher Stämme unter vielerlei Masken und Trachten und von dem Leben menschlicher Völker in vielerlei Ländern und Häusern. Jedes dieser Völker und jedes dieser Ge­schlechter will leben, und zwar will es nach Art und Raum eigenartig und eigenständig für sich leben. Ge­rade diese Absonderung ist das Gesetz stammhaften und volkhaften Daseins. Deshalb scheint auch heute wieder die Einheit des Menschengeschlechts nicht den schlechtesten Denkern ein böser Traum, mit dem wir genarrt seien, ja, in den uns gerade das Christentum eingelullt habe, zum Schaden der »Edelvölker« und zum Verderb der Eigenkultur der Herrenländer. So wird uns durch diese rückwärts gewandten Prophe­ten der Rasse bestätigt, daß in vorchristlicher Zeit die Menschheit praktisch nicht gelebt worden ist. Völker lebten damals in der Zerstreuung, »zerstoben über die ganze Erde«.

Die erste allmenschliche Gestalt Kirche wagt und un­ternimmt also die Propagierung der These »Mensch­heit«. Sie stellt ein Kriterium auf, das für »den« Men­schen gelte. Den Soziologen liegt es ob, zu ermitteln, welches Kriterium sie aufstellt, wie sie es aufstellt und ob sie durch dies Kriterium eine entscheidende Wen­dung oder Veränderung der Völkerweit erzielt. Den Soziologen interessiert also, abstrakt ausgedrückt, nicht die ins Jenseits weisende Erlösungsleistung der Kirche, sondern ihre diesseitige Offenbarungsrolle, wie sie sich in der Mission der Völkerweit vollzieht. Unsere Be­trachtung wird daher in dieser Welt bleiben der wirk­lichen Orte und Lande und Ordnungen auf Erden, mit­ten unter Stammesart und Völkerwirrwarr. Was bringt hier die Kirche? Was leistet sie oder was hat sie gelei­stet? Unbestritten und unzweideutig und vor aller Au­gen sichtbar und von allen nachprüfbar müßte es sein, um uns anzugehen. Wir werden dies Etwas am Schlus­se vielleicht in einem Satz aussprechen können.

83 [DIE SONDERUNG DER VÖLKER]

Aber zunächst muß die Kirche in ihrem wirklichen Beginnen und Unterfangen uns vor Augen treten. Nur wenn wir sie sehen, können ihr Kriterium, ihre ent­scheidende Rolle und Leistung von uns gesehen wer­den. Man kann immer wieder die merkwürdige Er­fahrung machen, daß weder Freund noch Feind die Kirche sehen! Die einen hassen sie und die anderen lieben sie. Die einen leben in ihr und die anderen kämpfen gegen sie. Aber Liebe und Haß allein ma­chen anscheinend noch nicht sehend.

II.

Die Kirche beginnt auf einem Grabe. Und Jerusalems Fall steht bevor. So ist sie in doppeltem Sinn die Öff­nerin eines Testaments. Denn auf diese Weise beginnt sie auf dem Grabe des letzten Juden, aber auch auf dem Grabe des Tempelstaates Israel. Beides, das Jahr 33 und das Jahr 70 n. Chr., gehört zusammen. Der 9. Ab 70 wird mit dem Tod des Messias von der ersten Ge­neration der neuen Gemeinschaft zusammen erlebt. Die Zeit beider ist — wie Herder in seiner Erklärung der Offenbarung Johannes’ es sinnig erläutert hat — in eins verschmolzen. Der Kreuzestod wird nach­erlebt, die Zerstörung Jerusalems aber vorwegge­nommen. Das freiwillige Liebesopfer und die unfreiwillige Zerstörung bilden die beiden Pole einer Span­nung, in der eingespannt dieses erste Geschlecht sein Leben mit neuen Augen ansieht. Es ist durch einen Tod von innen her geadelt und einem anderen von außen geweiht. Der vorhergegangene Tod ist freiwil­lig, unscheinbar, unverstanden, und nur der Gläubige beachtet ihn überhaupt. Der bevorstehende Tod wird erzwungen werden riesengroß, allsichtbar, aber da er noch aussteht, so würdigt auch ihn nur, wem jener erste Tod schon die Augen geöffnet hat.

Zwischen Seelenopfer und Weltuntergang lebt seitdem jeder Christ. Diese merkwürdige Spannung schließt mehr Tod und mehr Leben ein als das ungebundene, natürliche Leben. Denn durch die innere Bindung an den freiwilligen Tod tritt eine Ablösung von dem äußeren zwangsläufigen Tode ein. Die Kirche lebt so buchstäblich auf dem Grabe, mit einem lebendigen Toten in einer verwesenden, nur noch scheinlebendi­gen Welt.

Diese Spannung erzeugt das Gefälle, durch das die Kraft des erstgeborenen Bürgers des neuen Volkes sei­ne Jünger Zeugen und Sendboten überströmen kann. Wer sind diese ersten Gebündigten und Herausgelö­sten? Nun, in einem Volke, einer Herde, die ohne le­bensnahe Führung, ohne Hirten, die merken, was die Stunde geschlagen hat, geschichtlos zu werden droht — man braucht ja nur an die Instinktlosigkeit der deut­schen Führung im Weltkrieg zu denken — gibt es immer noch freien Nachwuchs, der witterungsfähig ist. Diese Witterungsfähigen aus der Herde Israels neh­men die neue Seele, die aus der Vorwegnahme der Zerstörung Jerusalems aufglüht, als Apostelstamm sehn­suchtsvoll auf. Denn in ihr gewinnen sie die im poli­tischen Bereich bereits abgestorbene Zukunftskraft, den Leitstrom und die Zugkraft für eine straffe Aus­richtung ihres anderweit nicht mehr gestrafften Le­bens. Die Kraft zum Überleben, die in der neuen See­le aufbricht, erhebt sie zur Autorität der unbeseelten oder entseelten und immer mehr auch schon in dem todgeweihten Priesterstaat entgeisterten Masse. »Chri­stus« ist die auf immer neue Geschwister übergreifen­de Seele Jesu. In immer neuen Brüdern entspringt seine Kraft, in das neue Jerusalem hinüberzuwechseln, der Zukunft Gottes, Gott mehr zu gehorchen als der Ge­genwart der Menschen. Auch Sokrates hatte so gelebt

85 [ZWISCHEN OPFER UND UNTERGANG]

und war so gestorben. Das Unerhörte jetzt war aber die dem Griechen verschlossene Stiftung, kraft der die Überwindung des Todes durch den großen Liebenden Andere Stund um Stunde, Tag für Tag nach sich zog. Plato und Aristoteles waren entsetzt zurückgebäumt vor dem Tode des Sokrates und hatten bloße Schulen neben dem Staat errichtet. Jesus entriß Jünger und Nachfolger dem endlichen Wesen des Staates mit Haut und Haar. Jesus schuf ein unendliches Gefälle durch die Kraft, mit der er in seinen Jüngern seinen Tod und ihren Abfall überlebt hatte. Er ließ sie nicht mehr aus seinem Reich herausfallen, ob sie nun als seine Jünger sich bewährten oder als seine Abtrünnigen die unter dem Kreuz neu sich sammelnde Herde bildeten. Da­durch, daß sie sowohl als seine Jünger ein Stück sei­nes Lebens in sich trugen, als auch in ihrer Schwach­heit ein Stück der Herde blieben, konnte fortan bei­des: Hirt und Herde, Liebeskraft und Lebensgier in ihnen fortleben und eins ins andere stets neu über­ springen und sich aneinander entzünden. Der Kreuzes­tod schuf die Brüder Christi und die Gefolgschaft des Herrn (Kyrios), schuf die Gemeinschaft der Heiligen und die Kirche der sündigen Menschen.

Die Verewigung dieser Kreuzessituation ist die Auf­gabe der Kirche. Die Kraft, dem Tode ins Gesicht zu blicken, und die größere, mit ihm im Rücken wieder und weiter zu leben: Diese beiden in sich wider­spruchsvollen Kräfte mußten zunächst als eine Macht innerhalb der Mächte der Vergänglichkeit verkörpert werden. Diese scharfumgrenzte Aufgabe ist der Kirche gestellt.

Das von der Geburt nach vorwärts drängende Ge­schlecht der Menschen entfaltet sich nach innen in geistigen Gemeinschaften und schließt sich nach au­ßen gegen die Natur zu Schutz und Trutz abwehrend zusammen. Diese Gruppen und Grüppchen sehen vor sich Furcht und Hoffnung als unbestimmte Göttinnen der Zukunft. Der Bestimmung weichen sie aus. Denn alle Ordnungen, die wir uns geben, Staat und Kul­tur, Gesetz und Wissenschaft, Häuser- und Eigentums­verteilung wollen ins Unendliche weitervegetieren. Sie alle drängen bloß aufs Bestehenbleiben. Ihre Na­tur läßt sich aussprechen etwa mit dem Satze: »Es wird schon nicht so schlimm werden. Und: Es wird schon noch ein Weilchen halten.«

So war ja auch die Meinung in Jerusalem.

Die Kraft zum Tode entspringt demgegenüber einem entschlossenen Verzicht. Das von der Geburt nach vorwärts drängende Leben wird als bestimmt und be­messen durch den Tod zu ordnen unternommen. Es sind leere Hoffnungen, daß wir am Tode vorbei auf ewiges Leben geistig — oder körperlich auf Verlänge­rung des Lebens — sinnen sollen. Der Glaube des Chri­sten nimmt genau wie Jesus den Tod vorweg. Ver­zichtet wird auf die typische Hoffnung jedes Spießers, der weder krank sein will noch einen Friedhof sehen mag, noch ein Siechtum in seiner Nähe erträgt. Ver­zichtet wird aber auch auf die typische Hoffnung je­ des gebildeten oder heroischen Geistes, der zwar »sich« sterben läßt, aber seine Familie, seine Nation, seine Zunft oder sein Werk für unsterblich hält. Und weil die Nation oder die Kunst oder die Rasse unsterblich sein sollen, müssen sie für fehlerlos erklärt werden. Kein Fehltritt kann zugestanden werden in ihrer Ent­wicklung. Denn der könnte ja zum Tode führen. Ge­rade wenn wir vielleicht unser Leben für Staat oder Volk oder eine Lebensaufgabe opfern, soll das, wofür wir uns opfern, vollkommen und unsterblich sein. Der Mensch will wohl dienen und Glied sein, aber nicht Glied einer sterblichen, kreatürlichen Gemein-

87 [DIE IDEALE SIND STERBLICH]

schaft, sondern einer unbedingten Ordnung der Dinge, wie Kunst,Wissenschaft und ähnlicher Idealwelten. Darauf nun verzichtet die Seele, indem sie auf die Welt der Dinge verzichtet. Gerade hierin liegt ihre Kraft zur Umkehr aus dieser feinen Welt, zu der nicht zu gehören man »sich ja schämen müßte«; aus dieser Welt der Schönheit, Güte und Wahrheit, der Kalokagathie wird umgekehrt, und die Seele überwindet die Scham, die diese Umkehr den meisten unmöglich macht. Die Idealwelten werden geräumt. Ja, es wird alles so schlimm werden! Die Ideale sind sterblich.

Die Kraft zum Tode umfaßt also mitnichten nur den Mut, leiblich zu sterben. Der antike Mensch starb leicht. Sondern es geht um den beinahe entgegenge­setzten Mut, die Gemeinschaft in sich sterben zu lassen. Die seelische Scham widerstrebt diesem Mut. Denn sie ist der Schmerz, den jede Verletzung der Gemein­schaftsbande in uns hervorruft. Soll nun alle vergäng­liche Gemeinschaft aufgegeben werden, so überwäl­tigt uns schier die Scham . Wir spüren eben den Todesschmerz der Gemeinschaft in uns; dieser Todes­schmerz jener Mitgliedschaft, die unsere Liebe um eines lebensvolleren willen aufgibt, ist der Preis, den die Geburt der neuen Gemeinschaft — hier der Kir­che — kostet.

Diese Kraft zur Schande, die eine solche tiefgefühlte Scham zu überwinden vermag, hat nichts mit dem zu tun, was wir Schamlosigkeit nennen. Sie hat so wenig damit zu tun wie der Mut mit der Frechheit. Mut ist das Gegenteil der Frechheit. So ist die Opfer­kraft das Gegenteil der Schamlosigkeit. Schamlos heißt der sinnliche und aus Sinnlichkeit haltlos sich entblößende Mensch. Jene Sterbekraft hingegen hat der seelische, glühende, der bekleidete Mensch in uns, der liebende nämlich, der die Bloßstellung duldet aus Liebe. Mit anderen Worten: Der Schamlose empfindet die Gemeinschaftsbande als null und nich­tig. Ihn kostet es nichts, nackt dazustehen, weil der Sinnzusammenhang der geschöpflichen Ordnungen ihn nicht bindet. Hingegen die liebende Seele sehnt sich nur aus irgendeiner als sterblich durchschauten, todgeweihten oder doch unzulänglichen Ordnung in eine zum Leben berufene neue Ordnung; sie sehnt sich nach dem, was man Entbindung nennen könnte, um damit sein heiliges Maß zu bezeichnen. Alle Liebe will Leben weitertragen, indem sie unzulängliche Lebensformen zu verwandeln die Kühnheit aufbringt. Wer ist schamhafter als die liebende Braut? Aber die Kraft und die Sehnsucht zur Verwandlung, die Liebe ist stärker, und so tritt sie errötend aus der Eltern Haus hinüber in das neue Haus des Mannes, dessen Wer­bung ihr Herz verwandelt hat. Aber nur deshalb bringt sie die Kraft auf, dem alten Leben abzuster­ben, weil die Erneuerung des Lebens ruft. Auch das Elternhaus wird ja in dieser scheinbaren Preisgabe durch die Tochter in der einzigen angängigen Weise erneuert. So wird in der Taufe das Kind den leib­lichen Eltern, fortgenommen und entfremdet, damit sie es auf höherer Stufe, vor Gottes Angesicht, neu gewinnen können, wenn sie in diesen größeren Liebeskreis hinüberzuleben vermögen. Die Liebe rastet nicht. Sie sichert das Leben durch freiwillige Ver­wandlung.

Will man die Weise des Herzens kennzeichnen, so kann man die des Verstandes zum Vergleich heran­ziehen. Wo wir nicht lieben, wo wir äußerlich uns in die Welthändel verstrickt finden, dort wägt unser Verstand die Dinge ab. Und da der Verstand überall die Mängel und Übel wahrnimmt, so kann er nur von zwei Übeln das kleinere wählen. Die ganze Durch-

89 [DER EXODUS DER LIEBE]

schnittspolitik, die desVerstandes, besteht daher darin, von zwei Übeln das kleinere zu wählen. Und Staatsmänner und Einzelne haben nur diesen Weg dort, wo nur der Verstand zu Wort erstattet wird, also zum Beispiel in ihrer Außenpolitik. Hier in der fremden Welt gibt es kein anderes Thermometer als das unter­ halb O auf der Abwärtsleiter der Übel.

Die positive Seite des Thermometers darf im Verkehr mit der »Welt« nicht angewendet werden, sondern nur dort, wo man liebt, wo man also mitlebt und mit­gelebt wird, dort »wo man hingehört«. Hier aber wird nicht die kleinere Größe gewählt wie bei den Übeln, sondern die größere. Das Herz wählt unter zwei Geliebten den Geliebtesten. Die kleinere Liebe, die weniger glühende, kann immer durch die glühen­dere — wie bei Eltern und Bräutigam — gerettet und erneuert werden, nie umgekehrt.

Die Erneuerung und der Aufbruch aus den Lebens­kreisen, die dank unserer Geschäftigkeit, unseres Flei­ßes und unserer Tugenden, unserer Interessen und unserer Leidenschaften ja fast undurchdringlich sind, ist nur als freie Liebestat möglich. Sie verlangt die vol­le Kraft der einzelnen einsamen Seele, aus der natür­lichen und der geistigen Gemeinschaft ihres Kultur­bereichs herauszufallen. Im Kulturbereich werden wir getragen wie Blätter und Blüten eines Baumes. Die hei­lige Ordnung, der geistige Ideenflug, die materiellen Interessen, Staat, Religion, Arbeit bilden uns zu Glie­dern der Gemeinschaft. Unsere Umwandlung aus fer­tigen Objekten und aus naiven Kindern der Kultur in ihre mündigen Schöpfer und Eltern bedarf also eines Exodus, einer Auswanderung. Nur der Kulturentklei­dete kann die stiftende Kraft neuen Lebens in die Zeit­ordnung zurücktragen. Die Glieder der Kirche treten aus aller Zeitlichkeit heraus; sie müssen sich von ihr lösen. Vorher können sie sie nicht wieder binden. Sie ster­ben nicht, um zu sterben. Sie sterben, weil sie den Ruf der Zukunft Herr werden lassen über alle Vergangen­heit, weil sie an die Stelle der Kulturen, die vom Zu­fall geboren und vertragen werden, eine Zeitrechnung setzen müssen. Der Ausgang der Seele Jesu in die W elt begründet eine christliche Zeitrechnung. Ihr Geburts­tag ist das Geburtsjahr Jesu.

Denn man glaube nicht, daß die hier geschilderten Vorgänge abstrakte Theorie darstellen. Die Kirche kommt zu kultivierten Völkern, die eingemauert in ihre Gesetze, Sprachen, Burgen und Weltanschau­ungen leben. Die höchst reale Funktion der Kirche des ersten Jahrtausends ist die Revolutionierung der bisherigen Festungen des Lebens. Das heilige Grab auf Golgatha wird die offene Fassung der Todesquelle (was mit einem abgestorbenen Worte »Offenbarung« heißt); und ihre Fassung, ihr Dasein zwischen den Festungen des Lebens ordnet diese alle erst und wirft sie auf ihre Teilwahrheiten zurück.

Diese Festung ist bar bezahlt worden und hat den Preis wirklich gelebter Menschenleben gekostet. Sie ist keine Fata Morgana, sondern eine Leistung und Gründung wie irgendein Stauwerk oder Bauwerk aus Stein und Eisen

Die Kirche ist Festung, Festung der Todesüberwindung ins Leben hinein. Dazu muß sie beides in sich tragen: Tod und Leben, und zwar in dieser Umkehr der Reihenfolge. Deshalb ordnet sie den Menschen in schroffem Gegensatz zum natürlichen Jahr der Pflanzen und Tiere durch Grab und Wiege (Ostern und Weih­nachten), und als drittes tritt herzu die Sinngebung des Lebens vom Tode her (Pfingsten). Ostern, Weih­nachten, Pfingsten stellen immer neu ihre Fahnen, ihre Losung und Feldgeschrei dar. Denn sie will ja

91 [DER TOD ALS LEBENDIGMACHER]

nicht »an sich« den Tod oder die Abtötung wie die Selbstmörder, Mystiker usw., sondern sie will nur den notwendigen von Gott uns Geschöpfen anerschaffe­nen Tod als Maßgeber des Lebens einbauen in die Kulturmenschheit, den Tod als den Lebendigmacher. Glaube ist der Hang zum Sterben in uns, Hoffnung der Hang zum Leben, Liebe aber die Torflügel zwi­schen diesen beiden Kammern unseres Herzens. Die Kirche steht daher nicht auf dem fanatischen Glau­ben, der nicht schnell genug braten, rösten, opfern, das Leben wegwerfen kann. Sie steht nicht auf der Hoffnung, die ewig wartet und bequem genug die Ideale an den fernsten Horizont vorschiebt, von wo sie bloß noch als die so beliebten wie ungefährlichen »Grenzwerte« winken. Sie steht auf dem stündlichen Wechselspiel beider Kräfte, einem Wechselspiel, das in der Kraft der zukunfthereinziehenden lebenerneuern­den Liebe zwischen Sterben und Leben schwingt. Die Kirche tritt aus der falschen scheinlebendigen Welt, die meint, man könne von der Geburt bloß »vor­wärts« schreiten, heraus. Sie streikt. Sie verlangt, daß die Bauwerke des Lebens, diese geheiligten Stätten der Kultur, sich der trostlosen, unfruchtbaren Schä­delstätte unterordnen. Diese »verrückte Zumutung«, daß vom Tode her das Leben auferstehen soll, ver­rückt buchstäblich die Tempel der Götter, die Burgen der Könige, die Agora des Philosophen und die Oikoi, die patriarchalischen Haushalte der Familienherren. Die Kirche, die von der Seele geschaffene Gefällelage vom Tode ins Leben, stürzt diese in die Erde gegra­ benen, von unten nach oben, aus dem Leben zu ewi­gem Dasein emporstrebenden Kulturbauten um.

Der seelische Strom prallt auf das irdische Mauerwerk der gestaltgewordenen Ordnungen des natürlichen Gei­steslebens, und es kostet unendliche Zeit, unendliche Seelenkraft, unendliche Opfer, um dies Mauerwerk zu überwinden. Die alte Kirche des ersten Jahrtau­sends hat zunächst nur die oberirdischen Mauern über­spült und umgebrochen. Erst die Christenheit des zwei­ten Jahrtausends hat ihre in der Erde liegenden Grund­ mauern ausgegraben.

Wieder handelt es sich hier nicht um schöne Ideen, die wir deklamieren, sondern um die nüchternen Tat­sachen der Kirchengeschichte.

III.

Die Kirche hat ihren Strom strömen lassen müssen an die Festungen des römischen Kaisertums, an die Mauern der jüdischen Synagoge, gegen die Säulenhal­len der griechischen Akademie und die Wände der ägyptischen Haushaltverfassung. In Jerusalem ist an die Stelle der jüdischen Brandopfer im Tempel das Meß­opfer der christlichen Liturgie getreten. In Rom ist an der Stelle des Kaiserkultes der Stuhl des Papstes errichtet worden. In der hellenistischen Welt ist an die Stelle der akademischen δοξαι (doxai, Ruhm) das theologische δογμα (dogma) getreten. Auf ägyptischem Boden ist die antike Wirtschaftsordnung von den Klöstern umgewandelt worden. Diese vier Gewalten der Liturgie, des Papst­tums, der Theologie und der Klöster und nichts an­deres sind der Inbegriff dessen, was Kirche ist. Ähnliche Gewalten gibt es allenthalben in der Welt; in Tibet gibt es den Dalai-Lama, bei den Juden Litur­gie, in Indien Klöster, bei den Chinesen Dogmen. Das Geschöpf Kirche aber hat diese Gewalten übers Kreuz verknüpft, so daß sie der Offenhaltung des Gra­bes, theologisch: der Offenbarung des Todes dienen. Keine der vier Gewalten ist daher ohne die andere zu denken. Jede stellt eine Brechung des seelischen Stroms auf verschiedenen Gefällestufen und an verschiedenen

93 [DIE FESTUNGEN DES LEBENS]

Ufern seines Stromlaufs dar. Es galt eben, die Festun­gen des Lebens zu nehmen. Allenthalben entzog ihnen das unheimliche Volk der Christen den Mörtel des Gei­stes, die Bausteine aus Menschen, die Ordnung aus Ri­ten, von denen sie bisher in Gang und Kraft geblieben waren. Jedes Tempels Festordnung wurde von dem neuen Kalender der Seele (Weihnachten und Ostern und Pfingsten) überschwemmt, am gründlichsten aber und endgültigsten der Tempel in Jerusalem. Nur die Klagemauer blieb von ihm übrig.

Jede staatliche Burg wurde fragwürdig, keine aber so sehr als das römische Kapitol. Horazens Gedicht(III,3o) singt nicht umsonst von des Priesters Gang zum Kapi­tol, dessen Wiederkehr Roms Leben trage. Die Kirche, die aus der Schädelstätte die Angel der Welt machte, verwandelte das Kapitol in den Ziegenberg, und der­selbe Burgherr, der den Lateran erbauen ließ außer­halb der sieben Hügel, hob sich auf von Rom und über­ließ dies Rom den Päpsten.

Die philosophische Gedankenfreiheit ward schal. Die Akademie in Athen wurde geschlossen, die neuen Bi­schofsschulen im Gebiet der Koine, beginnend mit Ephe­sus, Antiochien, Alexandria, lehrten die geschichtlich durchlebten Tatschlüsse der Seele. Denn das ist etwa die richtige Übersetzung von Dogma im Gegensatz zu den Schlüssen der Vernunftphilosophie, zu den Trugschlüs­sen und logischen Schlüssen der denkenden Köpfe.

Der Steuerdruck der Fiskalverfassung, die gerade aus Ägypten stammte, wurde unerträglich. Im Kloster mit seinem Abbas trat eine neue Wirtschaftsweise einer freien Genoßsame hervor, zuerst und gerade in der ägyptischen Thebais adelt die klösterliche Arbeit.

IV.

Die alten Festungen des Lebens wurden von dem neu­en Leben überflutet. Es scheint in solch zugespitztem Überblick, als sei dies ein leichter Sieg gewesen. Wer so denkt, verkennt, wie die Kraft neuen Ursprungs in der Seele wirkt. Die Seele ist ja nicht zweckhaft pla­nend tätig. Sie verläßt vielmehr ihre Zwecke, wenn sie ursprünglich, wenn sie »naiv«, wenn sie wieder­geboren wird; sie opfert sich. Von der Frucht ihres Opfers wird sie selbst überrascht! Sie findet sich erst wieder zum taghellen Bewußtsein zurück angesichts der Gefahren, die ihr Opfer bedrohen.

Zum Beispiel hat die Seele selber keine »Theologie« nötig. Erst als der Tatschluß der Seele, sich von dem Christus ergreifen zu lassen, durch die Phantasmata der Gnosis gefährdet wurde, als an die Stelle geschehe­ner Überwindungen des Todes gedachte Überlegen­heiten über den Tod (Kabbala und Neuplatonismus) traten, wurde Theologie notwendig. Als dann Kabbala und Neuplatonismus in freier Konkurrenz die dem ge­schehenen Aufbruch der Seelen und dem realen Kreuz und Martyrium geschichtlicher Menschen entsprun­genen Erkenntnisse »auch« aus Zahlen und Syllogis­men aufbauen wollten, nur ohne das Zugeständnis der seelischen Erfahrungsgrundlagen, denen doch auch sie selber die Problemstellung für ihre philosophischen Nachahmungen allein verdankten, erst da, gegen die boden- und wurzellosen Schlüsse der freien Geister verankerte die Seelenkirche ihre Schlüsse als Dogmata, Ratschlüsse Gottvaters, Tatschlüsse Gottsohns, Auf­schlüsse des in der Todes- und Liebesgemeinschaft ge­bundenen Geistes.

Trotzdem ist das Dogma auch uranfänglich da. Jeder Christ hat die ganze Seele empfangen. Die Kirche ist

95 [DIE PHILOSOPHENFESTUNG]

in Jesus wie in den Millionen da. So ist dem frommen Juden Jesus der erste Glaubensartikel vom Ratschluß Gottvaters vol], wirklich und bewußt, und er lehrt ihn im Vaterunser. Und mit dem Liebestode Jesu ist das zweite Dogma, der Tatschluß des Sohnes, aussprechfähig und daher schon in der ersten Seele, die nach ihm aus der geöffneten Zukunft heraus lebt, in Stephanus voll lebendig. Daher steht es Apostelgeschichte 17 zu lesen. Paulus erlebt in Stephanus’ Zeugentod die Stromkraft der Seele, die aus dem geöffneten Himmel heraus in der Zeitraumweit wirkt. In ihm tritt zu dem Wissen um den Ratschluß Gottes und den Tatschluß des Soh­nes der Aufschluß des Geistes über das Geheimnis ihres Zusammenwirkens zum Aufbau der Kirche. Und so wird gerade er, Paulus, der erste Theologe genannt, weil er nun schon das ganze trinitarische Dogma im wesentlichen formulieren kann. In seinen Formulie­rungen des seelischen Geschehens sind bereits die De­finitionen der Philosophen durch eine neue Geistes­sprache überboten. Das formulierte Dogma ist eben nicht Sache des Ausdenkens von Gedanken, die man begreift, sondern des Aussprechens von Tatsachen, von denen man ergriffen und umgriffen ist.

Aber der begreifende Verstand dieser ergriffenen See­len, die natürlichen Geister der Nachfolger Christi, der Christen, mußten erst durch Jahrhunderte »um den­ken« und »umbegreifen«. Denn naturhafter Geist, das ist Philosophie, war in der Alten Welt ja nicht etwa mit dem ersten Tag des Christentums verschwunden. Au­gustin konnte am Ende des vierten Jahrhunderts durch und durch als Philosoph aufwachsen. Durch drei bis vier Jahrhunderte dachte die Welt noch natürlich, ob­ schon in ihr Christen starben und lebten. Ja, der her­ einbrechende Seelenstrom hat die Philosophenfestung erst noch zum äußersten Widerstand gereizt. Es gibt kein so verphilosophiertes Jahrhundert neben dem neunzehnten als das, welches auf den Fall Jerusalems in der Nichtchristenheit gefolgt ist. Und die Nicht­christenheit überwog ja. Sie also versuchte es mit »Welt­anschauung«, mit Philosophie. Die Menschheit wich auch damals dem äußersten Mittel, solange es irgend ging, aus. Die Alte Welt zog die stoische selbständige Haltung des einzelnen zunächst immer noch dem Ge­meinschaftsopfer der Kirche vor. Lieber ein anstän­diger Kerl sein, der selbst auf dem hoffnungslosen Posten des vergänglichen Lebenskampfes bis zuletzt Haltung bewahrt, als einer, der schon von weither diese Scheinhoffnungen freiwillig begräbt, um das ewige Leben zu erneuern. Als alle Illusionen entlarvt waren, wollte man »den Untergang des Abendlandes« wenigstens bewußt erleben. »Si fractus illabatur orbis, impavidum ferient ruinae.« Zerborsten sinkt der Weltbau, doch die Trümmer sollen auf einen treffen, der in Form bleibt, ist das Motto der römisch-grie­chischen Menschheit vor ihrer Bekehrung.

Auch heute wird die liebesleere Hoffnungslosigkeit des Stoikers oft mit dem Hoffnungsopfer eines Lie­benden verwechselt. Es ist aber etwas anderes, in einer gottverlassenen Welt in sein stoisches Tagebuch die Hoffnungslosigkeit eines ermatteten Herzens zu schreiben (wie Marc Aurel), etwas anderes, aus über­ voller Gottesgegenwart die blühenden Hoffnungen und die Ängste eines menschlichen Herzens aufzu­opfern wie Polycarp.

V.

Ebenso schwierig und langwierig ist der Weg der drei anderen kirchlichen Gewalten gewesen. Auch der Felsen des Bischofsamtes trat nur Zoll um Zoll aus den Hüllen des Alltags, bis er auf dem Kapitol in der

97 [DER SITZ DES WIDERSTANDES]

ara coeli, dem Himmelsaltar, die alte Burg Roms er­löst hatte. Wir erkennen als ein wichtiges soziologi­sches Grundgesetz, daß nur dort, wo der äußerste Widerstand geleistet wird, die vollendete Gestalt her­ausgeschliffen werden kann. Das Bischofsamt tritt überall in Kraft, wo weltliche Herrschaft ist, das heißt in der Antike in jeder Stadt mit politischer Selbstän­digkeit. Bekanntlich hatte jede Stadt ihren Bischof oder ihre Bischöfe. So kommt es, daß noch heute Süd- und Mittel-Italien über 5160 Bistümer zählen, das alte Gallien 81, gegen 15 deutsche! Der Bischof herrscht über die Seelen. Er bindet sie an den Geist der Kir­che, löst sie aus der Freigeisterei ihrer Individuali­täten . Er herrscht aber und soll und will herrschen wie der Vizekönig des Weltherrschers, wie der vicarius Christi. Trotzdem erfährt nur der römische Bi­schof jene Vollendung des Amtes, die ihn von welt­licher Herrschaft reinigt. Es gibt eine lehrreiche Stelle aus dem elften Jahrhundert bei Petrus Damiani, die den Eindruck wiedergibt, der damals von der Bis­tümerordnung der Weltkirche ausging: »Alle kirch­lichen Würden, ob nun den Patriarchenrang (An- tiochia, Aquileja, Konstantinopel) oder den Primat als Landesmetropolit (Reims, Mainz, Toledo) oder die Bischofssitze oder sonstige Kirchen, hat ein König oder Kaiser oder sonst ein reiner Mann gegründet. Roms Kirche hingegen hat nur Er allein gegründet und auf den Felsen des wachsenden Glaubens gegründet, der dem seligen Schlüsselträger das Regiment im Him­mel und auf Erden übergab.« (Mg. Libelli de Lite, 78).

Dies Bild aus dem elften Jahrhundert ist genetisch falsch. Jerusalem und Korinth und auch weströmi­sche Bistümer sind gleich geistlichen Ursprungs wie Rom und gleich ursprünglich. Auch stand im elften Jahrhundert Rom politisch nicht freier da als andere Bischofssitze. Aber gerade weil dort die Gefahr der römischen Weltherrschaft der Kaiser am größten war, gerade deshalb ist hier das Rettende des Papstes ge­wachsen. Gerade nur hier mußte jene Einzigartigkeit, jene Vollkraft geistlicher Herrschaft notwendig wer­den, die noch heute Roms Kirche zur Hüterin von Roms Recht macht1 und von der jene Stelle des elf­ten Jahrhunderts uns zeugt. Daß gerade aus dem här­testen Widerstand die neue Form herausgeschliffen wird, zeigt sich wie im Papsttum so bei der Ordnung der Kirche im Kultus.

Wie leicht war es, die traditionellen Kulte Syriens oder Roms oder eines philosophischen ερανοζ (eranoz) und διασος zu verdrängen. Sie leisteten so viel oder so we­nig Widerstand wie ein einheimischer Munizipalrat dem Bischof von Karthago oder wie der römische Provinzstatthalter dem Metropoliten von Mailand. Hier war so viel Fluktuation; entwurzelte, weither gewanderte, künstlich aufgepfropfte, neu eingeführte Bräuche lebten neben alten, bodenständigen und ver­mischten sich mit ihnen.

Anders in Jerusalem. Nur hier bestand ein bis ins kleinste geregelter, aus der ganzen Ökumene beschick­ter, unverrückter und bis ins letzte von fremder Zutat reingehaltener Tempeldienst. Nur hier, wo das strengste Tempelgesetz verwirklicht war, lohnte es, anzusetzen. So tritt Jesus als Passahlamm an die Stelle des wirklichen Lamms, als Hoherpriester an die Stelle der Söhne Melchisedek. Deshalb sind die Psalmen die Gebetsordnung des Neuen Jerusalem geworden, des­sen 150 Lieder jeder Priester im Laufe jeder Woche als Breviergebet durch seine Seele fluten läßt. Nur wo

99 [JERUSALEM UND ATHEN]

der eine lebendige Gott im Alten Bund sich wirklich offenbart hatte, konnte der neue Bund, die neue Ver­söhnung mit ihm, besiegelt werden.

Für die Auseinandersetzung mit der griechischen Phi­losophie braucht es keiner weiteren Beweise dafür, daß im griechischen Denken das Denken an sich ge­troffen wurde, daß die Kirche hier auf den »Sitz« der Gedankenfreiheit stieß. Nur darauf ist hinzuwei­sen, daß Burg und Tempel in Rom und Jerusalem eine örtliche Herrschaft besaßen, die der Schule des Geistes in dieser Einheitlichkeit ihrem Wesen nach ab­zugehen scheint. Und dennoch hat die Rede des Pau­lus gerade in Athen ihre einzigartige Bedeutung; den­ noch bedeutet die Überwindung der griechischen Frei­städtischen Schulgezänke in der johanneischen Gei­steshaltung gerade der Athosklösterrepublik, daß auch hier das Gesetz des stärksten Widerstandes gilt.

Für die geschichtlosen Kräfte des Raumes, für Geist und Natur gilt das Gesetz des geringsten Widerstan­des. Begeisterung ergreift die willenlose Masse, Druck und Stoß dringt durch, wo der Widerstand am schwäch­sten ist. Überzeitliche Gestaltung hingegen wird in Flugsand und Massenflut unmöglich. Der Tod kann nur dort erfolgreich überwunden werden, wo das Le­ben am ehernsten und festesten und am todesnäch­sten gestaltet ist!

Die Liebe, die so stark ist wie der Tod, weicht nicht wie die Fallkraft der trägen Masse der schwersten Auf­gabe aus. Die Liebe strömt nicht von Berg zu Tal. Sie steigt aufwärts. Die Seele ist eine Kraft, die Wasserscheiden überwindet, die vom Meere der Alltäglich­keit zu den Quellen des Gebirges emporklimmt, und der Mensch geht als Seelenträger den umgekehrten Weg als die Natur. Nur die Seele hat Erfolg, die die schwerste Aufgabe wählt. Sogenannter weltlicher Er­folg ist daher das genaue Gegenteil der seelischen Ge­schichtstat. Der Seele lohnt nur das, was bisher als unmöglich, als durch den Tod verweigert gilt. Sie entsiegelt ihn. Sie tut daher in jeder Zeit die sogenann­ten Wunder, die in jeder Lage der Menschheit ein anderes Stück Tod überwinden. Sehen wir uns darauf­ hin auch die vierte Großmacht der Kirche, das Mönch­tum, an.

Man hat mit einer gewissen Schadenfreude darauf hin­ gewiesen, daß sich das Rätsel des christlichen Mönch­tums aus dem unerträglichen Steuerdruck des Fiskus »sehr einfach« erkläre. Die Weltflucht war eine Flucht vor der wirtschaftlichen Arbeit. Auch den Aufstieg des Papsttums kann man ähnlich als Machtkampf um die Weltherrschaft kennzeichnen. Oder man kann die dogmatischen Streitigkeiten um das i des Nizäischen Glaubensbekenntnisses als elende sophistische Haar­spaltereien betrachten. Von außen gesehen, sind diese Dinge auch nicht anders anzusehen. Und diese Be­trachtungsweise hat und behält ihr Recht. Nur muß sie daneben die eigene Sinngebung der Kirche laut werden lassen und vernehmen. Und da erscheint ge­rade die Umwandlung der weltlichen Wirtschaft in die klösterliche Arbeitsweise als eine in zahllosen Anläu­fen immer neu ertastete, schließlich doch geglückte Großtat. Von dem — angeblichen — Sozialkommunis­mus der Urchristenheit über die gemeinsamen Haus­halte (Könobien) der ägyptischen Mönche bis zu Be­nedikts von Nursia Regel für Monte Cassino wird die Aufgabe immer umfassender in die Wirtschaft hinein erstreckt, immer vorsichtiger aber gleichzeitig gegen die anderen Wirkweisen der Kirche abgesteckt. Der Weg ist lang.

In der Urgemeinde der ersten Jahre ist der Kreis der Gemeinde Einer. Alle Wirksamkeiten: Liturgie, Leh­re,

101 [DAS MÖNCHTUM]

Leitung und Leben vereinigen damals alle. Aber noch ist diese Urgemeinde eine der Gläubigen. Noch ist kein Erdstück, kein Kulturbereich miterlöst außer den Kindern des Menschen. Daher ist die Wirtschaft der Urchristenheit nur ein »Konsumentenkommunis­mus«. Ihr Brot stammt ja noch aus lauter vorchrist­lichen und außerchristlichen Ämtern und Ordnungen der Volksarbeit. Die Produktion steht unter dem Gesetz; nur der Verbrauch unter der Liebe des: »Sie hatten alles gemein«. Was man hat, entstammt im­mer der Vergangenheit. Es muß schon dasein. Das Urchristentum mit dem Sozialismus zu vergleichen, ist deshalb eine gedankenlose Phrase. Das Urchristen­tum ist gleichgültig gegen die Herkunft und gegen die Produktion der Güter, die man »gemein hat«. Die Gemeinde besteht ja aus »weltlosen« Seelen, die für den Weltlauf gerade die Verantwortung ablehnen, weil er verderbt ist. Dieser »Weltlauf« aber, das ist gerade Wirtschaftsordnung, Erbfolge, Eigentumsrecht und Gütererzeugung.

Die christliche Kirche wagt sich nur langsam an die Einbeziehung von Ochs und Esel, Haus und Hof, Feld und Wald heran. Gerade die Geschichte von Ananias und Saphira zeigt deutlich, daß die Seelen zuerst nur herausgehen aus ihrer bisherigen Habe und Eigentums­ordnung. Die Äcker werden verkauft, und man teilt den Erlös. Paulus arbeitet als Teppichknüpfer in einem bestehenden Betrieb.

Anders das Kloster. Es ist eine Umkehrung dieses Ver­haltens, wenn eine Mönchsschar Grundbesitz — zu­ erst eben Unland und Wüstenei! — in Besitz zu neh­men wagt. Wo niemand noch gewirtschaftet hat, wagen sie sich hin. Gott wird das Wunder tun, hier aus Stei­nen Brot werden zu lassen. Daß bisher unkultivier­tes oder schlecht kultiviertes Land in den Kreis der Wirtschaft neu aufgenommen wird, ist das Wunder, das die gesamte abendländische Kultur seither immer planmäßiger zu erwarten und anzuwenden gelernt hat. Weil es uns heute selbstverständlich ist, deshalb ist es an sich nicht selbstverständlich! Die Benediktiner-Regel, die in Kapitel 33 das Sondereigen der Brüder im Eremus der klösterlichen Grundherrschaft verbie­tet und in Kapitel 48 die Arbeit der Hände dem Ge­bet gleichsetzt, weil Müßiggang der Todfeind der Seele sei, hat die Seele erst mächtig über die Erde gemacht. Denn erst der, der arbeitet, obwohl er nichts hat und nichts haben wird und der dennoch arbeitend in unendlicher Erwartung lebt, hat die Arbeit in das Reich des Geistes einbezogen. Dies ist uns heute auch fast selbstverständlich, aber es ruht diese Selbstver­ständlichkeit auf der Mönchshaltung

Auch bei ihr gilt es festzustellen, daß das Gesetz des stärksten Widerstandes in Kraft ist! Gerade die Ein­öde bringt das Brot.

Die Kirche hat so alle Kräfte der Gemeinschaft bis zur Vollkommenheit in ihre Selbstgestaltung vom Tode her eingehen lassen. Kultus, Lehre, Regiment und gemeinsames Leben sind im Festkalender, in Dogma, Papst und Kloster bis zur letzten Einzelheit und Zu­spitzung ausgebildet.

VI.

Mit alledem aber ist die Kirche nur die erste Gestalt der christlichen Zeitrechnung. Diese Begrenzung ihrer Gestalt muß, erfassen, wer begreifen will, was mit der christlichen Zeitrechnung angehoben hat. Den einzel­nen Volksfestungen und Völkern tritt in der Kirche eine einheitliche Gestalt der Zukunft entgegen.

Alles Vorchristliche gilt nur zu seiner Zeit und an sei­nem Ort. Die Kirche wurzelt im Ursprung, in dem die

103 [GOTTLOS UND GÖTTERLOS]

christliche Zeit und in dem die menschlichen Räume täglich neu aufspringen, in der Liebe, die so stark ist wie der Tod, im Mut von jenseits des Grabes aller natio­nalen oder individuellen Hoffnungen und Entwürfe. Die Kirchengeschichte ist bekanntlich Missions-, Aus­breitungsgeschichte. Immer noch einer Nation, noch einer gens, noch einer Polis, noch eines Tempels, einer Mythologie, eines Vaterlandes Götter werden dem le­bendigen Gotte zurückgewonnen. Nicht etwa, daß die Kirche diese vielen Götter leugnete. Das tut nur der heutige platte Monotheismus der Deisten und Thesiten. Sondern der Gott, der sein wird, der er sein wird, ist nur mächtiger als alle seine einzelnen Ele­mente (als »die Götter«, wie der 134. Psalm sagt). Gott im Raume (und das heißt Gott in der Vergan­genheit): der Gott der geschaffenen, beendeten Schöp­fung, der ist ja doch über jeden von uns nur zu sehr ohne Anstrengung mächtig. In diesen Raumformen verehren wir ihn gern. Die Kunst, die Wissenschaft, das Vaterland, die Familie, der Sozialismus, die Reli­gion, Aphrodite und Juno, Mars und Psyche, Daimon und Genius — das sind alles »Elohim«, Mächte gött­licher Gewogenheit und Gewordenheit, denen wir gar zu gern dienen, weil wir wähnen, sie uns wählen zu können. »Götterlos« ist so leicht kein Mensch, weil es zu verführerisch ist, das eigene Selbst oder das eigene Talent oder den eigenen Beruf oder die eigene Fami­lie oder die eigene Rasse oder den eigenen Staat zu ver­göttern. Nein, »gottlos« sind die Menschen, weil stö­rend, beunruhigend, unerwartet aus den selbstgewähl­ten Göttern der vom Ende her uns Wirkende als der Gebietendste sich erhebt, weil die Götter mächtig sind, aber nur Gott lebt. Der Götterdiener kann wohl ohne den wahren Gott und insofern gottlos sein. Aber nur der Götterlose ist ein ganz armer Teufel, weil ihn so­ gar die schon geschehene Schöpfung kalt läßt. Wer den wahren Gott nicht kennt, der hat kein zukünfti­ges Geschehen. Wer aber die gewesenen Elohim , das heißt wer das Göttliche nicht anerkennt, der erst hat gar kein Leben. Denn erst er ist ganz undankbar und ganz unempfänglich. Und nur der Undank, der sich selbst erschaffen haben will, ist teuflisch. Nur die Un­dankbarkeit verstößt uns in die Hölle. So bleiben die meisten Menschen wenigstens dadurch, daß sie irgend­wie und irgendwem dankbar sind, Menschen, auch wenn sie Mächten und Elohim der Vergänglichkeit opfern. Freilich sind sie Menschen nur innerhalb des geschöpflichen Bereichs, dem sie durch ihre Dank­barkeit verbunden sind, nur als Glieder einer Ge­meinschaft, sozusagen mittelbar durch die Götter ihrer Gruppe, ihres Stammes, ihrer »Richtung«

Der Durchbruch zur unmittelbaren Menschlichkeit heischt den Durchbruch in den Strom Gottes selbst, hinüber über alle schon stillgelegten Augenblicke sei­nes Schaffens. Vor dem Tode und angesichts des Todes sind alle Götter Staub. Im Leben, innerhalb der Breite der räumlich entfalteten Welt wirken hingegen die Elohim geschäftig »der Gottheit lebendiges Kleid«. Aber alles dies Erdteilhafte soll einbezogen werden in die Heilsgeschichte vom Ende der Zeiten her. Die christ­liche Zeitrechnung betrachtet alle Völkergeschichte als vorläufige, vergängliche Einzelgeschichten, die erst auf die eine ewige Geschichte zuhalten und lossteuern.

Die Kirche offenbart diese Einheit dem Menschen­geschlechte und den Völkern. Sie zeigt immer wieder auf dasselbe Bild. Sie ist monoton. Sie zeigt es denen, die es noch nicht gehört haben, und denen, die es wie­der vergessen haben. Sie wächst in ihrem Aufgaben­umfang, aber sie verändert nicht ihre Aufgabe. Begrenzt man die Gestalt der Kirche so scharf auf diese

105 [DER ARCHIMEDISCHE PUNKT]

eine Stelle in der Wirklichkeit, daß sie vom Tode her den Mächten der Vergänglichkeit die endgültige Deu­tung und den letzten Maßstab entgegenhält, so wird es zu einer wissenschaftlich evidenten Tatsache, daß sie diese Aufgabe auch erfüllt hat und noch — in aller Zersplitterung — unangefochten erfüllt. Diese Aufgabe und diese Leistung bestreitet ihr im Grunde nämlich auch kein Freidenker, Atheist oder Jude, kein Nietzscheaner oder Darwinist. Nur denken sie meist nicht an diese Leistung. Sie bekämpfen anderes an der Kir­che, zehren aber selber von dieser ihnen bereits so selbstverständlichen Leistung, daß sie vergessen haben, durch welche Gestalt sie in die Welt gekommen ist. Denn alle Weltanschauungen von heute, alle poli­tischen Programme sind abgeblaßte oder entstellte christliche Theologumene; keine einzige ist ohne ge­nau nachweisbare Offenbarungselemente, die aller­dings meist reichlich willkürliche Bruchstücke dar­stellen. Daß aber diese Weltanschauungen alle die Welt im ganzen können anzuschauen glauben oder wäh­nen, dazu nehmen sie den Mut vollends nur aus dem Beispiel der Kirche, die eben buchstäblich gestreikt hat und in den Ausstand getreten ist, um für die An­schauung der Welt den archimedischen Punkt zu ge­winnen, und die — im Gegensatz zu den sich weltan­schauungsfähig Wähnenden — , jenen archimedischen Punkt innerhalb der Zeitrechnung für ihre Lehre fest­ zuhalten gewußt hat. Man kann diese Leistung leicht sehr unbedeutend finden. Es genügt dazu, von den Menschen und Völkern recht hoch und groß zu den­ken. Im Zeitalter des Verkehrs und des Idealismus scheint es eine lächerliche Kleinigkeit, die zerstreute Menschheit unter ein Zeichen gerufen zu haben. Die wirkliche Zeitrechnung aber hat es mit so lächerli­chen Kleinigkeiten zu tun. Ihr ist alles wichtig, was aus und mit dem Menschenleben geleistet und be­zahlt wird. Die Kirche kostet nicht Ideen, sondern eine ununterbrochene Kette von Seelen, die in Raum und Zeit ihren Adam, ihr Geschöpf zurücktragen als Mitwirkende an den Pflichten der Kirche, ob nur Sonntags oder Feiertags in der Gebetsgemeinschaft wie die Laien, ob im Regiment wie der Weltklerus, ob in der Lehre wie die Theologie, ob ins Leben wie die Asketen und Mönche aller Regeln und Orden. Sie kostet Zeit, Lebenszeit von Menschen, und bestimmt ihrerseits darüber, was ihnen Innen und Außen, Hei­mat und Fremde wird. Sie schafft also geistige Räume und Zeiten, in denen die Seele lebt, und zwar sind diese Räume und Zeiten, soweit die Seele eins ist mit der Kirche, von der Kirche her in diesen vier Gewal­ten vollständig verwirklicht.

Der Leser wird sich selber sagen, daß dabei der Ein­zelne auch indirekt oder zu Teilen von diesen Gewal­ten ergriffen werden mag. Man braucht nicht Mönch sein, um mönchisch zu arbeiten. Askese als geistiges Fluidum ist heute Gemeingut der christlichen Welt. Ich erinnere an das berühmte Wort Harnacks vom as­ketischen Mönchtum des Gelehrten auf der Reichs­schulkonferenz. Immer bleibt auch dann die große Gestalt des Mönchtums die soziologische Vollgestalt, die zwar in tausend Spiegelungen, Ansätzen, Nach­ahmungen gleichsam auch natürlich besteht, deren ausdrückliche Fassung zu einer besonderen und end­ gültigen Gestalt dennoch einmal im Vollzug der Kir­chengeschichte für allemal mit geleistet worden ist.

Der Zeitmesser, der Chronometer muß diesen ausdrück­lichen und autonomen, den selbstbewußten Vollzug einer ewigen Leistung festhalten, weil anders das Ge­setz der jeweiligen Verwandlung aus einer Aufgabe der Zeitrechnung zur nächsten unverständlich bleiben

107 [DER BAUPLAN DER MENSCHHEIT]

wird. Nur wenn die Zeitrechnung einmalig Zug um Zug ewige Kräfte zum Zwecke ihrer immerwähren­den Fassung bildet und gestaltet, nur dann begreift sich, daß der Vollzug der Kirche, kaum geschehen, den nächsten Gestaltungsprozeß innerhalb der Zeit­rechnung rufen mußte. Die Schöpfung der Kirche zieht alles andere nach sich. Dem Auftun des Grabes folgt die Eröffnung und Aufdeckung der äußeren Welt. Die Kirche bleibt. Denn als Gestalt der Zeitrechnung faßt sie Immerwährendes endgültig. Das Geistliche ist nun gefaßt. Der weltliche Staat kann nun beginnen. In jenen Jahrhunderten, wo Dogma, Kloster, Papst­tum und Kultus sich vollendet hatten, beginnt seine, des Staates Gewalt ihr eigentümlich universales Leben als zweite Gestalt unserer Zeitrechnung.

Dem Jahrtausend der Kirchenschöpfung folgt darum ein Jahrtausend der weltlichen Staatenwelt, und Zug um Zug entspringt diesem zweiten Jahrtausend, kaum daß es sich vollendet, ein drittes der Gesellschaft. Wir hoffen, diesen Zug und Vollzug des Glaubens ausführ­lich in unseren »Gesetzen der christlichen Zeitrech­nung« darstellen zu dürfen. Aber nur dem, der den Eckstein der Kirche anerkennt, erhellt sich der Bau­plan der Menschheit. Die Kirche ist nicht die Mensch­heit. Aber die Menschheit wäre nicht ohne ihre An­fängerin und Urheberin: die Kirche. Denn die Kir­che ist es, die der Seele des Menschen ihr Gesetz of­fenbart hat, das sie gegen alle Natur des Menschen stellt und von aller Natur trennt. Die Natur des Menschen geht wie alle Natur von Berg zu Tal. Das Wasser läuft nicht den Berg hinauf. Die Schwerkraft regiert im Reiche des Wägbaren und des Zählbaren. Hier gilt dasGesetz des geringsten Widerstandes. Alles natürliche Leben sieht zu, wie es am billigsten wegkommt. Es will mit den geringsten Unkosten sich durchwinden durch den Tag. Die Seele verfährt in allem genau umgekehrt. Sie will nämlich Endgültiges. Sie muß sich vollen­den. Sie will vollenden und ans Ende kommen. Sie will das Leben nicht leben, sondern fassen, sie will die Kräfte nicht sparen, sondern ordnen. Der natür­liche Mensch probiert alles; er denkt: Es wird schon nicht so schlimm werden. Es wird’s ja wohl niemand sehen. Einmal ist keinmal. Die Seele glaubt bei al­lem was sie tut, es sei ein für allemal. Ein für allemal hat die Kirche gezeigt, wie man den Tod überwindet.

In der Natur ist nichts ein für allemal geschehen. In der Natur verrinnt das Leben. Die Kräfte rasen sich aus und verströmen. Den Menschen wurmt diese Sinn­losigkeit seiner Natur. Der Satz: »Einmal ist keinmal« droht all sein Tun zu entwerten. Es ist aber dies das Kri­terium des Menschlichen, das vom Christentum auf­gestellt worden ist: .wie der Mensch ewig sein könne im Augenblick, wie er ein für allemal handeln, leben und wirken könne. Es kann das nur geschehen in je­nem Schwebezustand zwischen 33 und 70, in jener entsagenden Bindung an das Härteste und Lösung von dem Süßesten. Der Wunderbau der Kirche ent­springt dem Satze: ama quia durissimum est. Das Widerstrebendste muß überwunden werden. Denn nur in ihm wird das Wesen des Widerstandes überwun­den. Deshalb mußte nicht Seneca sondern Plato, nicht das Gesetz Spartas sondern das Roms, nicht die My­sterien von Eleusis, sondern die Brandopfer von Jeru­salem, nicht die Wirtschaft des Sabinergebirges, son­dern der Haushalt des Nillandes Ägypten überwunden werden. Amabantur quia durissimi erant. Sie wurden liebend ergriffen von den Nachfolgern des Herrn, und an ihnen erwuchs die »Kirche« des Herrn, weil sie als die gelungensten Vorformen die sedes materiae, der Sitz des natürlichen Widerstandes waren. In dieser Re-

109 [AMA QUIA DU RISS IM UM EST]

gel: ama quia durissimum est, dort zu lieben, wo es am schwersten ist, weil es nur dort lohnt, zu säen und Fuß zu fassen, ist also die Leistung der Kirche formu­liert, nach der wir fragen wollten. Aus ihr entspringt die völlige Absonderung der menschlichen Seele von aller bloßen Natur. Und nur soweit diese Seele entzün­det ist, sondert sich das Menschliche aus der umge­benden Natur heraus und wird auch von Feind und Freunden als Menschliches anerkannt. Wo diese See­lenkraft nicht aufbricht und durchschimmert, gilt von den einzelnen: Homo homini lupus. Der Weiße hält den Neger wie ein Tier. Wo sie nicht aufbricht, sind alle Nichtgriechen Barbaren. Wo sie noch nicht oder nicht mehr das Kriterium des menschlichen Wesens bildet, sind die Völker wie Walfisch, Hahn und Adler. Und die Habsucht für den eigenen Bereich kann dann, aber nur dann die fremden Völker wie wilde Tiere totschlagen. Wir haben ganz im Diesseits mit unserer Frage nach der Leistung der Kirche bleiben wollen, innerhalb der geschöpflichen Wirkungen, die das Einfangen des To­des durch die Grabstätte Jesu auf das Leben der Völ­ker zurückgewirkt hat. Am Vorwegnehmen des Todes erkennen sich die Menschen im Diesseits als Menschen, als Mehr-als-Natur. Dem Diesseits selbst, und einer bloß natürlichen Menschheit hatte Friedrich Nietzsche die Leistung der Kirche zugeschrieben und auf diese Weise die Nutzlosigkeit von Jesu Wirken dartun wol­len. Aber die Kirche hat das Diesseits verwandelt. Wir Heutigen sehen das Diesseits überhaupt nur in seiner von der Kirche umgewirkten, seelenhaltigen, Mensch­heit und Natur, Schwerkraft und Wunder trennenden Anordnung.

Darum müssen wir Friedrich Nietzsches Frage, die ein­gangs erwähnte, nach dem Gelingen oder Mißlingen des Unternehmens Jesu, abwandeln, und wir müssen uns fragen: Wenn Jesus durch die Stiftung der Kirche die Mitglieder aller Völker in eine Menschheit hat hin­übergliedern wollen, sollte es ihm nicht vielleicht ge­lungen sein?

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  1. Vgl. Codex iuris Canonici, Einleitungskonstitution vom 27. Mai 1917: ipsum quoque Romanorum ius, insigne veteris sapientiae monumentum, quod ratio scripta est merito nuncupatum__