Rosenstock-Huessy: Industrievolk (1924)
Volk im Werden
Schriftenreihe der Rhein-Mainischen Volkszeitung
Eugen Rosenstock
Industrievolk
Motto: „Man muß den Geist der Väter besitzen, um ihn zu überwinden.” S….
Zweite erweiterte Auflage
Verlag der Carolus-Druckerei, G.m.b.H., Frankfurt a. M.
1924
Die Schriftenreihe „Volk im Werden” wird herausgegeben von Professor Dr. Friedrich Dessauer, Dr. Ernst Michel und Dr. Heinrich Scharp
Aus dem Zwischenraum zwischen Technik und Weisheit
Aus der Zwischenzeit zwischen Krieg und Frieden
Viktor Bausch
Arnold v. Borsig
Eberhard v. Brauchitsch
zugeeignet
Die Totengräber der Arbeiterbewegung.
Bedarf es vieler Worte, um die Krise der Arbeiterbewegung zu kennzeichnen? In Italien die Gewerkschaften zerrieben und von einem ehemaligen Arbeiterführer Mussolini der Staat ausdrücklich und feierlich auf den Mittelstand gegründet, in Frankreich, der Schweiz, Deutsch-Oesterreich, Polen, Tschechei, Jugoslavien usw. die Arbeiterbewegung rückläufig, zersplittert, ohnmächtig. In Rußland keine Arbeiterschaft mehr vorhanden, sodaß der Sowjetkongreß die künstliche Schaffung von Großindustrie beschließt, damit es das industrielle Proletariat wieder gebe, auf das er sich stützt! In Nordamerika barbarische Sozialistenverfolgungen gepaart mit kapitalistischen Bankgründungen durch Arbeiterberufsverbände.
Wo ist da Strömen, Sturm, Bewegung, die Massenteilchen vorwärts ans Ziel risse? Zerstreuung, Verebben, Zersplitterung, Auflösung zeigen sich allenthalben. Die Novembersozialisten haben sich auf ein ebenso altes Pferd gesetzt wie ihre politischen Gegner. Der Sozialismus ist ein Teil dessen, was alles im ungeheueren Verfall geistig stirbt. Heute also, wo Reiche, Kulturen, Weltanschauungen zittern, ist der Sozialismus nur ein Thron unter vielen Thronen, die bersten. Erlischt mit der Konstatierung des Todes beim Arzte die Pflicht, den ihm anvertrauten Leidenden zu betreuen? Seine Treue wird doch wohl die Pflicht einschließen, diesem besonderen Tode nachzusinnen. Wenn Dinge sterben, so sterben sie wie Menschen jedes seinen eigenen Tod. Die Krisis der Arbeiterbewegung darf fordern, in ihren eigenen Todesgesetzen erfaßt zu werden. Und noch eins: Wir haben vorstehend Arbeiterbewegung und Sozialismus durcheinander gebracht. Aber wenn heute der Sozialismus allenthalben im Rückgang ist - besagt das schon etwas über die Arbeiterbewegung? Oder beruht der Tod der Arbeiterbewegung vielleicht auf ihrer Durchtränkung mit dem Sozialimus? Vielleicht ist es auch umgekehrt. Aber ob der Sozialismus nun an den Arbeitern stirbt, oder die Arbeiterbewegung am Sozialismus: so halten wir in dieser Verbindung jedenfalls den konkreten Gehalt der Krisis in Händen. Der eigene und besondere Tod der Arbeiterbewegung und der des Sozialismus rührt aus ihrer Beziehung aufeinander. An der Erkenntnis des Tödlichen, das in dieser Beziehung steckt, muß sich das Lebendige vom Toten sondern lassen. Die Sonden der Kritik, der dieser Dienst aufgetragen ist, wird also Sozialismus und Arbeiterbewegung auseinander zu lösen haben, um zu sehen, was denn an beiden unsterblich ist und aus der gegenwärtigen Krise daher herausgehoben und gerettet werden muß.
Die Arbeiterbewegung stirbt heute am Kommunismus von links, am Faszismus von rechts. Denn die beiden Gruppen strömen aus der Arbeiterschaft die beweglichen Elemente ab. Was zurückbleibt, ist konservativ, ängstlich beharrend, reaktionär, formal-demokratisch, ist mißtrauische, ihrer Führer beraubte, ermüdete, ungläubige Masse. Die sogenannte Sozialdemokratie ist durch diesen Blutleerungsvorgang in einer grausamen Lage: die eigenen Funktionäre reißen sich um die Pfründen einer bankrotten Staatsordnung, rauben ihr also den Gedanken und das Element des Opfers. Der Kommunismus übertrumpft sie durch den Radikalismus der Utopie; jene Ausrottung der Bourgeoisie, die in Rußland bei 89 Prozent Analphabeten möglich war, hält er als blutrünstige Vision fest, und raubt damit der Sozialdemokratie das Element und die Kraft der Prophetie. Der Faszismus in deutscher, völlig seines Geistes beraubter Gestalt Nationalsozialismus benannt, zeigt, wie man erfolgreich – durch Rhizinusöl und durch das ganze Instrumentarium, das der moderne Kino-Film nicht vergebens seit einem Jahrzehnt in die Gehirne hämmert – Gewalt anwendet. Er raubt der Sozialdemokratie damit den Anspruch auf revolutionären Wirklichkeitssinn, auf Ablehnung aller „bloßen Ideologie“.
Opfer, Utopie, revolutionäre Gesinnung: diese drei Momente haben aber das Wesen der sozialistischen Arbeiterbewegung konstituiert. Die Ueberholung in diesen drei Punkten durch die drei neuen Mächte: den Streber, den Bolschewisten und den Nationalisten, trifft sie an allen lebenswichtigen Stellen ihres Organismus. Die revolutionäre Gesinnung befreite sie von jeder Auseinandersetzung mit dem Geisteserbe der Vergangenheit und erlaubte ihr: primitiv zu sein. Die utopische Theorie gab ihr den denkbar weitesten Werberadius in die Gesellschaft hinein, sie erlaubte ihr international zu sein. Die Opferbereitschaft aber regenerierte immer wieder die schon aufgestellten Parteicadres, Verfolgung und Martyrium erlaubten ihr, geduldig und zähe zu warten.
Der Raub dieser drei Qualitäten durch die drei Totengräber wäre nicht so lebensgefährdend, wie er ist, wenn fremde, andere Gesellschaftsschichten die Quellenbereiche jener drei Ueberholungsvorgänge wären. So ist es aber nicht. Kommunismus ist eine Bewegung gewisser Sondergruppen der Arbeiterschaft: ungelernte Arbeiter, Arbeitslose, durch plötzliche Industrialisierung einer Gegend neu proletarisierte Schichten sind die drei Haupthaufen, aus denen er gespeist wird. Man denke an die Arbeiterschaft der Leunawerke bei Halle. Hier sind in wenigen Jahren seit dem Kriege tausende von Arbeitern zusammengebracht worden, auf altkonservativem Volksboden, ohne alle Rücksicht auf Wohn-, Lebens- und Nahrungsverhältnisse dieser Tausende. So hat man hier die Sünden der Gründerzeit, der Zeit um und nach 1800 in England, der sechziger und siebziger Jahre bei uns, in neuer Steigerung wiederholt. Entsprechend ist der Kommunismus die Antwort darauf. Aber dieser Zusammenhang gibt einen Fingerzeig zur Ausdeutung des Kommunismus. Auch dieser ist ein Rückgriff auf Urstadien der Arbeiterbewegung. Als Kommunismus ist die Arbeiterbewegung zur Welt gekommen. Es ist eine abgelagerte Form, die sich Sozialismus und Sozialdemokratie genannt hat. Wo wir Anfangszeiten der Industrie in persönlicher, technischer und sozialer Hinsicht haben, da finden wir Kommunismus, die radikale Utopie an und für sich, rücksichts-, einsichts-, ja ziellos; der Notanker einer ohne eine solche Aufpeitschung geistig und materiell nicht zu rettenden neuproletarischen Schicht. Denn was sind die drei Gruppen des ungelernten, des arbeitslosen und des neuindustrialisierten Arbeiters, anders als jene, die den Vorgang der „Gründung“, der „Durchkapitalisierung“, der Industrialisierung eines Gewerbes oder eines Bezirkes notwendig begleiten: das neue Gewerbe schafft immer erst schrittweise neue Berufe. Ein bekanntes Beispiel ist der Papierarbeiter, der heute noch der Gewerkschaft der Fabrikarbeiter (d.h. der ungelernten Arbeiter) zugerechnet wird, inzwischen aber im Vorschreiten der Technik bereits eine spezielle, ausgebildete und hochbezahlte Arbeiterart darstellt. Der Arbeitslose: gerade der Einbruchneuer Industrien, und die Umstellung von alten lässt das, was Marx die industrielle Reservearmee genannt hat, recht sinnfällig in die Erscheinung treten. Denn hier wird mit außergewöhnlichen, als Anreiz gedachten hohen Werbelöhnen in ein Gleichgewichtssystem hineingestoßen, und es bilden sich unter dem Zuge dieser Lockung neue Arbeiterrekrutierungsreservoire, nicht ohne viel Opfer und Verlust an Ordnung, Frieden und Stetigkeit. Der neuindustrialisierte Arbeiter: das ist schließlich ein Typus, der durch den des ungelernten und des arbeitslosen noch nicht mitumfaßt ist, obwohl er die Schicksale dieser beiden wohl oft genug durchläuft. Er läßt sich bezeichnen als der, dessen Wesen noch erste alte Bedingungen ausstoßen, neue daher nocht nicht über sich nehmen kann. Er kommt „vom Lande“, d.h. aus einem ihm nicht mehr passenden, sinnlos erscheinenden Erbleben. Er steht noch im Bruch mit dem Alten, und dieser Vorgang des Bruches ist es, der von ihm in so vielen Beziehungen: Kirche, Ehe, Politik, Vergnügen, durchgeleistet werden muß, daß die neue Bindung nur in einer allgemeinsten, nebelhaften Fassung für ihn Inhalt haben kann. Die beiden Bewegungen des Lösens und Bindens sind zwar nicht zeitlich absolut auseinander gespalten vorzustellen. Aber führend ist jeweils das eine oder das andere Element. Beim neuindustrialisierten, neuproletarisierten Arbeiter drückt der Kommunismus aus, daß bei ihm an neuer Erbmasse noch so gut wie nichts vorhanden ist.
So gräbt der Kommunismus dem Sozialismus seine Quellen ab. Er besetzt die Nachwuchsgebiete. Der Sozialismus wird Angestelten- und Beamtenpartei,weil der eue Arbeiter nicht Sozialist wird. Der Kommunismus zehrt daher das ureigenste Kraftfeld des Sozialismus auf. Dadurch aber, daß er bloß Rückfallstufe der Arbeiterbewegung ist, ein geistiger Rückschlag, den wir entsprechend auf vielen Gebieten – in der Jugendbewegung, der Wissenschaft, der Politik – als Kriegsfolgen spüren, ist der Kommunismus zur Unfruchtbarkeit verdammt. Denn wenn ein Gebilde ein gewisses Wachstum erreicht hat, ist es ein Akt der Gewaltsamkeit, es auf seine erste Stufe zurückführenn zu wollen. Dadurch wird nicht etwa die Zartheit des jugendlichen Organismus wieder hergestellt, die gerade das Verheissungsvolle einer ersten Stufe ausmacht. Sondern es wird im Gegenteil eine gewaltsame Einfachheit durch Vergröberung erzwungen. Nur das Zarte aber hat Zukunft. Grobheit und Verholzung sind Endzustände. Der Kommunismus von heute ist gewaltsame Primitivität, nicht Kindheitstraum. Er ertötet in seinen Trägern alle leisen, vortönenden, anklingenden und ahnungsvollen Schwingungen. Er ist Rück-schlag im Sinne des Schlagens ohne inneren Rhythmus und eigene Seele.
Er macht die Arbeiterbewegung, indem er ihre Quellzuflüsse abdrosselt, um eine große Hoffnung ärmer.
Der Faszismus ist ebenfalls nur deshalb für die Arbeiterbewegung so bedrohlich, weil er von Arbeiterfäusten vorangetragen wird. Als Offiziers-, Studenten- und Bauernangelegenheit wäre er eher eine Stärkung der Arbeiterbewegung als eine Bedrohung. Denn Angriffe von außen erfrischen und beweisen, daß wir leben. Aber so ist es nicht, daß der Nationalsozialismus außerhalb der Arbeiterwelt stünde. Er ist vielmehr eine Bahn, auf der der Arbeiter zurückmündet ins Volksganze. Die Klassenleidenschaft wird hier überwütet und übertost vond er Nationalleidenschaft. Neuer, stärkerer Haß tritt an die Stelle des älteren und ermöglicht dadurch dem Genossen, sich aus seiner Klasse, in der er hassen gelernt hat, ins Volk hinüberzuhassen. Der Judenhaß ist deshalb ein unentbehrlicher Bestandteil in der Missionsapotheke der Nationalsozialisten. In der Politik werden ja immer Haß-, Kampf-, Angriffskräfte gebunden. Und da muß also möglichst eindeutig die Angriffsfront sichtbar werden. In einer Lage, wo alle äußeren Ordnungen versunken oder verachtet sind, kann man sich an nicht vielem Sichtbaren wetzen. Dann immer wird der Antisemitismus steigen, weil in dem Augenblick der Stern des jüdischen Volkes am sichtbarsten wird, in dem die Tagessonnen der Macht jeweils untergegangen sind.
Der Nationalsozialismus ist „Aufwärtsentwicklung“ für den gesättigten, enttäuschten und schon der zweiten oder dritten Generation angehörigen Proletarier. Er setzt eine gewisse Erbmasse an Großstadtverflachung, Stammtischverdumpfung, Kleinbürgerlichkeit voraus. Er nimmt also der Arbeiterbewegung ihre Zukunft weg. Er kappt ihre Fortpflanzung. Eines seiner stärksten Machtmittel ist dabei der Haß gegen die Arbeiterführer selbst; die Erbitterung, mit der ein Hitler den Skalp der Novemberverräter fordert, zeigt, daß er einen guten Propagandainstinkt gerade in die Arbeiterschaft hinein hat. Denn niemand muß sich so sehr an dem neuen sozialistischen Staatsbeamtentum ärgern, wie der Arbeiter selber. Den „Verrat“ des November hat bekanntlich jedermann im Volk einschließlich Kanzler und Hauptquartier mitgemacht. Der Arbeiterführer aber hat, indem er damals die Staatstrümmer rettete, seine Utopie „allerdings“ verraten.
Jene Persönlichkeiten aber innerhalb der Arbeiterbewegung, die als Sozialverräter verschrien in irgend einer Form ihren Anschluß an die bürgerliche oder staatliche Welt suchen, zapfen dem Sozialismus gerade die Schicht ab, durch die er sich bisher halbwegs auf dem respektablen Niveau einer geistigen Macht hielt: den Durchschnittsführer. Es handelt sich um die Orts- und Lokalgrößen, die alle in die Orts- und Lokalstellen vom Landrat abwärts einrücken und dadurch in den Untergang des alten Staates mit verstrickt werden.
Um gerecht zu sein, muß man sich vor Augen halten, daß man sich allenthalben um die Mitarbeit der Arbeiterführer heiß beworben hatte. Es war ein unausgesetztes Betteln, Locken und Anerbieten, dem sie nachgegeben haben. Aber die Folgen sind deshalb nicht weniger tiefgehend, weil der Vorgang selber sehr begreiflich, ja unvermeidlich ist. Denn alle jene führenden Elemente treten nun in eine andere Klasse und Interessenlage hinüber. Sie können sich einer gewissen Beziehung zu allen anderen Kriegs- und Revolutionsgewinnern nicht entziehen. Die Rotte der Reklamierten in all ihren Ausgestaltungen hat seit dem Kriege die besten Kräfte – die Erfahrungen und die Reife der Kriegsteilnehmer – künstlich zugeschüttet unter den Maschen der Phrase, des Schlendrians und der Pfründenverfolgung. Der Arbeiterführer, ob nun als neuer Beamter im Ministerium oder bei einer anderen Behörde, wird zu dieser Gruppe von Gewinnlern auch dann gerechnet, wenn das eine offenbare Ungerechtigkeit gegen seine Person darstellt. Aber die Majorität einer Gruppe ist für ihre soziale Haltung nach außen maßgebend. Dadurch also erscheint die Pfründe des Arbeiterführers nicht als Frucht eines politischen Machtkampfes – als solche müßte man sie und ihren Inhaber achten. Sondern sie erscheint innerhalb jenes Gesamtschauspiels des Verfalls, bei dem sich noch möglichst viele im letzten Augenblick von dem großen Körper versorgen lassen wollen.
Nach links, nach rechts und in den Tageserfolg entlaufen und entwichen so der Arbeiterbewegung Kräfte und zwar hinüber in nicht rein proletarische Bewegungen. Faszismus, Revolutionsgewinn und Kommunismus sind alle drei keine reine Arbeiterbewegungen mehr.
Am ehesten trifft der Klassencharakter natürlich noch auf den Kommunismus zu. Und es ist ja, wie wir sehen, kein Zweifel, dass er in starkem Maße bestimmte Arbeitergruppen abfängt, die an der Schwelle der Proletarisierung stehen. Indessen ist er durch den Erfolg der Bolschewiki in Rußland von Tag zu Tag weniger eine reine Arbeiterbewegung.
Die Schicht der Desperados, der Nationalbolschewisten, selbst beiseite gelassen, so ist innerhalb des Kommunismus noch eine zweite Schicht stark vertreten: der sinkende Mittelstand, z.B. Bankbeamte und Steuerbeamte, die das Elend und den Schwindel von innen her sehen, radikalisiert sich zum Teil wenigstens mit Hilfe des Kommunismus. Die Industriearbeiterschaft der sechziger und siebziger Jahre, aus denen die Sozialdemokratie erwuchs, kam vom Land in die Städte. Der Kommunismus fängt heut städtische Bevölkerung auf, die zwar absinkt, aber weil sie keinen Milieuwechsel vornimmt, eine ganze Erbmasse von Geisteswerten zunächst aufrecht erhalten kann. Diese Erbmasse besteht freilich aus dem Flitter des 19.Jahrhunderts, ist also nicht sehr solide, aber sie verhindert eine rein proletarische Einstellung. Mit einem Schlagwort kann man sagen: die marxistischen Sozialisten waren gegen Nietzsche immun; die deutschen Kommunisten von heute – mögen sie es wissen oder nicht – sind alle von Nietzsche in irgend einem Grade angerührt. Bei der Konzentration, in der Nietzsche „Geist“ verkörpert, genügt ein Tröpfchen dieses Giftes, um die Gedankenwelten vornietzschescher Art sofort aufzulösen. Wenn der Kommunismus an sich bloße Aufklärung ist, so kommt durch Nietzsches Einfluß in die kommunistische Bewegung von heute – trotz all ihrer Programme – ein neuer Zug, der die Klassenscheidung sprengt. Es ist das Kennzeichen echten Geistesstromes und wirklicher Geisteskraft, daß der Geist weht, wo er will, und sich mithin seine Opfer in allen Klassen, Altern, Lagern und Lagen suchen kann. Arbeiterbewegung plus Nietzsche – das ist eine Zerstörung ihres reinen Arbeitercharakters. Es wird ja damit ein Stück nichtproletarischer, ja antiproletarischer Geisteshaltung (Lehre vom Herdentier!) bejaht: die ganze Ideologie des Marxismus beruht aber auf dem Monopol und dem Klassencharakter seiner optimistischen Erkenntnis und des ganzen Geisteslebens, das er predigt und anerkennt.
Wenn nun sogar beim Kommunismus ein ganz bestimmter Tropfen Gift die rein proletarische Struktur – und zwar zunehmend – zersetzt, so ist der Nachweis für Faszismus und Revolutionsgewinnlertum nicht noch eigens zu erbringen, der dahin geht, daß hier Arbeiter mit anderen Gesellschaftsschichten sich geistig zusammenschließen gegen andere Teile der Arbeiterschaft.
II. Die Rückwirkung auf die sozialistische und christliche Arbeiterbewegung.
Wir stehen also vor der entscheidenden Tatsache – die oben den Kern der Krisis ausmacht - daß große Gruppen der Arbeiterschaft an andere Volksgruppen näher heranrücken als an Teile ihrer eigenen Arbeitskollegen. Der Bruderkampf in der Arbeiterbewegung ist die fundamentale Tatsache, an deren Konsequenzen sich die Arbeiter zwar heute noch immer wieder vorbeischleichen möchten, die aber allen Prophezeiungen der Arbeiterbewegung ins Gesicht schlägt. Die Arbeitersolidarität ist im Abnehmen. Die Unternehmersolidarität hingegen steigt.
Die Gegenbewegung gegen diese Katastrophe hat im alten sozialistischen Block sehr bald eingesetzt. Die große Masse der Organisierten erzwang schon 1921 das praktische Zusammengehen der U.S.P. und S.P.D., daß heißt der Parteiteile, die ihre August 1914 - Haltung zum Kriege vor dem November 1918 revidiert hatten und derer, wie Ebert und Scheidemann, die erst am 9.November selbst umschwenkten. 1922 haben dann die Massen über die Köpfe der alten Führer weg die Wiedervereinigung der beiden parteien erzwungen. Aber dieser Schritt kam viel zu spät, um irgendetwas zu bedeuten. Da Breitscheid und Haase am 4. August 1914 genau so für die Kriegskredite gestimmt hatten, wie ihre mehrheitssozialistischen Genossen, so war die ganze Spaltung trotz persönlicher Antipathien und dergleichen 1922 mehr als sinnlos geworden. 1923 folgte der innerdeutschen Einigung die Verschmelzung der Amsterdamer und Wiener Internationale - aber so viel Getön auch um diesen Hamburger Kongreß angestimmt wurde, so hatte auch er keine Resonanz mehr, weil die Entkräftung des altsozialistischen Blocks schon zu weit vorgeschritten ist durch jene drei Entziehungskanäle, die wir verfolgt haben.
Diese Vereinigungen der Zurückgebliebenen sind als Reaktionen, als pflichtschuldige Rückwirkungen auf die großen Gefahren von außen, zu betrachten. Sie sind viel zu spät erfolgt, um große und schöpferische politische Bedeutung zu haben. Sie sind zwangsläufige Gegenbewegungen. Wären sie mehr, so hätte sich in ihnen ein neues begeisterndes Führerelement herausheben können und müssen. Denn der Kampf für ein neues, das heißt ein gewagtes, geistiges Ziel schafft ja immer den neuen Führertyp. So aber, wie die Dinge wirklich gelaufen sind, hat die Vereinigung das Führerniveau eher noch tiefer gesenkt. Denn sie ging eben über die Köpfe der Führer hinweg vor sich, so daß die Führer aus diesem Anlaß ein weiteres Stück Ansehen und Haltung eingebüßt haben.
So macht der Rest der alten sozialistischen Garde unter den betäubenden Schlägen, die ihn treffen, die verzweifelten und gesetzlichen Abwehrbewegungen. Aber die Reflexe werfen auf die Ohnmacht, in der er sich befindet, nur umso helleres Licht. Es sind die Millionen von Anhängern heut in einem Gefängnis, welches von allen Seiten überflutet ist von Wogen, die unbegreiflich rätselhaft über den Sozialismus hereinbrechen. Es ist die ganze Arbeiterbewegung, die davon betroffen wird. Zwar gibt es eine nichtsozialistische Arbeiterbewegung von beachtenswerter Stärke, die sogenannten christlichen Gewerkschaften. Und man könnte denken, daß sie doch unberührt von der Krise des Sozialismus bleiben müßten. Aber dem ist nicht so. Das Wesen der nichtsozialistischen Arbeiterbewegung ist von ihrem großen Bruder, dem Sozialismus abhängig. Sinkt die Wichtigkeit der führenden Arbeiterbewegung, der sozialistischen, im Volksganzen, so sinkt auch die Wichtigkeit der nicht sozialistischen. Die Antithesis ist der Schatten der Thesis; kommt von dem Gesetz nicht los, das ihr die Thesis vorschreibt. Man kann das allenthalben verfolgen, daß bloße Gegenbewegungen es nicht zu der Ursprünglichkeit einer selbständigen Lebensgeschichte bringen. Der Gegner, den sie bekämpfen, bindet ihre Kräfte. Er allein hat sie eben auch hervor- und wachgerufen. Die christlichen Gewerkschaften erleben heut ihr Damaskus; dadurch dass sie in den Jahren der Revolution sich haben verführen lassen, von Köln nach Berlin auszuwandern. Dieser Schritt war zwangsläufig, wenn sie die Konkurrenz mit den freien Gewerkschaften aufnehmen wollten. Aber eben die Konkurrenz! Wären sie in den Sitzen ihrer Bewegung, Köln und Essen, geblieben, so hätten sie im Augenblick der Ruhrbesetzung eine ganz ursprüngliche und epochemachende Rolle spielen können. Aber der Kampf gegen den Sozialismus hat ihre Klinge zur Mensur auf dem Berliner noch in einem Zeitpunkt gebunden, wo dieser bereits bedeutungslos zu werden beginnt! Und es ist also auch hier noch kein Hinauswachsen über die Kreise der Arbeiterbewegung zu spüren. Wie Dißmann den Kommunisten, gibt Stegerwald den Nationalisten nach. Die geistige Freiheit zu rücksichtslos eigener Zielsetzung fehlt auch hier.
Die Witterung für die Zukunft oder doch das Aktuelle ist auch hier nicht bei der Arbeiterbewegung, sondern bei ihren Gegnern. Wie hat es aber zu einer solchen Ermattung kommen können? Teilweise erklärt sich das aus den Gesetzen der international sich auswirkenden proletarischen Weltrevolution in Rußland. Sie macht Epoche. Sie bedeutet einen Einschnitt. Denn sie schafft eine neue Weltlage. Das Wesen solches realen Erfolges ist nämlich, daß er nur Teilerfolg sein kann. Was mit Machtgebärde in die Wirklichkeit bricht, wird immer nur partikular Stück und Glied dieser Wirklichkeit und bleibt deshalb Fragment und Bruchstück seiner selbst. Vorher aber hat es das Ganze zu sein geschienen. Ja, im Wesen der sozialistischen Bewegung liegt sogar noch tiefer begründet, weshalb sie ihr Allseitsstreben zunächst mit einem Mißerfolg bezahlt. Darauf ist noch einzugehen, ehe eine Wiedergeburt der Arbeiterbewegung ins Auge gefasst werden kann.
III. Der Sozialismus als politische Bewegung
Während der Kommunismus die Diktatur des Proletariats will und vollzieht, ist das Geheimnis des Sozialismus die Diktatur der Theorie über das Proletariat. Der jungfräuliche Boden einer Masse enterbter, atomisierter, im Dunkel lebender Individuen empfängt hier gläubig eine wissenschaftlich aufgemachte, in Wahrheit aber dogmatisch-seherisch verkündete Lehre. Nicht was der Proletarier fühlt, weiß, sondern was die Theorie fühlt, gibt den Ausschlag. Der Marxismus verwertet und benützt die Proletarier. In allem, was er deren Instinkten nachgibt, ist er nicht originell: Demokraten und Radikale sind da durchaus seine Vorgänger, von denen er die Forderungen und Programmpunkte übernimmt. Die Instinkte der Massen selber folgen daher viel mehr diesen radikalen Suggestionen, als dem Marxismus, dort wo sie führerlos sich auswirken können. Sie kapitulieren vor den formalen Gebilden, die Angst und Schmeichelei vor der Masse hervorbringen. Was wir seit dem 9. November erlebten, ist unausgesetzter Abfall vom Sozialismus, ein bloßes Verbeugen vor der Straße und Masse: Republik, weltliche Schule, Parlamentarismus, Betriebsdemokratie - das alles ist keine sozialistische, sondern eine Masseninstinktpolitik und deshalb Eintagspolitik.
Das Dogma, die reine Lehre birgt aber in ihrem imponierenden Faltenwurf Dinge, die sonst auseinandergelegt und getrennt gepflegt werden müssen: Ziel und Mittel und eigenes Bewußtsein der Bewegten vermengen sich. Das einzige Kampfmittel des Marxismus ist nämlich die Bewußtseinsschärfung und Bewußtseinszuspitzung des Proletariats. Das Bewußtsein ist Selbstzweck! Wenn ihr Arbeiter wissen werdet, wer ihr seid und wie eure Klassenlage ist, so geschieht alles von selbst. Die Predigt und Mission findet hier ihr eigentliches Feld. Ein enttäuschter Sozialist sagte mir: Nun wenigstens haben wir dem Arbeiter das Bewußtsein seiner Klassenlage eingeimpft! Tatsachen plus Bewußtsein der Tatsachen bringen den Fortschritt hervor. Marx steht, wie sein Verehrer Heß schon von dem Dreiundzwanzigjährigen gesagt hat, in der Reihe der großen Aufklärer Bayle – Holbach – Voltaire als Zerstörer des Dämmerschlafes der Menschheit, als Vollender ihres taghellen Bewußtseins. Wir heute aber wissen ein Lied zu singen von den Krankheiten des Bewußtseins. Das Bewußtsein überlichtet, überhitzt und übertreibt alles, was es ergreift. Bewußtsein ist aggressiv, zweifelsüchtig, streitbar. Bewußtsein entzündet sich an Kampf und Gegensatz. Es wirkt freudezerstörend. Bewußtsein ist Mißtrauen. Wo Vertrauen herrscht ist Bewußtsein Luxus. In mein individuelles Bewußtsein muß ich nur die Probleme hineinziehen, die unentschieden, fragwürdig, zweideutig sind. Die Lebensordnung, die versagt, die muß ich mir „klar“ machen. Züchtung des Klassenbewußtseins, koste es was es wolle, zerstört den Kredit, den jeder Mensch dem Leben möglichst lange zu gewähren wünscht.
Es ist der Sieg der Aufklärung, den der Sozialismus ermöglicht: die Intellektualisierung des letzten Volksgehirns, es sei Kind oder Greis, Knecht oder Magd. Das „Cogito ergo sum“ des Descartes wird hier in grandioser Übertragung auf den letzten Sterblichen ausgebreitet. Damit wird der Typ des Philosophen zur Norm der Menschheit gestempelt. Aber der Mensch, der sich über die Welt den Kopf zerbricht, der Philosoph, ist eine Ausnahme innerhalb der Gesellschaft. Die Philosophie, dieser gewohnheitsmäßige Mißbrauch einer eigens zu diesem Zweck erfundenen Terminologie, ist ein kostspieliges Gegengift in einem gebräuchlicherweise vertrauensvoll miteinander sprechenden Volkskörper. Das Massenbewußtsein des Proletariers ist also Umwertung aller Werte: der Mensch steht auf dem Kopf! Das, was in der französischen Revolution sich vorbereitet hat; dieser Kopfstand, das Abstellen auf die reine Göttin Vernunft, wird im Sozialismus durch eine intellektuelle Uniformierung der Massen ausgemünzt. Wenn in Paris 1794 noch sichtbar eine Göttin diese Idee verkörpert hat, so ist heute gar keine Verklärung dieses Ideals mehr möglich, weil es zum bloßen trostlosen massenhaften Tatbestande herabgesunken ist.
Während so der Intellekt als uniforme Klassenwaffe zugespitzt worden ist, sind die Waffen des normalen, unphilosophischen Gesellschaftslebens in Abgang gekommen. In einem Volkskörper, in dem statt des Philosophen der angestammte Volksgenosse als Normalfall vorausgesetzt wird, ist ja das Arsenal des öffentlichen Lebens durch Recht und Rede, Urteil und Gesetz ausgefüllt. Der naive Volksgenosse denkt nicht, sondern er spricht, er kritisiert nicht, sondern er urteilt, er räsoniert nicht, sondern er findet das Recht, er theoretisiert nicht, sondern er gibt das Gesetz. Wer der abstrakten Wahrheit huldigt, der huldigt damit seinem eigenen Kopf- und Verstandesanteil. Wer früher dem König huldigte, der huldigte damit seinem Stammes-, Gattungs- und Geblütsanteil. Mit diesen geschlossenen Volkskörpern und adligen Stammesordnungen räumt der Sozialismus ein für alle Mal auf. Er impft den Einzelnen mit jenem Tropfen Bewußtsein, durch das er zum Einzelnen wird und kraft dessen er nie wieder i die einfache Ordnung von Recht, Spruch, Königtum, Ständen und Sippen zurückfinden kann. Das Mittel, mit dem der Sozialismus diese alten Ausdrucksformen des Volkstums ermordet, ist ihre Herabsetzung als Ideologie. Damit werden die gewachsenen Wort- und Geistesformen als Masken entlarvt, das Recht, der Glaube, die Wissenschaft werden zu Überbauten des Lebens. Während man immer gemeint hatte, das chaotische Leben lasse sich nur an diesen seinen geschichtlichen Äußerungen: Recht, Staat, Kirche usw. erfassen, greift der Sozialismus hinter alles Gestaltete zurück ins Ungestaltete, dort, wo freie Triebe, blinde Leidenschaften, Kampf ums Dasein, nackte Arbeit – lauter entblößte Vorgänge des Chaos sich vollziehen. Das Gorgonenhaupt dieser zügellosen Wirklichkeit läßt die Formen der Gerechtigkeit, der Religion, der Sitte zu Schemen erblassen. Das Recht z.B., für jeden Bürger der Ausdruck des öffentlichen Friedens, wird vom Arbeiter gewertet als Waffe. „Arbeitsrecht als Mittel im Klassenkampf“ lautete das Thema eines der ersten freigewählten Aufsätze, die ein sozialistischer Gewerkschaftler auf der Frankfurter Akademie der Arbeit ausgearbeitet hat.
Klassenbewußtsein und Auffassung des Lebens als tageswacher, friedloser Kampf gehören zusammen. Das pflanzliche, empfangende, sinnende Leben wird dabei verneint oder verdeckt oder verschüttet. Das animalische, organisierende, wollende, aktivistische Leben wird das allein wichtige.
Der Sozialismus ist nicht nur in dem gewöhnlichen Sinne aller politischen Bewegungen Männerbewegung. Er ist es noch in dem ganz ungeheuerlichen Sinne dazu, dass er auch die Weiber des Volkes diesem Vermännlichungsprozeß unterzieht und unterwirft. ER vermännlicht das ewig Weibliche in jedem Menschen. Indem er den im Mann beschlossenen weiblichen Teil in Vergessenheit bringt, weiß er auch der Frau nur männliche Rechte zu geben, diese aber auch allesamt ohne Ausnahme. Er leugnet die Geschlechtsunterschiede, soweit das irgend möglich ist. Erst an diesem Punkt wird deutlich, wie sehr er die Intellektualisierung bis ans bittere Ende treibt: Jedermann wird intellektuell, das heißt also nicht etwa nur: every man, sondern auch every body, jeder Leib, auch die weibliche Gestalt wird in erster Linie als vereinzelter Träger von Willen, Bewußtsein, Stimme und Vernunft angesprochen.
In alle dem spiegelt sich ein entfesselter Gesellschaftszustand, in dem das Recht des Stärkeren, stumm und taub gegen alle dauerhafte Ordnung triumphiert. Das Klassenbewußtsein ist eine erschütternde Kritik der Entfesselung der Triebe, des „Hexensabbaths“ aller freien Geister“, den Nietzsche im 19.Jahrhundert geistig, Marx aber wirtschaftlich verwirklicht sah. Der Sozialismus ist die letzte Giftblüte des deutschen Idealismus und seines Bewußtseinsgötzen.
Sozialismus ist Gesellschaftskritik und Gesellschaftstheorie. Für alle positive Gestaltung hat er nur die inhaltslosen Begriffe der „Entwicklung“ und der Diktatur, das heißt der militärischen Gewalt und militärischen disziplinierten Ordnung.
Im militärischen Aufmarsch der Entwicklung harren ist daher seine Zauberformel. Wir Menschen sind alle Soldaten der Arbeit. Treten wir in Reih und Glied. Schließen wir uns zu Bataillonen zusammen. Disziplin, Solidarität, Uniform, Organisation – und der Kampf muß gewonnen werden. Wo aber gestaltet werden mußte und muß, da macht man Gesetze unter Verwendung der Erbordnungen: Parlamentarische Prozeduren, allgemeine Bildung, öffentliche Versammlungen, Pressefreiheit, Verstaatlichung: Kurz, lauter schon vorgefundene Mittel verwertet man, alles Mittel, die einen Staat zwischen den gesellschaftlichen Kräften als dritten Faktor voraussetzen.
Der Sozialismus weiß die Macht wohl zu schätzen, wohl zu begehren, aber was alles dazu gehört, um Mächte des Friedens zu gestalten, das weiß er nicht, sowenig wie irgend ein Idealismus. Denn zu jedem Aufbau gehört Frieden, Vertrauen, Hingabe, Selbständigkeit, Ueberlieferung, schöpferisches Handeln. Für all das borgt sich der Sozialismus das Instrumentarium beim alten Staat. In Rußland beim Militär, in Deutschland beim Parlamentarismus. Die rote Armee und der deutsche Reichstag sind für den Sozialismus und vom Sozialismus aus gesehen, beides Instrumente, die er entlehnt, beide haben in seinem eigenen Repertoire keine Stelle. Er lehnt sich mit ihnen an eine gestaltete Welt an, das heißt, er bricht nicht – wie er behauptet – mit allen Ideologien, die vor ihm waren: Armee, Parlament usw., sondern, er nutzt sie aus, ohne ihnen ein wesentliches Element hinzuzufügen. Weil diese Elemente aber auf vorrevolutionärem Boden gewachsen sind, so rächen sich diese Elemente unter seiner Hand. Er vergröbert sie, und sie schlagen ihm zum Unsegen aus. Sie entnerven ihn, führen ihn von seiner eigentlichen Aufgabe ab. Er wird das, was er um keinen Preis werden durfte, wenn er sich selbst treu blieb: unwirtschaftlich! //
1918 konnte man die Arbeiter triumphieren hören, wie viele fürstliche Zivilisten nun wegfielen und was für eine Ersparnis das für den Staat bedeute! Das die Dinge nicht so trivial liegen und das scheinbar kostspielige Zierrate sparsamere Wirtschaft bewirken können, das hat sich gezeigt. Ordnung ist nicht Organisation. Volksordnung wächst langsamer als Gesellschaftsordnung. Generationen werden verbraucht, um gewisse Lebensformen hochzutreiben. Der Sozialismus aber hat keinerlei Zeitmaßstäbe. Er weiß nicht, daß er selbst, als Kriegsglaube eines kämpferischen aktivistischen Geschlechts, wegsterben muß, damit Frieden werden kann auf Erden. Damit der Arbeiterbewegung ihr Recht wird, muß der Sozialismus – genau wie der Liberalismus – fallen. Denn er kennt und anerkennt ja grundsätzlich nicht die verbindliche Kraft des Rechts. Er kennt höchstens neben dem Recht des Stärkeren das Gesetz der großen Zahl. Er kennt - aus seiner demokratischen Abstammung – das Majoritätsprinzip, aber Majoritäten sind zwar innerhalb einer bestehenden Ordnung an bestimmter Stelle ganz geeignete Ventile. Aber zerstörte Ordnungen werden nie aus Majoritäten wiedergeboren. Das Wesen der Zerstörung besteht ja gerade darin, daß die Majorität entordnet und ungeordnet ist. Jeder Majoritätsbeschluß setzt Einberufung, Leitung, Autorität voraus. Wo käme sonst der Rahmen für die Abstimmung her? Der Sozialismus hat sich daher verzweifelt auf den Trümmern des sinkenden alten Staatsschiffes einschiffen müssen. Er gebraucht und verbraucht die noch vorhandenen Reste alter Staatsgestaltung. Er verwirtschaftet die Bürokratie, die Währung, die Selbstverwaltung. Alles wird von ihm ergriffen, was er doch nicht gemacht hat, und was nun unter seinen Händen zerschmilzt, noch schneller, als es sonst schon geschehen wäre.
Deutschland ist ein entferntes Land ohne Ordnung. Soweit Ordnung da ist, ist sie unsozialistische Ordnung. Das fremde Wort: Struktur sagt deutlicher, was der Sozialismus als militärische Ordnung nicht kennt. Struktur ist Ordnung lebendiger Glieder zu einem Bau, in dem jeder Mensch lebensvoll und verhandlungsfähig wie seine Seele ist, geleitet vom Geist ganz umgeschmolzen und ganz eingeschmolzen wird zu einer einzigartigen Bestimmung und Leistung für die Gemeinschaft. Der Sozialismus exerziert gerade umgekehrt, solange bis jeder dieselbe Stimme und Arbeit innerhalb einer Masse aufbringt. So steht er im Augenblick des Formniederbruchs der Welt, die er bekämpft hat, nicht etwa als wirksames Gegengewicht, sondern als bloße Zersetzungserscheinung gegenüber. Er übertreibt die Kommissionen, die Wahlen, die parteipolitischen Schiebungen ins Lächerliche. Dort, wo Militärähnliches geleistet werden muß, im Polizeidienst, da feiert die sozialistische Führerschaft Siege und Erfolge. Selbst die Kommunisten im Ruhrgebiet organisieren zunächst und zuerst eine Polizei. Ob Noske, ob Severing, so ist die Polizei etwas, was dem Volke tief im Blut liegt aus seiner disziplinierten Vorstellungswelt.
IV. Sozialismus als Gesellschaftskritik
Die militärisch disziplinierte Vorstellungswelt des Sozialismus ist nicht etwa auf seinem eigenen Boden gewachsen. Sie knüpft unmittelbar an das Wesen der modernen Wirtschaft an. Die militärische Disziplin ist ein Bestandteil der modernen industriellen Welt. Wir sagten: der Sozialismus ist die Diktatur der Theorie über das Proletariat. Er selber aber ist so sehr aus kapitalistischem Erbe geboren, daß heute die Unternehmer es sind, die durchweg marxistisch denken, fühlen und handeln. Die paar Zielschlagwörter des Marxismus sind vergessen. Sein Wesen ist doch eben Gesellschaftskritik. Und als Gesellschaftskritik feiert der Sozialismus in dem Augenblicke seine höchsten Triumphe, wo er politisch in Ohnmacht versinkt. Beides hängt zusammen. Je richtiger, ätzender, pessimistischer die Beschreibung des Tatbestandes, die Inventur des kapitalistischen Prozesses durch Karl Marx ist, desto belangloser, utopischer, kraftloser sind seine Zukunftsgedanken. Wer politisch arbeitet, hat zu wählen, ob er die Menschen zum Kampfe gegen die alte Ordnung oder zum Leben in einer neuen erziehen will. Der Sozialismus wählt den Kampf. Er bekämpft die Ideologie des politischen Parteiwesens. Aber er konstituiert sich selbst als Partei. Er bekämpft die Polizei. Aber er übt selbst die kleinlichste Spitzelpolizei. Er bekämpft den Militarismus. Aber das Kennzeichen des Militarismus, die Uniformierung, die Gleichmacherei übertreibt er ins Maßlose. Er bekämpft das Bürgertum. Aber alle geistigen Laster des liberalen Bürgertums: Atheismus, Darwinismus, Relativismus, Monismus usw. Ahmet er wie ein gelehriger Schüler Knechtschaft nach. Er trägt andachtsvoll die angelegten geistigen Kleidermoden der Bürger auf. Genau wie die „alten“ Bauerntrachten aufs Land gewanderte alte Bürgerkostüme aus den Städten darstellen, so verführt der Sozialismus die Arbeiter zum Tragen der abgelegten Großväteransichten der Bourgeoisie; nur weil seine Gründer eben in diesen Großväteransichten groß geworden waren. Das ist an sich kein Schade. Aber hier wird es zum Schaden, weil das Proletariat anders wie der Bauer das Widerlager des Instinkts gegen diese Moden nicht besitzt. Aus Instinktlosigkeit bejaht es blind den Kampf der bürgerlichen Klasse gegen den „Feudalismus“. Es bekämpft das „Mittelalter“ und führt eben dadurch nicht etwa den Sieg des Sozialismus, sondern die Triumphe des modernen Hochkapitalismus herauf, Triumphe, die alles in Schatten stellen, was Marx sich je hatte träumen lassen. Hier stehen wir an der Kernfrage. Der Sozialismus lernt aus der Geschichte b e w u ß t. Und eben deshalb prellt er sich selbst um seine Geschichte. Denn alle Geschichte kommt nicht durch Bewußtsein, sondern durch Überwältigung des Bewußtseins zustande.
Dieser eine Punkt ist von zentraler Bedeutung. Er zeigt nämlich, was es heißt, daß sich im Sozialismus die Gesellschaftskritik bewußt als Großmacht etabliert hat. An dem Punkte der historischen Nutzanwendung wird es deutlich, daß Politik und Gesellschaftskritik zwei getrennte Dinge sind. Der Sozialismus siegt als Gesellschaftskritik, weil er alles Leben rücksichtslos unter die Lupe des Bewußtseins nimmt. Er unterliegt als politische Kraft, weil er aus Bewußtsein heraus die Revolution des vierten Standes aus der Revolution des dritten Standes folgen läßt. Weil der dritte Stand in geschichtlicher Stunde ausgerufen hat: „Was ist der dritte Stand? Nichts. Was kann er werden? Alles“, deshalb – so wird gefolgert – muß der vierte Stand dasselbe Rezept anwenden. Weil 1789 das ancien regime mit Stumpf und Stil ausgerottet worden ist, deshalb muß das Proletariat das bürgerliche Regiment mit Stumpf und Stil ausrotten. Die Ideologie Marxens und Lenins, Engel’s und Trotzkis werden in einer geradezu erstaunlichen Weise von diesem Vergleiche beherrscht. Die Stadien des revolutionären Kampfes werden danach. Studiert und erwartet. Die Predigt des urrevolutionären Charakters der Sozialdemokratie war ein unentbehrliches Requisit seit dem Beginn der Bewegung. Aber Revolution wird vergebens 70 Jahre lang gepredigt. Revolution ist immer ein unvorhergesehenes Ereignis, ist Funke in ein Pulverfaß, Kopfsprung und unvernünftig. Die Revolution kann nur eintreten, wenn die Leidenschaften mit den Menschen durchgehen. Die siebzigjährige Revolutionspredigt bedeutet viel eher eine geistige Vorwegnahme und Schutzimpfung gegen die Revolution als ihre Vorbereitung. Tolstoi und Dostojewski haben in Rußland und auf die Russen sicher viel revoltierender und revolutionierender gewirkt. Marxens offen revolutionäre Geschichtskonstruktion stimmt nicht, weil eine offen-revolutionäre Lebenshaltung immer nur aus Not, nie aus Bewußtsein fruchtbar werden kann.
Die lang festgehaltene, revolutionäre Phrase kann zwar im Gehirn die Plätze für alle fruchtbaren Gedanken beschlagnahmen und belegen. Aber sie kann, eben weil sie die fruchtbaren Gedanken niederhält und ausjätet, niemals den Kurzschluß einer elektrischen Stromkatastrophe mehr herbeiführen. Sie entlädt die Gehirnzellen und macht sie Stromschlag vor der Zeit. Und im entscheidenden Augenblick ist nichts mehr zum Explodieren da.
Ohne Bild gesprochen: Nichts kann in den Menschen bewußt hinein, was nicht irgendwie in ihm schon vorbewußt gewesen ist. Des Menschen Natur wird die ersten dreissig Jahre seines Lebens zu Ende geboren. Der Säugling ist erst scheinbar ausgetragen. In Wahrheit geht er zu Grunde, wenn ihn nicht eine feste Ordnung noch Jahrzehnte hindurch langsam aus seinen Eierschalen , Windeln, Schranken, Hemmungen, Vorurteilen, Verwirrungen herauspickest und entwickelt. Der Niederschlag dieser Umwelt: Eltern, Elternhaus, Schule, Heimat, Lehre, Vaterland, Genossen, Liebe usw. in sein Gemüt und in sein Hirn bildet ihn zum Menschen. Je positiver sich diese Bilder in ihm niederschlagen, desto kraftvoller wird der Erwachsene aus diesen Bildern wieder seinerseits wirkliche Ordnungen nach außen hervorbilden. Revolution ist Erschütterung, Infragestellung der alten Bilder, die sich in uns eingegraben haben. Eben deshalb darf Revolution nur vorübergehend den einzelnen Menschen durchzucken und durchrasen. Sie muß – genau wie die Liebesleidenschaft – so intensiv einwirken, um eine Verwandlung der aufgespeichertes Eindrücke und Gedankenbilder hervorzurufen. Denn diese Verwandlung erneuert die Eindrücke, so daß sie lebensnah und „modern“, daß sie ver-„wend“bar werden. Sie darf umgekehrt nicht so lange dauern und so tief gehen, um das aufgespeicherte geistige Erbgut zu zerstören. Wo nichts ist, da hat der Kaiser sein Recht verloren. In zerstörte, umbestellte, nicht mit Saat bedeckte Seelen und Gehirne kann der Funke der Revolution nie mit Aussicht auf Erfolg schlagen. Es ist ja nichts zum Verwandeln da. Ein Monarchist, der sich zur Republik bekehrt, der kann die ganze heiße Liebe, die er seinem Könige entgegengebracht hat, auf die Ordnung des Volkes übertragen. Ein Mensch, der nie eine Ordnung lieben, ehren und heilig halten gelernt hat, der kann auch die revolutionärste Ordnung nur mit demselben Geschimpf belegen wie die alte. Siebzig Jahre Revolution als unvermeidlichen Selbstzweck predigen und alle Reformen verhöhnen: das heißt nicht etwa Revolution machen, sondern die Gesellschaftskritik zum Range eines ständigen Staatsamtes erheben. Dies aber ist in der Tat die positive Leistung des Marxismus. Er entdeckt, daß die Gesellschaft ihren offiziellen advocatus diaboli braucht, die proletarische wohlgemerkt genau wie die bürgerliche. Der Geist der Revolution wird in Permanenz erklärt. Die Masken der gesellschaftlichen Zustände müssen den Menschen unausgesetzt vom Gesicht gerissen werden. Gesellschaftskritik ist ein Mittel, um die Gesellschaft am Leben zu erhalten. Die Verwertung des Proletariats für diese Aufgabe ist eine zeitbedingte. Als Gesellschaftskritik ist der Sozialismus nicht an das Proletariat im bisherigen Sinne gebunden. Denn jede Zeit hat i h r Proletariat. Der Arbeiter ist heute nicht der Proletarier im eminenten Sinne des Wortes. In diesem Augenblicke aber hört er auf, der gegebene Vorkämpfer des Sozialismus zu sein. Die Schärfe und Stärke des Sozialismus liegt in der Entlarvung ideologisch verbrämter Tatbestände. Gesellschaftskritik im Sinne einer rücksichtslosen Nachprüfung der Gestaltungskräfte jeder bestehenden Ordnung, eines „Rüttelns an den Grundlagen des Bestehenden“ stellt sich heute im Zeitalter der Masse als eine Angelegenheit heraus, an der die Masse nur zeitweise und nur bedingt Anteil nimmt. Die moderne Presse zum Beispiel, einschließlich der Arbeiterpresse, zeigt sich mehr und mehr dieser Aufgabe nicht gewachsen. Die Presse sagt heute nicht die Wahrheit im Sinne des Lebensstromes den sie vor 80 Jahren bedeutete. Die Gesellschaftskritik sieht sich also darauf verwiesen, andere Organe auszubilden, um durch sie hindurch diese von Marx klar erkannte notwendige Funktion im Volksleben fruchtbar ausüben zu können. Die Wissenschaften der Hochschulen und die Kirchen haben ja zunehmend vor dem Kriege eine Verherrlichung des Bestehenden aufkommen lassen und sind dadurch kompromittiert. Jedenfalls handelt es sich bei dieser Rolle des Sozialismus als eines Zuchtmeisters um eine Aufgabe, die nicht entbehrt werden kann. Und in dieser Aufgabenstellung scheint mir die bleibende Bedeutung des Sozialismus zu liegen, denn er schafft der radikalen Verneinung, dem Nihilismus, seinen Platz in der Welt, wo er zu einem Sporn für das Leben wird. Was politisch und auf ganze Volksteile angewendet, zu einer Zerstörung der Schaffenskräfte und zu einer Entkräftigung der verwandelnden Energien im Volkskörper geführt hat, ist, cum grano salis angewendet, ein unentbehrliches Teufelselixier.
Es ist hier nicht der Ort um auf diese selbständige Erbfolge des Sozialismus als Gesellschaftskritik näher einzugehen. Es genügt, festzuhalten, daß seine Leistung sich wahrscheinlich nicht in seinem politischen Zusammenbruch erschöpft. Daß aber vor seiner kritischen Bloßstellung wirtschaftlicher Tatbestände die Industrie heut weitgehend geistig kapituliert hat, macht die Lage zu einer so überaus verworrenen. Der Industrielle scheut sich heut nicht, die Menschen genauso in Geldeswert einzukalkulieren, wie alle anderen Dinge. Der Verkauf der Ware Arbeitskraft durch den Arbeitgeber an den Unternehmer ist eine Vorstellung, die Gemeingut unseres proletarischen Volkes geworden zu sein scheint. Die Löhnungsfrage wird in der rohsten Weise auf lauter äußerlich gefaßte Umstände (Leistung plus Lebensalter plus Familienstand) in typisch militärischer Weise von Arbeitgeber und Arbeitnehmer zurückgeführt. Der Arbeiter wird damit noch ausschließlicher in die Uniform des Arbeitssoldaten hineingezwängt. Die haben „bürgerliche Ideologie“, nach der jedermann den Marschallstab im Tornister trägt, ist zerstoben. Es triumphiert die marxistische Beschreibung des kapitalistischen Tatbestandes in demselben Augenblicke, wo der von Marx angedeutete Lösungsvorschlag keinen wirklichen Glauben mehr findet. Man vergegenwärtige sich, was das heißt: Marx selber hatte die Glut seiner wahrhaft mörderischen Kritik doch aus dem Glauben an die Ueberwindbarkeit dieses kritischen Zustandes der Weltarbeit geschöpft. Er hatte die Welt nur deshalb als Hölle geschildert, weil er ein Ende der Hölle ankündigte. In der Art, wie er oder seine Anhänger die Hölle in den Himmel umschlagen sahen, wird der Kapitalismus nicht ausgehen. Von Trotzki angefangen glaubt niemand mehr in jenem letzten und tiefsten Sinne noch an das Wunder, daß er etwa danach handelte. Trotzki hat jüngst gesagt: der Arbeiter habe keine wirtschaftliche Zukunftsaufgabe.; er habe nur noch eine kosmische, den Atheismus zu verkörpern. Damit tut er das, was wir soeben versucht haben: er gibt die politische Rolle des Sozialismus preis, um seine Bedeutung als geistige Kritik zu retten. Er läßt eben damit die Lösungsannahme des Marxismus fallen:
So bejaht heute die Weltarbeiterschaft und die Weltindustrie – am meisten aber Unternehmer und Arbeiter in Deutschland – die kapitalistische Hölle und bekennen sich zu ihr, ohne an irgend ein Entrinnen daraus zu glauben.
Der mit geistiger Verantwortlichkeit beladene Lehrer, Forscher, Kritiker im Volke sieht sich darum plötzlich isoliert. Weder die herrschende Schicht, das Großbürgertum, noch die abhängige: das lohnarbeitende Volk steht in jener Spannung, die allein den Menschen geistig erschließt, - in der Spannung zwischen der Furcht von heute und der Hoffnung auf morgen, der Hoffnung von heute und der Furcht vor morgen. Was nützt es dem Juristen, dem Historiker, dem Theologen, daß sie die alte Staatsordnung gepriesen und verherrlicht haben und damit die herrschenden Klassen in ihrer Freude am Besitz, in ihrer Angst vor dem heraufziehenden Gewitter bestärkt haben? Das heutige Großbürgertum hat all herrschenden Schichten des alten Staates: Adel, Militär, Beamtung in sich hineingeschlungen und mit seiner unverhüllt marxistischen Arbeits- und Wirtschaftsauffassung, jede Verklärung seiner Herrschaft für überflüssig erklärt. Es glaubt, keiner Verherrlichung zu bedürfen. Bayrische Wirtschaftskreise glauben sich heute amerikanischen Geldgebern durch ihre „antimarxistische Einstellung“ zu empfehlen. Dümmer und perfider kann wohl nichts sein. Umgekehrt kapitulieren hier Arbeiter vor der Plutokratie. Der Arbeiter ist zum Machtmenschen durch die proletarische Bewegung erzogen, und so imponiert ihm auch überall und allenthalben die Macht. Er hat heute vor den Kapitänen der Wirtschaft den dumpfen Respekt jedes mammonistisch denkenden Menschen. Er ist von Haus aus ganz auf die sichtbaren Güter des Lebens eingestellt. Der Neid ist ihm als Tugend immer wieder gelehrt worden. Neid, Gier, Habsucht müssen in dem sich ausgebeutet und schwach fühlenden Menschen von selbst wuchern. Sie sind aber noch künstlich gezüchtet worden. Diese Eigenschaften und Gesinnungen enthüllen sich heute nicht etwa als moralisch böse, sondern als etwas viel Nichtigeres: als lebensschädliche, als untaugliche Waffen im Daseinskampf des Proletariats. Denn Neid geht mit Bewunderung des beneideten Menschen Hand in Hand. Gier führt unvermeidlich zur Überschätzung des begehrten Gegenstandes. An Habsucht siecht der, in dem sie erregt wird, weil er sich nun an ein ganz äußeres Bestreben hängt. Bewunderung, Überschätzung und Abhängigkeit: mit diesen Gefühlen steht der Arbeiter dem modernen Kapitalismus überwiegend gegenüber, nicht trotzdem, sondern weil er dem Kapitalisten sein Geld und seine seidenen Kleider neidet. So konnte das Wort von der „stillen Teilhaberschaft des Proletariats im Weltkonzern des Kapitals“ gesprochen werden. (Hans Ehrenberg) –
Der Geist ist in Form der marxistischen Lehre nur deshalb an den Arbeiter herangekommen, weil er ihm in der Form eigenen Machtrausches eingeflößt wurde. Es war eine unbändige Hoffnung auf Befreiung des Eigenwillens, die das Segel des Sozialismus schwellte. Der Wind des Geistes, der nur aus Hoffnungen heraus erregt wird, verweht, wie eben Hoffnungen verwehen. Und der Mensch, der rein aus Hoffnung sich in Bewegung erhalten hat, streicht nun die Segel vor der einzigen Macht, die er noch aufrecht und mächtiger denn je sieht: der Macht der Wirtschaftsherren. Auch er glaubt nicht mehr seinen eigenen Führern; sowenig wie der Industrielle noch Naumann und Treitschke, sowenig braucht der Arbeiter seine Geistesführer mehr. Denn beide finden sich mit der nackten geistlosen Sichtbarkeit des Wirtschaftsskeletts ab. Keine Kleider, keine Falten verhüllen das Gerippe der Notdurft.
Die Arbeiterbewegung als Bewegung des Arbeiters ist tot. Denn sie bewegen sich nicht von Hoffnungen geschwellt zu einem Ziele gläubig begeistert vorwärts. Soll das Gerippe des Lebens trotzdem mit Fleisch und Blut und menschlich warmem Leibe umkleidet werden, soll dieser Leib einer Arbeitsarmee noch einmal als beseeltes und begeistetes Volksganze auferstehen, so muß offenbar noch einmal von vorne angefangen werden. Der Geist der Hoffnung hat nicht ausgereicht und nicht vorgehalten.
Aber ist diese ganze marxistische Parteibildung nicht nur ein Übergangszustand? Hat Marx nicht selbst dem Partei- und Parlamentswesen den Untergang prophezeit? Ist er nicht gerade der Todfeind aller Ideologien des „Hätte gern“ und „Möchte doch“, also der bloßen Hoffnung auf das Unerreichbare? Strebt er mit seiner Diktatur der Theorie über das Proletariat nicht selbst über deren Instinkte hinweg zu einer tieferen Erfassung der Wirklichkeit, in der die Frage der menschlichen Arbeitsordnung nicht mehr Sache einer einzelnen Klasse, sondern des Menschen schlechthin wird?
Wenn die Arbeiterbewegung heute aufhört eine Bewegung der Arbeiter zu sein, weil diese unbeweglich werden, so beginnt sie vielleicht gerade dadurch eine Mehr-als-Arbeiter-, eine menschliche und Volksangelegenheit zu werden! Der Klassencharakter des Proletariats verewigt den Klassenkampf. Der Geist des Lebenden kann niemals sich bei einer solchen toten Teilung seiner Zuhörer zufrieden geben. Jeder Geist wirbt um Gehör auf allen Seiten und bei jedem, zu dem er dringt. Geist ist nicht nur Scheidewasser zwischen absterbendem Alten und neuem Leben. Als solches hat ihn Marx angesehen und verwendet: Das Bewußtsein ist bei ihm die Scheidewand, die unübersteigbare Mauer zwischen den Menschen verschiedener Klassen.
Aber das Bewußtsein ist ja nur die eine Form, in der wir etwas wissen. Die andere Form des Wissens verhält sich gerade umgekehrt. Sie verbindet das Getrennte, sie legt Mauern nieder, sie durchströmt alles nur überhaupt Lebensfähige mit einerlei und einheitlichem Leben. Mit Bewußtsein lockt man keinen Hund vom Ofen. Mit Weisheit regiert man die Welt.
Eine Form der Ablösung der Arbeiterbewegung vom Klassenbewußtsein sehen wir heute in England in der Bildung der Labour Party. Sie ist ausgesprochen nicht eine Partei der Arbeiter, sondern der Arbeit, wie sie denn auch kurzweg Labour (Arbeit) genannt wird. Sie besteht deutlich aus zwei Hälften: einer Fülle geistiger Talente und Volkslehrer einerseits, der Arbeiterschaft in all ihren Ansichtenschattierungen andererseits. Der Sozialismus herkömmlicher Art ist nur ein Element in ihr unter anderen.
Labour ist ein Symptom für die Lage. Es genügt aber nicht, auf dies englische Beispiel zu zeigen oder zu starren. Ich wenigstens bin nicht der Ansicht, daß für Deutschland diese Nachahmung von Labour Aussicht auf Erfolg hat oder auch nur die Wurzel der deutschen Lage greift. England hat eben von 1848 bis 1917 keine politische Arbeiterbewegung gehabt. Das bißchen Sozialismus in England war „for Shaw and for show“. Das heißt, England hat die Zeit des Sozialismus überschlagen. Der englische revolutionäre Chartismus liegt vor dem ersten sozialistischen Geschichtsjahr 1848, und die Entstehung von Labour fällt hinter den Höhepunkt des Sozialismus, hinter die russische Revolution von 1917! Hingegen hat Deutschland von 1871 – 1918 den Sozialismus beherbergt und beheimatet. Wenn heut der Sitz der Arbeiterinternationale vom europäischen Festland nach London verlegt wird, so ist das gerade als Abdankung der deutschen sozialistischen Führung zu würdigen. In England ist ganz anders Raum für etwas Neues als bei uns, wo der Chor der Enttäuschungen sich eben erst auszuwirken beginnt. Gerade das englische Beispiel des vollkommenen Zusammenbruchs des Chartismus kann uns eine Vorstellung davon geben, daß wir ein Menschenalter vor uns haben, in dem wir unter den Folgen der Enttäuschung zu leiden haben werden. Es trifft das zusammen mit dem Gefühl, das glücklicherweise schon weit verbreitet ist, es liege ein langer Zeitraum mühseliger, zäher und unscheinbarer Kleinarbeit auf allen Gebieten vor uns, und es werde eine Generation damit verbraucht werden, die Folgen unseres militärischen, politischen, wirtschaftlichen und geistigen Zusammenbruchs zu verarbeiten und zu verwinden. Der Niederbruch der Sozialistischen Arbeiterbewegung wird damit zu einem Teilvorgang innerhalb des deutschen Gesamtschicksals. Es ist nur eine Ordnung, unter all den anderen Ordnungen unseres gesellschaftlichen Lebens, die am 9.November vom Zusammenbruch ereilt worden sind. Der 9.November ist kein Siegestag des deutschen Proletariats. Wenn er das im ersten Augenblick zu sein schien und viele Gemüter einige Jahre hindurch mit dieser Hoffnung sich über den verlorenen Krieg hinweg zu trösten geglaubt haben, so wird das fünf Jahre später kaum noch jemand zu behaupten wagen. Die Niederlage des Sozialismus hat sich etwas später enthüllt als die des Heeres, der Monarchie und des Parlaments. Aber sie ist inzwischen ebenso sichtbar und fraglos geworden. Die Verfassung Bismarks und die Verfassung „Ich werde mein eigener Kanzler sein“; die Autokratie des Riesen und die Kenokratie des Zwerges haben Fürsten und Parlament und die Heere des Kriegs und der Arbeit politisch entnervt.
Gerade in dieser Verstrickung der Arbeiterbewegung in das Gesamtschicksal des Volkes liegt aber auch der Schlüssel zur Erfassung unserer Aufgaben in Sachen der Arbeit. Es ist nicht der Geist der Hoffnung, der Utopie, der eine Wiedergeburt der Arbeiterbewegung verheißt. Es ist ein anderer Geist, der eintritt, wo die bloßen Ideale, die freien Wünsche und die Hoffnungsträume versagen. Er nährt sich aus der Abwendung des bereits aufgebrochenen Übels, aus der Hingabe an die Pflicht der Stunde. Er schweift nicht ins unbestimmte Zukunftsland allgemeiner Erwartungen und universaler Pläne. Der Geist, kraft dessen die Notzeit eines Volkes ertragen werden kann, schöpft seine Kraft aus dem stillen Eingehen in die Notwendigkeiten des Augenblicks und in die bestimmten Zustände. Es ist nicht das titanenhafte prometheische Selbstbewußtsein des trotzigen Kämpfers, von dem bei einer Katastrophe Hilfe zu erwarten ist, sondern eine bescheidene nachdenkliche Besinnung, der Geist der sinnenden Vernunft ist es, der Schritt für Schritt die Wunden zum Verharschen bringen kann.
V. Das Arbeiterschicksal
Wie stellt sich denn heute konkret gesprochen die Arbeiterfrage dar? Was ist an ihr für das Volksganze bedrohlich und gefährlich und unheilvoll? Hinter den Sozialismus, hinter die Arbeiterbewegung gilt es zu dringen zu den Menschen, die sich in Sozialismus und Arbeiterbewegung hineingestellt haben. Wichtiger als die Theorie und Weltanschauung eines Menschen ist der Mensch selber. Wichtiger als der Sozialismus und die Arbeiterbewegung ist der Arbeiter selber und sein Schicksal. Was macht ihn zum Proletarier und Enterbten? Was also könnte ihn zum erblichen Volksgenossen erheben?
Das erste, was man da zu hören bekommt, ist die geisttötende Arbeit, die der Mensch in den Großbetrieben der Fabriken, der Banken, des Verlags, der Versicherungen usw. heut zu leisten habe. Aber dies Schlagwort von der geisttötenden Arbeit bedarf der Auflockerung. Sonst verwirren sich unsere Begriffe über das, was möglich ist als Arbeitsreform und das, was unabänderlich zum Wesen der Arbeit gehört.
Arbeit ist nie geistvoll. Denn Geist heißt Neuerung, Veränderung, Initiative, Revolutionierung, Erfindung, Schöpfung, Freiheit. Alles das an unserem Wirken, was begeistert geschieht, geht über das bloße Arbeiten hinaus. Wen der Handwerker eine Verzierung an dem Stuhl anbringt, wenn der Kaufmann einen Schnörkel an den Namenszug hängt, so liegen Zierrat und Schnörkel nicht im Bereich seiner Arbeit. Sie sind seine freie Zu-tat. Das, was der Mensch bewußt und aus geistiger Initiative hinzutut, ist dabei immer der Gegenpol zu seiner Arbeit. Es mag als Tätigkeit bezeichnet werden. Kein menschliches Tun besteht nur aus freier Tätigkeit. Wenn ich diesen Aufsatz schreibe, so muß ich die Arbeit der Niederschrift leisten. Tätigkeit ist an Arbeit gebunden. Alles, was Zeit braucht, kostet auch Arbeit. Denn es legt die Pflicht auf, eine bestimmte Zeit an einer bestimmten Stelle zu verbringen. Der freie Geist schweift in Sekunden über die ganze Welt. Aber sowie er etwas ausrichten will in der Welt, muß er an einer bestimmten Stelle vor Anker gehen und hier sich betätigen. Diese Bindung seiner Tätigkeit an eine bestimmte Stelle, zeitlich und räumlich, in der Welt, ist eben Arbeit. Arbeit ist Beugung unter die Gesetze des Raumes und der Zeit. Die menschlichen Tätigkeiten haben allerdings sehr verschiedenen Spielraum in Raum und Zeit. Der Gewerkschaftsbeamte, der seinen Gau bereist, hat vielerorts zu tun. Der Schauplatz seiner Tätigkeit wechselt. Wird er Abgeordneter, so steigt der örtliche Radius seines Arbeitsfeldes und wir haben dann sofort das Gefühl, daß der Freiheitsbereich dieses Mannes eben durch den größeren Spielraum ansteige. Umgekehrt ist schon der Gewerkschaftsbeamte unvergleichlich weniger gebunden als der Fabrikarbeiter, den er vertritt. Dieser ist der Mann, bei dem die Bindung auf die bestimmte Arbeitszeit und an die bestimmte Arbeitsstelle am klarsten und härtesten zu Tage tritt. Und das Problem der Arbeit ist deshalb an eben diesem Manne akut geworden. Denn er hat keinen nennenswerten Spielraum. Weder kann er sich vom Platze rühren noch kann er sich aussuchen, wann er eine Arbeit erledigen will. Er ist der Sklave des Arbeitsplanes jenes Werkes, bei dem er in Arbeit steht. Daher der Arbeiter so ungeheuer oft den Arbeitsplatz wechselt. Es ist das einzige Mittel, die Arbeit zu würzen, mit einem Freiheitsersatz der „Freizügigkeit“. Der Mann ist an sich nicht willens, sich unabänderlich in das Netz der Arbeit als ein einzelner Knoten festlegen zu lassen. Er ist als geistiges Wesen beweglich, elastisch, dem Wechsel und der Freiheit hold. Er überwindet sich aber, um des Erfolges willen, standzuhalten. Dem Manne ist die Treue nie Selbstzweck – wie doch dem Weibe. Sondern, wenn ein Mann treu ist, so deshalb, weil er einen höheren Zweck damit verbindet, der ihm die Treue und Beständigkeit als unentbehrliche Grundlage gedeihlichen Wirkens erkennen gelehrt hat. Der Mann lernt es im Laufe des Lebens, auszuhalten. Er ist nicht von Natur zum Bleiben veranlagt. Er bleibt nur gern, wo er sein eigener Herr geworden ist. Dem, Arbeiter aber wird das Bleiben vom ersten Tage an – genau wie beim Militär – an fremdem Orte und zu einer unpersönlichen Zeit zugemutet. Die moderne Arbeitsweise enteignet den Menschen, die ihren Arbeitsbeginn „lochen müssen“, ihren Tag. In England kann der Angestellte, der seine Arbeit beendet hat, heimgehen und macht auch ohne Zögern von dieser Freiheit Gebrauch. In Deutschland sitzt jeder die offizielle Arbeitszeit geduldig ab. Er hat eben keinen persönlichen Arbeitstag, sondern beugt sich unter das Joch der abstrakt festgesetzten Arbeitszeit. Ebenso ist es mit dem Arbeitsplatz. Selbst der leitende Angestellte wird sich nur schwer entschließen, eine Arbeit zu Hause zu erledigen. Er wird davon ausgehen, daß er sie „lieber“ im Büro erledigt, damit er dort ein gutes Beispiel gibt. Gäbe die Freiheit den Ausschlag, so müßte jede Arbeit, die „gerade so gut“ zu Hause erledigt werden kann, dort getan werden. Aber die deutschen arbeitenden Menschen sind so durchmilitarisiert, daß sie genau umgekehrt handeln. Alles, was nur irgend an dem offiziellen Arbeitsplatz erledigt werden kann, muß auch dort auf-gearbeitet werden. Die Arbeitsbindung wird geradezu mit Betonung gesucht. Für diese „Residenzpflicht“ der Arbeit, daß sie auf Minute und Maschine festliegt, wird ein erheblicher Teil der Lohnquote bezahlt! Die Nationalökonomen, und zwar die bürgerlichen und sozialistischen, beide, gehen an diesem Umstande freilich bislang geflissentlich vorbei. Sie können die relative Höhe der Löhne und Gehälter in der Industrie gegenüber der Heimarbeit nicht erklären, solange sie nicht erkennen, daß dem Arbeiter nicht seine Kraftausgabe allein vergütet wird, sondern die Bindung dieser Kraft an eine bestimmte Stelle im Arbeitsprozeß!
Und allerdings ist es begreiflich, wenn sie, weil sie von der „nackten Lohnarbeit“ theoretisieren, an dieser Tatsache vorübergehen. Denn es ist so, daß sie – früher wenigstens noch – dem Angestellten vergolten wurde, nie aber dem Arbeiter. Das „Zur Verfügung stehen“ für bestimmte Stunden an bestimmter Stelle wird überall in der Welt relativ hoch bezahlt. Der Einzelwert der in dieser Stunde an diesem Ort geleisteten Arbeit tritt zurück hinter dem Wert der Tatsache, daß ein Mensch zu Verfügung steht. Hiermit begibt er sich eines wesentlichen Gutes. Der „freie“ Schriftsteller wird deshalb schlechter bezahlt als der „Sitz“redakteur, obwohl doch jener mit der Feder, dieser mit der Schere arbeitet. Daß dem Arbeiter diese Residenzpflicht nicht eigentlich vergütet wird, noch vergütet werden kann, ist einer der Gründe seiner „Mehrwerttheorie“, seines Gefühls, ausgebeutet zu sein. Denn ihm wird nichts dafür bezahlt, daß er sich in die Zwangsjacke einer Normalzeit und eines Fabrikraums stecken lässt. Er merkt, daß er damit zur Nummer wird, gerade damit und nur eigentlich damit. Er verliert die Verfügung über das aller Ursprünglichste: Über Zeit und Raum. Der „Verkauf“ unserer Arbeitskraft ist also gar nichts so Pathetisches. Aber der Arbeiter muß, um seine Arbeitskraft an den Mann zu bringen, mit seiner Person zu diesem Manne stundenplanmäßig sich hinbegeben. Den Unternehmer interessiert am Arbeiter nur die Kraft: diese steht in seiner Kalkulation mit allen den anderen Kräften und Stoffen zu Buch. Daß er außerdem einen Menschen in die Zeit-Raum-Uniform steckt, ist ihm ein unerwünschter Zufall. Ein Automat ist ihm überall da ebenso lieb, wo dieser die Arbeitskraft ersetzen kann. Der Akkordlohn und der Tarifvertrag „lügen“. Der Stücklohn wird nicht einfach für Stücke, sondern für in der Fabrik gearbeitete Stücke bezahlt. Zwischen die Arbeit an dem Stück und dem Arbeiter schiebt sich sein Eintreten in den Betrieb! Die Fabrik ist ja nur scheinbar ein Haus wie das, was wir sonst Häuser nennen. Sie ist in Wirklichkeit ein „Acker der Kraft“, wie die Scholle ein Acker der Stoffe heißen könnte. Sie ist ein Stück Erddynamik, zusammengeballte Energie, mit anderen Worten: ein Kraftfeld! Auf diesem Kraftfeld trifft sich täglich ein Trupp Tagelöhner, um die Kraft auszunutzen, abzuernten. Die industriellen Lohnarbeiter gleichen insofern den Erntearbeitern, die der Gutsbesitzer vorübergehend beschäftigt.
Aber nun tritt eine weitere Erschwerung gegenüber den Erntearbeitern hinzu. Diese arbeiten im Takt, es gibt zahllose Schnitterliedchen. Auch die Erntearbeit ist eintönig, mühsam. Aber sie kann rhythmisch geschehen. Es kann während der Arbeit der Mensch sich geborgen fühlen in einem Spannungsraum, in dem er mitschwingt. Das Lied hat ja das an sich, daß es den Singenden in einen geistigen Strom einschaltet, ohne daß dieser ihm bewußt zu werden braucht. Ein Gesamtgeist durchströmt jeden, der gedankenlos mitsingt und mitschwingt. Es ist das Geheimnis aller monotonen, wiederkehrenden, bestimmten Arbeit, daß bei ihr das Bewußtsein durch eine solche Rhythmisierung ersetzt werden kann. Es ist nicht so, daß wir Menschen unsere Arbeit mit taghellem Bewußtsein tun müssen. Sehr vieles an ihr geschieht geistlos, bewußtlos, gewohnheitsmäßig. Wir reflektieren nicht darüber. Wir haben die Arbeit im Griff. Wir folgen dabei einem inneren Schwingungsgesetz. Und das Liedchen, das wir dazu trällern oder pfeifen, ist dafür nur der sinnfällige Ausdruck. Denn auch der schweigende Arbeiter ist innerlich beschwingt tätig. Es ist ein Rhythmus, in den eingespannt er sich wiegt. Eben deshalb ist solche Arbeit zwar geistlos, aber nicht geisttötend, bewußtlos, aber durchaus nicht mechanisch! Von den 24 Stunden des Tages verbringen wir Menschen den größten Teil in einer mehr oder weniger naturgewordenen Selbstverständlichkeit -, vom Ankleiden, Rasieren, Frühstücken angefangen. Es ist kein Mangel unserer Tagesarbeit, wenn sie abrollt, ohne daß wir unausgesetzt über sie nachdenken müssen. Es ist nicht menschenunwürdig, „unschöpferische“ Arbeit zu leisten. Wo blieben sonst unsere Hausfrauen mit ihrem Waschen, Nähen, Bügeln usw.? Sondern die Einbettung der Arbeit in einen Rhythmus bewirkt, daß wir Menschen uns unversehrt aus ihr zurückempfangen können! Dieses Unbeschädigtbleiben durch die Arbeit ist das Kennzeichen für ihre „Geglücktheit“. „Mein Schatz ist ein Schmied, - den Hammer er schwingt. – Das rauscht, das klinget, - das dringt in die Weite, - wie Glockengeläute, - durch Gassen und Platz.“ Da ist mehr als Glück; kann doch die Liebe sogar bewundern! Weil Arbeit Bindung und Beugung unter eine nicht frei gewählte Aufgabe bedeutet, eben deshalb ist sie dann menschlich geregelt, wenn sie uns in unser Menschentum unbeschädigt zurückentläßt. Das ist der Fall, wenn sie mit Selbstverständlichkeit, mit Schwung, im Schwingen einer Arbeitsgruppe, getan werden kann.
Und hier nun sehen wir, daß der Fabrikarbeiter des Rhythmus darbt! Er kann nicht immer dem Maschinenrhythmus nachgeben, da dieser bisweilen des menschlichen spottet. Er schwingt in keiner Arbeitsgruppe, denn der Arbeitsraum der modernen Fabrik umfaßt doch bloß arbeitende Einzelatome, er hat keine Gesamtstruktur. Er ist Versammlungsraum für eine Reihe von Individuen, die hier in Reih und Glied stehen, um gemeinsam von einem Unteroffizier kontrolliert werden zu können.1 Der Arbeiter muß sich also gegen seine Arbeit auflehnen. Sie wird von tausend Gegenbewegungen durchkreuzt. Sie kann ihm zwar zur Selbstverständlichkeit werden, aber – zum Unterschied von dem Erntearbeiter – zu einer geisttötenden und mechanischen! Er empfängt sich nicht unbeschädigt aus dieser Arbeit zurück. Er wird sich gegen sie auflehnen und von ihr innerlich zu emanzipieren suchen. Er muß nach Gegengewichten suchen, die ihm den fehlenden Rhythmus ersetzen. Denn sonst müßte er sich tot stellen während der Arbeit. Er müßte sie bloß über sich ergehen lassen. Und nichts ruiniert so den Menschen.
Vielleicht wird der Leser die ganzen Ausführungen dieses letzten Absatzes nicht recht zu dem Vorhergegangenen haben reimen können. In diesem Falle wird der Zusammenhang hier mindestens mit einem Schlage klar: Es ist diese Tatsache der Auflehnung des Arbeiters gegen das Fehlen eines Arbeitsrhythmus, die ihn nach Ersatzmitteln hat greifen lassen. Ueberall da, wo das Natürliche, Selbstverständliche fehlt, tritt unser Bewußtsein helfend ein. Die Bewußtseinsvorgänge im Arbeiter stellen deutlich ein Gegengewicht gegen das Fehlen des Arbeitsrhythmus‘ dar! Seine Gedanken umspannen die Welt. Sie sind monistisch. Dieser monistische Grundzug ist typisch für die Arbeitersehnsucht. Sie richtet sich pantheistisch auf die Welt, naturwissenschaftlich gefärbt mit Vorliebe auf den Sternenhimmel; ebenso oft aber philanthropisch auf die Menschheit, auf die Arbeiterschaft der Welt. Immer hat sie etwas Allgemeines; Leeres und Unbestimmtes. Die Allgemeinheit, die Welt, die Menschheit sollen sich liebend im Reigen aufgelöst umschlingen. Sieht man nicht, wie diese ins Gigantische gesteigerten Phantasien das genaue Korrelat zu der Arbeitssituation darstellen? Ein Bauer, der mit seinen Pferden pflügt, müßte verrückt werden, wollte er dabei an die Menschheit denken. Die Mängel der Werkstatt, die Auflehnung gegen den mechanischen Arbeitsgang lösen im Arbeiter einen kosmischen Rhythmisierungsdrang aus. Die „Weltanschauung“ muß also beim Arbeiter und überall, wo sie unoriginal auftritt, als seelisches Ersatzmittel verstanden werden. Sie ist kein müßiges Spiel der Gedanken wie beim Intellektuellen. Sie ist unabweisbares Bedürfnis, Narkotikum. Aber sie hat auf der anderen Seite nichts mit Geist zu tun. Sie sucht vielmehr ein Gedankengebilde träumend zu verkosten, aus geistigen Vorstellungen einen Rhythmus, also etwas psychisch-Naturhaftes zu erzeugen. Der Arbeiter muß den Intellekt mißbrauchen, um damit seelische Bewegungen zu ersetzen, die ihm seine Arbeit versagt.
Sozialismus, Kommunismus, Pazifismus, Monismus usw. bekommen ein ganz anderes Gesicht, wenn man ihrem arbeitspsychologischen Wert nachfragt. Dann müßten sie geradezu erfunden werden, wenn es sie nicht gäbe! Tatsächlich hat es ja auch diese Gedankengänge zu allen Zeiten gegeben und nur in der modernen Arbeitswelt sind gerade sie von betonter Wichtigkeit geworden, weil sie die Arbeitsschädigung zu kompensieren imstande scheinen. Erst heute ist der politische Traum, die Utopie, Ereignis und Volkstragödie geworden, obwohl der Traum an sich ein ewiges Attribut des Menschenwesens ist.
Nur diese gigantische Ueberhebung des Traumzustandes ist unerträglich. Denn die Menschen träumen nie ohne Folgen. Diese Art seinen Gedanken nachzuhängen, geht auf Kosten des Wirklichkeitssinns. Die Tatsache, daß Millionen heut durch die Arbeit auf einen unkontrollierten Bewußtseinshang geführt werden, richtet diese Arbeit. „Bewußtsein“als bloße seelische Ersatzstellung darf nicht festgehalten und verewigt werden, sonst ruiniert es den Verstand der Befallenen. Es verbildet ihre geistigen Organe. Und sie fallen aus der sprachlichen, geistigen, selbstverständlichen Verbundenheit mit dem Volksgenossen heraus. So ist es dem Proletariat gegangen. Nicht nur der Agitator hat die -ismen in die Köpfe gehämmert. Das Zeit – und Raumgefängnis der Fabrik hat diese -ismen ins Fleisch gegraben.
Ein Volk wird unregierbar, dessen Söhne dauernd zu einer Bewußtseinsauflehnung gezwungen sind und dadurch ihr Bewußtsein statt zum Denken zum Träumen, Nachhängen, „Schauen“ verwenden müssen. Richtiger noch: Ein solches Volk zersetzt sich. Jeder pfropft sich seinen Kopf eben mit irgend welchen Wahnvorstellungen voll du hat allen Grund, an ihnen eifervoll festzuhalten. Aber was so dem Einzelnen ein unentbehrlicher Genuß wird, eben das zerstört ein Volk. Zum Beispiel die Sucht zur Weltverbesserung und Menschheitsbeglückung, alle Heilandsallüren und andere Rauschvorstellungen sind die eigentlichen geistigen Laster für ein Volk. In diesem Urteil begegnen sich Nietzsche und Jesus. Beide haben erkannt und gelehrt, daß alle Zuchtlosigkeit in dieser geistigen Aufgeblasenheit ihren Sitz hat. Das Harren, Hoffen, Wähnen und Politisieren für eine unbestimmte „Masse“ oder die unbegrenzte „Allgemeinheit“ vernebelt den Blick für das Heilsame, Wirksame und Gestaltungskräftige, das durch uns Menschen vollzogen werden kann. Dieser Umnebelung ist heut aber die Welt mehr denn je verfallen. Und so sehen wir sie heillos, wirkungslos und gestaltungsunfähig. Sie spiegelt damit nur den Geisteszustand der einzelnen. Umgekehrt wird soviel klar geworden sein: Man kann der proletarisierten Menschheit nicht diese Gedankenträume amputieren, solange sie sich nicht mit ihrer Hilfe im Gefängnis der Arbeit gegen die „Sinnlosigkeit“ und „Mechanisierung“, wir können jetzt genauer sagen: gegen die Schwunglosigkeit der Arbeit wehrt. Und daß sie sich wehrt, ist so lange erwünscht, als die Arbeit den Arbeiter stumpf zu machen droht und wirklich stumpf macht. Die sogenannte „soziale Frage“ tritt durch diese Erfahrung in ein völlig verändertes Stadium. Und zwar für alle von ihr Betroffenen: für Unternehmer, Proletarier, Politiker, Denker und alle anderen Berufe gleichermaßen. Denn es steht nun fest, daß die moderne Wirtschaftsweise fortgesetzt als Abfallprodukte wahre Massen geistiger Unwirklichkeiten, gedanklicher Unverantwortlichkeiten, intellektueller Narkotika erzeugt. Diese Abfallprodukte werden nicht innerhalb des einzelnen Betriebs verbraucht, sondern dringen auf zahllosen Bahnen der Politik, Publizistik, Kunst, Organisation, Vereine, Schulen ins Volksganze und vergiften dessen Aufbau und Ordnung, weil sie alles Konkrete, Nahe, Persönliche mit dem Schleim ihrer abstrakten, unpersönlichen, grenzen- und schrankenlosen Massenvorstellungen überziehen und zersetzen.
Die Methoden, die bisher der sozialen Frage gegenüber angewandt worden sind, müssen also vollständig versagen, weil sie gar nicht diesem Vergiftungsprozeß zu Leibe gehen wollen noch können. Es handelt sich – nur in aller Kürze kann davon die Rede sein – vor allem um zwei Verhaltensweisen, durch die bisher der Kampf und die Heilung gebracht werden sollten: um das was Sozialpolitik und um das, was Arbeiterorganisation heißt. Seit 1879/81 gibt es in Deutschland viel und vielerlei Sozialpolitik. Das bedeutet, es legt der Staat den Unternehmern eine Reihe von Pflichten auf, durch die gewisse Folgen des modernen Arbeitskraftverkaufes hintangehalten werden sollen: als da sind Krankheit, Invalidität, hilfloses Alter, Kindersterblichkeit, Verwahrlosung der Jugend und dergleichen mehr. Die Sozialpolitik ist eine Pflasterkur, zu der ein mächtiger Staat die privaten Wirtschaften zwingt. Der Arbeiter ist Objekt dieser Kur. Er ist der hinter seiner Arbeitskraft verborgene Mensch, den der Unternehmer, wenn er könnte, am liebsten ignorieren würde, weil er es am liebsten nur mit antlitzlosen, unbenannten Kräften zu tun hätte. Der Staat holt gleichsam mit Gewalt den Arbeiter aus seinem Versteck hervor und erzwingt eine gewisse Fürsorge für ihn, damit ihn der Arbeitsprozeß nicht verschlingt.
Die andere Form sozialer Gegenwirkung ist die Organisation in allen ihren Formen. Hier nämlich kann sich umgekehrt der Arbeiter als Subjekt ausleben. Er kann seine Auflehnung im Streik betätigen, seine uniformen Bilder des Lebens im Tarifvertrag gestalten. Daher kommt ja der seltsame Eindruck, als formten die Gewerkschaften ihre Mitglieder geradezu erst zu gefügigen Tagelöhnern der modernen Wirtschaftsmammuts. Es sind die Gewerkschaften, die den Arbeiter als „Rädchen im Produktionsprozeß“ bezeichnen, es sind die Gewerkschaften, die ihre Leute mit Bilanzlehre und Buchhaltung vollstopfen, damit sie diese Belanglosigkeiten nur ja recht wichtig nehmen, es sind die Gewerkschaften, die Psychotechnik und Bürokratisierung in den Betrieben fördern. Nirgends eine Auflehnung gegen die Allmacht von Kapital und Technik, nirgends auch nur der Versuch, den Menschen wieder in die Herrschaft über diese Dinge einzusetzen, überall Verwechslung von Mensch und Proletarier, Volk und Masse. Die Vermenschlichung des Proletariers, die Erlösung der Masse zum Volk, die Wiedergutmachung des dem Proletarier an seiner Menschenwürde zugefügten Unrechts – von alle dem kann eben in einer reinen Organisation der Arbeitskräfte nicht die Rede sein. Eine solche Organisation sinkt nach dem Gesetz der Schwerkraft auf das Niveau des einfachsten von ihr ergriffenen „Subjektes“, auf das Niveau also der Lohnbewegung.
Sozialpolitik als rein objektive Arbeiterbehandlung, Organisation als rein subjektive Proletarierbewegung; dort ein Herumkurieren an den Symptomen, hier Münchhausen, er sich an seinem eigenen Zopfe aus dem Sumpf ziehen will. Die Einheit des Menschen, der seine subjektiven Erfahrungen in objektiven Formen bewähren, die objektiven Formen in subjektiven Erfahrungen ausfüllen will, ist hier in zwei heillos geschiedene Hälften zersprengt.
VI Der Geist des Unternehmers
Die Antwort, die aus die soziale Frage gegeben werden muß, kann heute weder vom Staate noch vom Arbeiter ausgehen. Es kann sich weder um Sozialpolitik noch um Arbeiterbewegung handeln. Es handelt sich darum, daß der Unternehmer selbst und in ihm das Volk als solches und ganzes durch die soziale Frage bedroht werde, und daß sie daher mit den Mitteln die Antwort nur gehen können, die ihnen zur Verfügung stehen. Das aber sind nicht Gesetze noch Organisationen, sondern Betriebsführung und Arbeitsgestaltung im weitesten Sinne dieser Worte, im engsten Sinne aber der Verpflichtung jedes Einzelnen, dazu dort und nur dort, wo er gerade steht innerhalb des Volkes, Hand anzulegen. Die neue soziale Schlacht entbrennt nicht mehr zwischen Unternehmer und Staat - wie bei der Sozialpolitik -, nicht mehr zwischen Unternehmer und Arbeiterorganisation - wie beim Tarifvertrag; sie entbrennt in der Brust des einzelnen Unternehmers, der zu wählen hat zwischen Scheinblüte seines Unternehmens auf der einen, Volksordnung auf der andern Seite. Volksunordnung ist etwas so katastrophales, daß darüber vielleicht doch mancher Unternehmer an seiner Zielsetzung irre wird. Denn diese Volksunordnung zwingt ihn zu einem immer komplizierteren moralischen Abwehrkampfe: Er muß Zeitungen besitzen, Literaten besolden, Steuern hinterziehen, Kapitalsflucht ins Ausland begehen - kurz, sein Leben wird von einem solchen Netz von Schwierigkeiten umringt, daß seine „Rentabilität” und sein „Wirkungsgrad” zweifelhaft werden. Von innen her wird sein Besitz vollends durch die leitenden Angestellten gefährdet, durch die Syndici seiner Verbände, die Direktoren seiner Firmen, die ihn gar zu gern zunehmend aus dem persönlichen Einsatz seiner vollen Verantwortung heraus auf das tote Gleis bloßer Repräsentation drängen würden. Der Unternehmer weiß aber wohl, daß es ihm dann unfehlbar so geht, wie den Fürsten, die sich durch ihre Minister zu blutlosen Marionetten haben aushöhlen lassen, wie der Generalität, die im Weltkrieg unwürdige Attrappe der jungen Generalstäbler wurde.
Wenn der Kampf heut in der Brust des einzelnen Unternehmers entbrennt, weil er sich entscheiden muß, ob er eine private wirtschaftliche Vermögensmacht oder aber eine öffentlich-politische Regierungsmacht darstellt, so muß dieses kurze Panorama des „Industrievolkes” zuletzt auch den Unternehmer festhalten. Aber es ist etwas anderes am Unternehmer, etwas anderes am Arbeiter, was in dies Gesamtbild einzugehen hat. Am Arbeiter ist sein Schicksal, seine Entvolklichung zur Masse, das, wovon zu erzählen war. Denn durch sein Schicksal bleibt er zurück hinter dem „Existenzminimum”, nicht sosehr hinter dem Existenzminimum an Lohn oder Nahrung, als an Volkheit und Manneswürde. Daß der Soziallohn heute als Ideal von Unternehmerseite für die Arbeiterschaft proklamiert wird, zeigt übrigens, daß der Unternehmer dies Schicksal für unvermeidlich hält. Denn der Soziallohn, der jedem Verheirateten oder Kinderreichen Zulagen gewährt, bedeutet ja eben den Verzicht auf die Manneswürde. Der Mann heiratet, wenn er eine Familie zu ernähren hat. Des Proletariers Familie muß ernährt werden, wenn er geheiratet hat. Zwischen Eheschließung und. Arbeitsschicksal des Arbeiters besteht also eine völlige Perversion des Zusammenhangs. Zum Mann wird der Jüngling, weil er seiner Liebe ein Hans gründen will und soweit ihm diese Gründung gelingt. Mit Kinderzulagen besiegelt man den herrschenden Zustand: daß die „Arbeitskraft” einerseits. die „Fortpflanzung” andererseits auf zwei verschiedenen Konten nebeneinander verrechnet werden! Vom Volk ans gesehen sind Liebe und Können, Ehe und Beruf im Werden miteinander verknüpft. Der Unternehmer aber bucht einerseits die Proletarierbrut auf das Konto Soziallohn, andererseits die erreichte Akkordleistung auf Konto Leistungslohn, so daß zwischen beidem keinerlei einheitlicher Lebensstrom mehr pulst. Deutlicher kann nicht ausgesprochen werden, daß der Arbeiter jede Hoffnung aufgeben muß, seine „Kräfte” in einen eigenen Lebensraum seiner Arbeit und seiner Leistung eingehen zu lassen, daß seine „Kraft” nur im Sinne der Physik Kanonenfutter für die Maschine ist. Im Maschinenraum , in der Fabrik und in ihren Büros herrscht daher unumschränkt der Geist des Unternehmers und seines Stabes, herrscht, oder kann doch herrschen, soweit Geist vorhanden ist. Der Sinn des Unternehmens kann nicht heim Arbeiter gefunden werden. Denn dieser ist ja ausgesprochenermaßen - der Soziallohn spricht es uns besonders deutlich sogar für die Geschlechterfolge aus - nur Mittel zum Zweck. Der Sinn der Unternehmung - ist er nun beim Unternehmer zu finden?
Klar ist das Eine: Nicht die Unterschreitung des Volksmindestmaßes droht dem Unternehmer. Dem Arbeiter droht Verzwergung. Man kann nicht mit ihm rechten, wenn er stiehlt, meint Aristoteles, denn er ist zu klein, zu verkümmert, unter dem Wuchs, für den die Maßstäbe der Moral passen. Wenn man aber ins Ruhrgebiet kommt, so wird man an die alte Märchenwelt erinnert und begreift, daß sie nicht von ungefähr ersonnen worden ist: diese Welt der Riesen und Zwerge. Denn neben den Zwergen der Masse, die mit Schaufel und Hacke die Eingeweide der Berge aufwühlt nach Eisen und schwarzen Diamanten, steht der gesetzlose Riese, der nur sich selbst Gesetz ist: der Unternehmer. Auch er entfällt aus dem Rahmen dessen, was Volk heißen kann, aber nicht als Zwerg, der die Mindestmaße des menschlichen - volksmäßigen nicht erreichte, sondern als Riese und Titan, der auf andere Weise das Geheimnis des Volkstums zerstört.
Das Geheimnis des Volkstums ist nämlich ein Doppeltes. Es ist wie mit den Blüten eines Baumes. Auch hier herrscht ein doppeltes Geheimnis: Der gesunde Baum hat einesteils gesunde Blüten, jede darf sich voll ausbilden, keine isl verzwergt und verkümmert. Aber er läßt auch keine hypertroph sich übermäßig ausbilden, denn Riesenexemplare sind unfruchtbar. Die Sterilität der Größe schafft ihre Volksfeindschaft. Das Volk ist der Inbegriff erbfähiger und erbwilliger Lebenskraft. Titan und Riese sind unbändig spezialisierte, einmalige Lebenskräfte. Wenn die Gesetzlosigkeit des Riesen, des Unternehmers sprichwörtlich sind, so verrät sich darin, daß Gesetze nur für das „in der Mittelhöhe des Lebens Wiederkehrend Schwebende” (Goethe) Geltung haben. Der Geist der Gesetze ist der Geist des Ewigen im Menschen, ist sein geistiger Dienst an der Art, sein Eingehen ins Volk. Dieser Geist ist also ausgezeichnet dadurch, daß er nur Gedanken der Art und Gattung für würdig und wichtig des Gedachtwerdens hält. Dieser Geist ist dem Großen und Heroischen nicht feindlich, sobald dieses sich als Blüte am Baum weiß und will. Aber dieser Geist der Liebe, Kraft und Zucht, den die Kirche den heiligen Geist nennt, dieser Geist, der das Erbfähige und Gesetzmäßige deutet, herstellt, aufrichtet, der Geist der Gesetzgeber des alten und neuen Bundes, dieser Geist steht schroff dem Geist der Riesen gegenüber. Hier schreibt der Herren eigener Geist sich selbst das Gesetz. Hier wird Ich groß geschrieben, denn es wird als geistige Größe mißverstanden. Der Geist dieser Welt der Arbeit von heute ist kein Geist des Volkstums. Er ist zerspalten in jedes einzelnen Unternehmers Einzelgeist. Der Unternehmer will sich oder er will - höchstens - die tote Sache seines Werks. „Er trachtet nach seinem Werke.” Aber gerade damit verrät er seinen Titanencharakter, seine Volksfeindlichkeit. Denn ein Volk will keine Pyramiden, Eroberungen, keine stolzen Heroendenkmäler in erster Linie; es will Dauer, Art, Gesetz. Ein Volk will nicht Erfolge, sondern Erbfolge. Der Geist des Volkes kann immer nur der Geist der Liebe, Kraft und Zucht sein, kraft dessen alles genialische Werksgelüste sich letzten Endes dem Leben des Volkes unterordnet. Der heute hochgepriesene Geist des Unternehmers ist dem entgegengesetzt. Er mag trotzdem von einer geschickten politischen Führung für das Volksganze ausgenutzt werden können. Aber er ist in seiner Naivität blind, ichsüchtig, er ist falscher, pluralistischer Einzelgeist der das eigene Werk anbetet. Diese Geistesentartung bezeichnet das typische Krankheitsbild des Unternehmens oder genauer das Krankheitsbild des Unternehmertyps. Klassisch dafür ist der Ausspruch von Hugo Stinnes vor dem Untersuchungsausschuß: Die Devisenkäufe meiner Unternehmnngen gehen niemanden etwas an. Sie sind Privatsache.
Um jedes Vorurteil zu bannen, soll dazu ein Unternehmer selber zu Worte kommen. Wir werden noch sehen, welche Kraft ihn zu klarer Erkenntnis des eigentlichen geistigen Ordnungsproblems für den Unternehmer befähigt.
Er schreibt mir: “Ist ein Fabrikbesitzer auch kein König, und ein paar hundert Arbeiter kein Volk, so muß dennoch auch einer solchen kleinen sozialen Gemeinschaft ein Sinn zugrunde liegen. Das Verhältnis des „Kapitalisten”, der die Fabrik als Mittel für seine privaten Zwecke betrachtet (Mittel zur Bildung eines Privaivermögens), zu seiner Arbeitskraft ist - ganz abgesehen davon, ob unserer Geistesrichtung gemäß oder nicht - auf jeden Fall aber sinnvoll: auch die Einstellung eines sozialistischen Unternehmers auf „Dienstleistnng” hat einen „Wert”. Hier aber in unserem Werk liegt ein auf die Dauer unhaltbares Gemengsel dieser beiden Anschauungen vor, oder noch besser gesagt, man hat überhaupt keine Anschanung, keine bewußte Einstellung, man hat - mit Ausnahme des glänzend geleiteten Betriebes und Geschäfts keine „grosse Richtung”. Man ist der Sklave seines Fabrikschornsteins, man dient in bewundernswerter zäher Arbeit der Fabrik, d. h. dem Umbau der Gebäude, der Erneuerung der Maschinen, der Menge der Produktion, dem Geschäft. Man dient einem Ding und keiner Sache. Die Fabrik ist Selbstzweck. Das ganze Unternehmen hat letzten Endes keinen „Sinn”. Denn wofür wird gearbeitet? Für einen selber nicht. Für die Arbeiterschaft auch nicht. Man arbeitet für die Materie der Fabrik, für welche man die Arbeit der Arbeiter benutzt. Man verlangt vom Arbeiter das Gleiche. Für diesen aber ist die Person des Unternehmers und das Werk ein und dasselbe. Er glaubt, für den Unternehmer zu arbeiten. Er will aber für sich arbeiten. Würde man ihm das Werk hinstellen als Mittel zur Schaffung besserer Daseinsbedingungen für den Arbeiter, würde man weiter dem Werk eine Idee zugrunde legen, einen Sinn geben und auch in materieller Hinsicht danach handeln, was sich ohne weiteres aus einer solchen Einstellung ergehen muß, dann würde der Arbeiter zu der Ueberzeugung kommen daß das Werk und damit auch der Unternehmer, der dann mit einem Male nicht mehr Herr, sondern Führer ist, für ihn da sind. Man kann vom Arbeiter nicht verlangen, daß er für ein Ding da ist, das er von sich aus mit der Person des Besitzers verquicken muß. Das verlangt man hier von der Arbeiterschaft und nimmt es ihr übel, daß dieser solche Empfindung abgeht wo man doch selbst nur Diener der Sache, bezw. des „Dinges” ist.
„Allerdings macht sich eine Diskrepanz bemerkbar zwischen dem, was man redet, schimpft und wählt und dem was man wirklich ist und tut. Das gilt für den Arbeiter wie für den Unternehmer. Will der Unternehmer nicht nur Unternehmer, sondern auch Führer, Leiter, Herrscher sein - was er sein sollte - so muß er sich aus einer erhöhten, der Arbeiterschaft überlegenen Ebene bewegen, von der er nur zu Zeiten bewusst heruntersteigen darf. Dieser höhere Standpunkt ist einzig und allein der des Psychologen. Der Unternehmer ist aber bisher alles andere als Psychologe gewesen. Man sucht die Gegensätzlichkeiten, anstatt sich zu bemühen, sie zu überbrücken. Und wo keine sind, werden solche konstruiert. Wie eine Krankheit, die hässliche Gerüche ausscheidet und die gesunde Atmosphäre frischer und freier Arbeit verpestet, hat die Menschen der Industrie die einer Seuche ähnliche Sucht befallen, ohne Sinn und Verstand, nur aus purem Unverständnis den menschlichsten Empfindungen gegenüber, das brutal zu vergewaltigen, was mit ein wenig Weisheit und psychologisch, ohne Schmerzen, Zorn und Missmut zu erzeugen, viel besser erreicht werden könnte.
„Die Entwicklung der Industrie ging zu rasch und das mit unnatürlicher, organisches Wachstum verhindernder Schnelligkeit emporschießende Machtvermögen der industriellen Unternehmer (insonderheit der Generaldirektoren) durchbrach ihr ohnehin nicht allzu hohes Niveau. Macht und Stellung stehen in keinem Einklang zur Persönlichkeit. Knoten besitzen Macht von Königen; verrationalisierte Verstandeskästen stehen an Stellen, wo Weise walten sollten. Unsere Industrieführer sind größtenteils einfach menschlich noch nicht reif für ihre Stellung als Führer und Herrscher über Hunderte und Tausende von Menschen. (Für die Arbeiterführer trifft ähnliches, wenn auch in anderer Form zu.) Man besitzt nicht die Erkenntnis, daß es sich in den sozialen Gebilden, die die Industrie geschaffen hat, um die Entstehung und Herauskristallisierung einer gänzlich neuen Art sozialer Gemeinschaft handelt, wie es solche bisher noch nicht gegeben hat. Nur auf Grund dieser Erkenntnis ist es möglich, an die Dinge heranzutreten. Also in der sozialen Gemeinschaft der Industrie sind nur zwei „Regierungsformen” möglich und haltbar: „Sklaventum” oder „Arbeitsgemeinschaft”, Herren und Knechte oder Führer und Geführte.
Manchmal schon kam mir der Gedanke, daß der Kommunismus unseren Leuten das fehlende Kino ersetzt. Sicher ist das eine seiner psychologischen Funktionen. Und doch glaube ich, daß die Dinge tiefer liegen und man allein mit mehr Lohn und Kintopp nicht auskommen wird. Erziehungsprobleme! Auf die Erziehung, sowohl die menschliche wie die zum Arbeiter, wird von Seiten der Unternehmer, gerade der kleineren Unternehmer (Arbeiterzahl unter tausend) viel zu geringer Wert gelegt. Der Bedeutungsakzent müßte von der Politik und Partei auf das Ueberparteiliche und Ethische gelegt werden. Und die Arbeitgeber sollten damit beginnen. Was einer politisch ist, wie er „gesonnen” ist, sollte unwesentlich sein demgegenüber, was er als Mensch ist und leistet. Die besten Waldhüter sind immer ehemalige Wilderer gewesen, das weiß jeder Forstmeister. Man ist heute zu politisch. Politik ist heute ein Dreck. Ueber den Umweg der Politik wird nichts erzielt und den Arheiter - auch mit Erfolg - zu einer anderen Partei zu bereden, ist wertlos. Hier ist man von einer geradezu krankhaften Sucht nach politischer Betätigung. Wie bei den Arbeitern, bei den Herren die stereotype Diskrepanz zwischen Reden und Sein. Man „ist” und redet und wählt Deutschnational, schimpft auf die Kommunisten und den Sozialismus, ohne zu erkennen, daß sie, die „Herren”, sozialistischer handeln und unbewußt sozialistischer - dem Werk, nicht der Arbeiterschaft gegenüber eingestellt sind als der schlimmste „Rote” ihrer Fabrik. Man dient allerdings dem „Werke”, nicht der Arbeiterschaft.
So sehen die Dinge hinter den Kulissen des Bewusstseins aus. Es fehlt dem ganzen Unternehmen der Sinn. Es wird die Arbeit, die schwere, unsichtbare, von uns Jungen sein, daß wir dem Werke unserer Väter, die Immenses geleistet haben, den Sinn verleihen. Denn heute ist es sinn-los. Eine Fabrik wird von keinem ernsthaften Arbeitgeber heute mehr als Mittel zur Akkumuliernng eines ausserhalb der Fabrik investierten Privatkapitals angesehen. Die ehemaligen grossen Privatvermögen sind allesamt verloren und weggesteuert. nicht nur in Deutschland, sondern bekanntermaßen in ganz Europa. Amerika und Russland liegen außerhalb der spezifisch-europäischen Wirtschaft. Heute fließt aller Gewinn dem Werke zu, das allein nur noch Kapitalien (Reserven) besitzen kann. Man selber hat für seine Privatperson nicht mehr die großen Vermögen und wird auch keine mehr schaffen können wegen der gänzlich veränderten Bedingungen der Wirtschaft. Man hat das erkannt und handelt darnach. Man folgt mit dem, jedem guten Unternehmer wie Politiker und Staatsmann eigenen Instinkt den Bahnen, die die geschichtliche Entwicklung vorschreibt. Hier in K. verdient nur noch das Werk. Daß man sein Werk ,,hat”, ist eigentlich ein illusorischer Begriff. Denn de facto ,,hat” das Werk den Unternehmer. Die Entwicklung der Wirtschaft, insonderheit der industriellen, ist so schnell weitergeschritten, drüberhinweg über die kapitalistisch - kaufmännische Weltanschauung der Industriellen, daß deren Blick dieser nicht mehr folgen konnte.. Man ist noch zu sehr ,,Kaufmann”; noch immer wird das Hauptbuch - vorne auf der ersten Seite steht: ,,Mit Gott” - als das hauptsächlichste Buch angesehen, noch immer bewegt der Industrielle sich in der Welt des Kaufmanns, denn er hat ja seine Welt noch nicht erkannt und noch nicht geschaffen. Diese seine Welt liegt in der Fabrik. Immer noch wird der Bedeutungsakzent auf das Kaufmännische gelegt. Dabei ist heute, und wird es immer mehr werden, das rein Kaufmännische zwar absolut notwendig, aber doch sekundärer Natur. Das eigentliche Hauptbuch ist heute das ,,Fabrikationsbuch”. Einkauf und Verkauf müssen selbstverständlich so erfolgen, daß dem Unternehmen aus fehlerhaften kaufmännischen Handlungen kein Schaden erwächst, aber Einkauf und Verkauf fallen nicht unter dem Gesichtspunkt rein kaufmännischer Gewinne vorgenommen werden. Solche zu tätigen, ist heute schon in den seltensten Fällen nur noch möglich. Und wenn erst einmal der Devisenrummel aufhört, wird infolge aller Interessengemeinschaften, Konventionen usw. der rein kaufmännische Gewinn nicht mehr möglich sein. Der Sinn einer Fabrik ist Produzieren. Die Kläglichkeiten des Gewinnes werden in Bälde nur noch in der Billigkeit der Produktion zu suchen sein. Alles das streitet man hier in K. dem ab, der solches sagen würde. Denn man will immer noch ,,in erster Linie ein guter Kaufmann sein”. Der Industrieführer aber ist kein Kaufmann. Er ist mehr.
,,Auch dieses kurze Streiflicht auf das rein Wirtschaftliche soll nur beleuchten, was ich schon mehrfach wiederholte, nämlich, einmal die Kluft zwischen Handeln und Seinwollen und zum andern das Fehlen einer ethischen Idee, als dem Sinn des Unternehmers.
,,Mein Großvater, ein ganz fabelhafter, alter Herr, hatte eine große Idee, einfach die, ein Werk zu schaffen, Kapital für sich zu gewinnen, er war Kapitalist, aber er ist auch Zeit seines Lebens Sohn seiner Väter geblieben, die als Calvinisten sich mehr dünkten als ihre katholischen Bauern und „Herren” waren auf ihrer eigenen immer schon als mustergültig bekannten Klitsche. Er als jüngster Sohn ging gegen den Willen des bis zum Tode ihm deshalb grollenden Vaters als junger Mann in die damals beginnende Industrie, mit dem zähen Willen, selber wieder Herr zu werden. Es ist ihm gelungen und er ist wieder freier Herr geworden, und zwar eines Anwesens, das sich von seinem Heimatsgut nur durch den Fabrikschornstein unterscheidet. Ein Landwirt kauft sich sein Gut, seine Seele hängt an einem Flecken Erde, mein Großvater gründete eine Fabrik, kaufte ein Gut, ein Stück Land für sich und „seine” Arbeiter. Er war eine machtvolle Persönlichkeit, der es verstanden hat, die Arbeiterschaft seinen Zwecken dienstbar zu machen. Sie haben alle für ihn gearbeitet, der jede besondere Leistung mit „douceurs” belohnte. Er hatte eine Idee, und die hieß „Ich”.
„Seine Söhne haben sein Werk übernommen und in seinem Geiste weitergeführt, bis diesem Geiste die Lebensmöglichkeiten verloren gingen. Für sich arbeiten sie nicht mehr, für ihre Arbeiter auch nicht, sie arbeiten fürs Werk. und dieses Werk hat keinen Sinn. Denn man kann nicht für tote Ziegelsteine arbeiten. Seine Söhne haben Immenses geschaffen und je länger ich hier in der Firma tätig bin, um so mehr wächst die Anerkennung vor der fabelhaften Leistung meines Vaters. Er hat unerhörte materielle Werte geschaffen. Die Fabrik ist dreimal so gross und zehnmal so „gut” geworden. Die Firma ist in der ganzen Welt bekannt, aber das Werk hat keinen Geist. Der alte ist verloren gegangen, und ein neuer ist noch nicht da. Diesen neuen Geist zu schaffen, halte ich für meine vornehmste Aufgabe . . . Ich arbeite wie ein Pferd, sachlich, in der Fabrik, reorganisiere einen Teil des Betriebes, arbeite an der Schaffung einiger Verfahren, die ich zusammen mit den Arbeitern ausprobiere. Ich bin Tag und nacht im Betriebe. Wo ich gerade bin, verlange ich viel und präziseste Arbeit, die ich den Arbeitern mittels Apparaten und Verbesserung der Arbeitsmittel zu erleichtern suche. Ich bin saugrob und selten freundlich, „krieche ihnen vor allen Dingen nicht in den A—”, das schlimmste, was man als Vorgesetzter tun kann. Die Leute sollen zunächst sehen, daß ich was leisten kann (der Geist der Väter!). Denn der Arbeiter erkennt nichts mehr an, als die Leistung und das Können. Mich in Gegensatz zu den alten Herren stellen, wäre ein Verbrechen. Mein Platz ist neben ihnen, nicht neben der Arbeiterschaft. Denn glauben Sie nicht, daß ich mich mehr dünke als meine Väter. Wenn ich einmal das geleistet haben werde, was diese geschaffen haben, kann ich mit mir zufrieden sein. Der kritische Standpunkt, den ich bewusst einnehme, ist weniger ein höherer, als der “neue”. Wir Jungen müssen Träger dieses neuen Geistes sein, und ich hoffe, mir die Kraft, die Vitalität zu erhalten, dem Werke meines Vaters diesen Geist zu verleihen. Denn man muß den Geist der Väter besitzen, um ihn zu überwinden. In die „Regierung” eintreten möchte ich so spät wie möglich. Meine Zeit ist noch nicht gekommen. Man muß abwarten können. Und die Zeit des Wartens ausnutzen.”
Zn diesem mit bewundernswerter Klarheit das Nacheinander der Unternehmertypen zeichnenden Aufriß ist der Geist als Träger der Erbfolge deutltch erkannt, als Gestalter des Ueberindividuellen, des ewigen Sinns.
In diesem Dokument tritt uns plastisch die pardoxe aber lebensvolle Lage her „Kronprinzen” der Industrie entgegen. Sie wollen und müssen vollen Respekt vor der Erbfolge haben. Denn darauf beruht ihre eigene Berechtigung. Aber sie sehen gleichzeitig, daß gerade ihre Erblasser, ihre Väter dem „Werk”götzen erlegen sind. Geistestod ist die Folge dieser Werkbegeisterung. Denn die Anbetnng der bloßen leiblich-materiellen Erscheinung bewirkt Sinnentleerung. Gerade die Väter also, die sie beerben möchten, vermögen ihnen nur die Erb-Masse, nicht die Erbsubstanz, den Erbgeist zu überliefern! Sie stehen also vor der Aufgabe, den Bruch mit den Vätern in Liebe zu vollziehen. Sie dürfen nicht - wie die Väter - dem gesetzlosen, traditionslosen Trotz der Riesen verfallen. Sie müssen die Liebesverbindung mit den Ahnen über den eigenen geistigen Standpunkt Herrin bleiben lassen. Und weil sie so das Geheimnis neuer Ordnung in scheuem Zuwarten in ihrer Brust verschließen müssen, wird es wachsen können! Die Treue, die sie den Vätern halten, erzeugt die Spannung und das Kraftfeld zum innern Wachstum. Aber sind diese „Kronprinzen” isoliert im Volksganzen? Kommen ihnen nicht Kräfte, Menschen, Schicksale, Ereignisse entgegen? Setzt die Krise der bisherigen Arbeiterbewegung vielleicht Kräfte frei, die auch das nacheinander der Generationen, die Erbfolge als ungelöstes leidensvolles Problem vor sich sehen.
Zn der Tat, auch drüben im Arbeiterlager wird das Nacheinander verschiedener Generationen mit ihrer verschiedenen Gesinnung plötzlich wichtiger als das Nebeneinander der bisherigen Massenvorstellungen. Man besinnt sich auf die notwendige Vielfalt der Gesinnung, in der die einzelnen Lebensalter befangen sind. Der alte Arbeiter, der junge Arbeiter - Besinnung erwacht, die ihrer entgegengesetzten Gesinnung nachsinnt. Und hier ans der Arbeiterseite sind es nun nicht die Söhne, sondern die Väter, die lernen. Neben den Jungunternehmer tritt der alte Arbeiter genauer: neben das Sohnhafte im Unternehmer erwacht das Väterliche im Arbeiter, und beide Wesenszüge drängen ins Bewußtsein der Träger - sie seien äußerlich alt oder jung - weil diese Wesenselemente der Seele von Vernichtung bedroht sind. Hat der Unternehmererbe die Gefahren einer sinnentleerten Erbmasse zu überwinden, so steht der alte Arbeiter vor der Fratze der Erbfolgelosigkeit, die ihm sein Sprößling mit der Zigarette und dem herablassenden Auf-die-Schulter-klopfen schmerzend deutlich vor Augen stellt.
Denn auch der Arbeiter hat heute ein Stück erlebte Geschichte hinter sich. Auch er ist heute nicht mehr der Proletarier des ersten Augenblicks und der ersten Generation, den der Sozialismus vor Augen hatte. Er steht plötzlich und zum ersten Male innerhalb seiner eigenen Masse vor dem Kampf zwischen Vätern und Söhnen! Der Sozialismus kennt keine Erbfolgefrage. Der Staat oder die Allgemeinheit sollen erben, ist seine Antwort auf alle Erblichkeitsprobleme. Aber Staat und Allgemeinheit können nie geistige Streitfragen lösen, nie geistige Werte erben. Sie können dem Privatmann sein Geld wegnehmen, können seine Kinder in die öffentliche Erziehung stecken. Aber dann kommt gerade das Beste, was dieser Privatmann, dieser Vater zu vererben hatte, nicht zur Entfaltung: sein persönliches Eigentum und seine persönliche Autorität. Heute erfährt das der Arbeitervater an der Revolution der Jugend. Er erfährt es noch viel tragischer als die bürgerlichen Eltern. Denn er ist vielfach, ja meistens, wirtschaftlich abhängig von seinen Kindern. Er wird der Schicksalsgenosse aller Eltern im Volk. Der Gegensatz der Generationen zersägt und überschneidet heute die Klassengegensätze. Hier im Verhältnis von Eltern zu Kindern macht der Arbeiter eine höchst einschneidende, ganz persönliche Erfahrung, die weder rein objektiv noch rein subjektiv ist! Als Vater, als Mutter, als Sohn: da ist der Mensch nicht Individuum , sondern Mitträger einer überindividuellen Ordnung, freies Glied eines gesetzlichen Bundes, da verschwindet der ganze künstlich aufgebauschte Gegensatz von toter Objektivität und subjektiver Träumerei.
Wenn der jugendliche Arbeiter von 20 Jahren heut ebenso viel verdient und verdienen will wie sein Vater von 45, so wird die Menschenwürde dieses Vaters plötzlich nicht vom Unternehmer, sondern vom eigenen Sohn bedroht. Und angesichts dieser Bedrohung muß der Vater auf sein Leben als ganzes zurückblicken. Nun genügt es nicht mehr, seinen Lohn jedes Wochenende einzustreichen. Aus all den eintönigen, grauen Arbeitswochen türmt sich in Jahren sein Schicksal auf, das ihn heut zum Gespött seines Sohnes macht. Am Sohn erkennt er, was eigentlich sein proletarisches Unglück ausmacht: nicht die schlechte Bezahlung, nicht die Unsicherheit: sondern die unversöhnliche Gefangenschaft in einem fremden Arbeitsraum und Stundenplan. Denn sie ist es, die seinem Leben die persönliche Farbe raubt, kraft dessen er doch im Laufe der Jahrzehnte eine bestimmte Bahn zurücklegen müßte. Immer nur einzelne Tage und Stunden stücken sein Leben zusammen. ,,Es kommt aber nichts dabei heraus.” Er legt keine Laufbahn zurück. Denn täte er das, so läge zwischen Vater und Sohn ganz von selbst eine unübersteigbare Distanz. Dann wäre so viel natürlicher Abstand zwischen der sozialen Lage von beiden, daß der Sohn das vom Vater Erreichte respektieren und für sich selbst wünschen müßte! Das Ganze von 2400 Arbeitsstunden ist heute nicht mehr als ihre bloße Summe, statt als ein Lebensjahr zu zählen und sich auszuwirken.
Die Laufbahn des Arbeiters wird heute das Problem für Arbeiter, Unternehmer, Volk. Daß der Arbeitsplatz von ihm als ein Stück seiner Lebenszeit gefühlt werden könne, das allein kann heut die Lebensarbeit der Gesellschaft sicherstellen. Denn nur wenn möglichst viele ihre Arbeit innerhalb der Gesellschaft als ihre eigene Lebensarbeit ansehen können, ist die Gesellschaft auf das freieste, sicherste und dauerhafteste geordnet.
Durch das Leben des einzelnen Arbeiters muß sich also etwas einheitlich hindurcherben, es muß sein Arbeitsleben Linie und Folge erhalten. Trotzdem muß er Soldat in der grossen Armee der Arbeit bleiben. Schon zweimal in der europäischen Geschichte ist der Druck eines lebenslänglichen Soldatentums erfolgreich gemildert worden; im agrarischen und im kriegerischen Arbeitsleben. In beiden Fällen lies sich die eherne Ordnung der Dinge nicht ändern noch zerschlagen. Der kunstvolle Arbeitsprozess mit seinem Ineinandergreifen von vielen Rädchen durfte sowohl bei der Landwirtschaft wie im Heerwesen nicht wieder preisgegeben werden. Daher konnte der Mensch aus seiner lebenslänglichen Verbindung mit dieser bestimmten Aufgabe nicht entlassen werden. Aber es bot sich in beiden Fällen die Möglichkeit, die Uniform des Arbeitssoldaten zu erleichtern, eine erbliche, menschenwürdige Form dieses Lebens heraufzuführen, indem der Betriebsleiter sich der leiblichen Kontrolle über die Personen der Arbeitskräfte begab. Er „räumte” ihnen Ort und Zeit ihrer Arbeit zu freiem Eigen ein. Das bäuerliche Eigen und das militärische Gut entstammen einer Zwangsordnung der Dinge, in der der Einzelne an mechanisch eingeordneter Stelle stand. Aber man schichtete Hufen und Lehen ab, um den Einzelnen sich trotz dieser Einordnung entfalten zu lassem Die bäuerliche Hufe ist ja allmähliche Aussonderung aus einer einheitlichen Produktion. Bis ans Ende ausgesondert wurden ist sie erst im l9. Jahrhundert. Erst da hat man den Wirtschaftsprozeß, innerhalb dessen die Hufe sich hatte herausbilden können, zerstört. Ebenso ist es dem Lehen gegangen, das der Krieger empfing. Das l9. Jahrhnndert hat die Schale seines Spottes über die Ruinen des Feudalismus ergossen und die Arbeiter haben es töricht genug den Bürgern daran womöglich vorgetan. Dabei findet sich nicht nur das Lehnwesen auf der ganzen Welt, sondern es ist auch die Ordnung, nach der naturnotwendig die Bolschewiki in Russland heute greifen, und die deshalb Herr Poinearé unermüdlich als fluchwürdigen Rückfall hinter das geheiligte Jahr l789 denunziert. Für das deutsche Bürgertum ist wie der französische Nationalismus so der innerpolitische Poincaré der Gegenwartsgott. Aber das industrielle Lehnwesen ist die Aufgabe der Zukunft. Wenn es so viele Jahrhunderte wie das bäuerliche und ritterliche Lehnwesen die Gesamtordnung mit der einzelnen Persönlichkeit in Einklang hält, wie es diese Ordnungen vermocht haben, so hat es genug getan.
Auf Einzelheiten dieser industriellen Lehnspyramide kann hier nicht eingegangen werden, wo nur das Ziel zu zeigen war2. Das industrielle Lehnwesen beginnt schon heute an der Spitze der Wirtschaftspyramide sichtbar zu werden, dort wo Staat und Private in gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen das Eigentum in merkwürdig verschränkten Rechtsformen unter sich aufzuteilen beginnen. Eine solche Abspaltung des Eigentums an den einzelnen Betriebseinheiten in den Betriebsanteil und den Betriebsstellenanteil wird sich mit zwingender Macht durchsetzen, je umfassender heut der Hochkapitalismus herrscht.
Es sind die Eltern, die Erfahrenen, die leidgeprüften Volksgenossen, die erbwilligen und erbgehorsamen Söhne, die heut - von Staat und Organisation gleicherweise im Stich gelassen - Arbeit und Eigentum wieder knüpfen müssen an die Natur ihres Trägers, in dem beides verschmolzen werden muß. Ist der Kapitalismus eine reine Eigentümerbewegung, der Sozialismus eine reine Arbeiterbewegung, so ist es nicht verwunderlich, daß beide heute in der Krisis stehen. Das Arbeitseigentum ist der Niederschlag, in dem sich alle freie Arbeit niederzuschlagen trachtet. Aus der Krisis der Arbeiterbewegung erhebt sich eine Bewegung, die der Arbeit ihr eigentliches Ziel weist. Damit der Mensch fröhlich sei bei seiner Arbeit, muß ihm aus ihr ein Segen zuwachsen, der Segen des Aelter- und Erwachsenwerdens. Denn nicht die Welt sollen wir Menschen verbessern, aber gegönnt ist uns das Auswirken unserer Kräfte und die Entfaltung unserer eigentlichen Gestalt und ihre Vererbung von Geschlecht zu Geschlecht in steter Erneuerung und Läuterung. Die Arbeitsordnung ist heute zur Volksfrage geworden. Keine Partei, nur das Volk in allen feinen Teilen kann sie beantworten.
Inhalt
I. Die Totengräber der Arbeiterbewegung
II. Die Rückwirkung auf die sozialistische und christliche Arbeiterbewegung
III. Der Sozialismus als politische Bewegung
IV. Sozialismus als Gesellschaftskritik
V. Das Arbeiterschicksal
VI. Der Geist des Unternehmers