Rosenstock-Huessy: Im Notfall (1963)
„Im Notfall” oder „Die Zeitlichkeit des Geistes”
Für Margarete Susman zum 14. 10.1962
Von Eugen Rosenstock-Huessy
Der einzelne Mensch kann keine geschichtliche Erfahrung machen. Denn weder „Zeit” noch „Raum” stehen ihm zur Verfügung. Den Tieren ist es nicht gegeben, aus der sie verfügenden, sie umspülenden Ökologie herauszubrechen oder ihrer eigenen Naturzeit fragend gegenüberzutreten. Diese beiden archimedischen Punkte „gegen über” erschaffen nur Gemeinschaften Sprechender. Wir können das, soweit wir uns einander öffnen. Wenn sich Wächter und Bewachte aufeinander verlassen können, so wächst den Schlafenden die Wachzeit der Wache zu. Zu des Einzelnen wacher Zeit ist die von der Wache gewachte Stundenzahl hinzuzuzählen, wollen wir herausfinden, über wieviel mehr Zeit nun der Bewachte verfügt.
Wenn ein Lehrer seinen Schülern den Untergang des deutschen Reiches lebendig macht, dessen Augenzeuge er gewesen ist, so wächst den Schülern die Erfahrung der Lehrergeneration zu, und genau in dem Maße, daß die Übermittlung in den Hörern lebendig wird, genau in dem Umfang verfügen die Schüler nun über die Zeitspanne vor ihrem eigenen Leben. Verfügen über Zeit fängt erst da an, wo ich nicht einzig in meine eigene Lebenszeit eingeklemmt und verfugt bin. Der Überschuß über die mir allein gegebene Zeit bestimmt meine Verfügungsfreiheit. Das passive Verfugtsein in den Zeitablauf und die Verfügungsfreiheit über Zeit sind mithin so streng zu trennen wie Natur und Gesellschaft. Die Gesellschaft fängt erst da an, wo Menschen dadurch, daß sie sich die Zeit entbieten, eine gemeinsame Zeit schaffen und einander gegenseitig verfügbar machen. Sie bricht immer da zusammen, wo irgendeine solche gemeinsame Zeitgegenwart zusammenbricht oder, genauer gesagt, auseinanderbricht. Der Wanderbursche z. B. verliert leicht seiner Heimat Überlieferung. Aber wenn er, oder der Student, Volontär, Reisende, Soldat, die so ihm entrissene Zeiteinheit mit Eltern und Vaterstadt richtig wertet, so antwortet er mit der begeisterten Eroberung erweiterter Zeitspannen, großartigerer Geschichtsepochen. Die Söhne der Liberalen haben das karikiert, wenn sie das eigene Zeiterbe seit 1864 - 1870 - „Hoch weht die Flagge Schwarz-Weiß-Rot” - mit dem Mythos der 36 000 Jahre Germanentum überkompensierten. Aber mag das Gesetz hier in die Karikatur ausgeartet sein, so ist es doch noch ein echtes Gesetz, das hier karikiert worden ist. Dies Gesetz sagt, daß Verfügung über Zeit ein sozialer gegenseitiger Schöpfungsvorgang ist, der unausgesetzt vollzogen werden muß. Sonst verlieren wir unsere Verfügungsfreiheit über die Zeit.
Dies Gesetz muß dahin ergänzt werden, daß es unendlich viele Grade dieser Zeitherrschaft gibt. Schon das Haustier hat „etwas” Zeit. Die meisten Menschen haben nicht viel mehr Zeit als ihre Haustiere. Kein Mensch hat alle theoretisch denkbare Zeit je zu seiner Verfügung. Je mehr Generationen zusammenwirken, desto mehr Zeiten werden kartelliert und desto mehr „verfügt” das lebende Geschlecht über anderer Geschlechter Zeiten.
Weil Zeiten erst durch gegenseitige Eröffnung verfügbar werden, wird dieser Zeitkredit nicht aus physikalischen Zeitsekunden zusammengestückelt. Die erlebbare, verfügbare Zeit hat nichts mit der Stoppuhr gemein. Denn sie besteht aus Zeitbögen: Eine bürgerliche Familie lebt in einem Zeitraum von Großvater bis Enkeln. Also wachsen dem lebenden Geschlecht nach oben und nach unten auf einen Schlag zweimal fünfundzwanzig Jahre zu. Eine echt adlige Familie, ob mit oder ohne Adelstitel, hat jenseits der Großeltern noch ein Jahrhundert über sich und - Aspirationen auf ein künftiges Jahrhundert mehr. Der Adel fehlt heute überall da, wo eine Vorsorge über mehr als fünfundzwanzig Jahre unmöglich wird; so kann bezweifelt werden, ob irgendwelcher Adel in „unserer” Zeit noch wirksam sein kann.
Nun sind aber die Sekunde und die tote, nie endende schlechte Ewigkeit heute die einzigen Grundbegriffe aller Denkenden. Bertrand Russell, Albert Schweitzer, Friedrich Meinecke, Karl Jaspers, Karl Barth wenden keine andere Grundlage ihrer eigenen Zeitvorstellungen an. Das tun die Schulprofessoren sogar dann, wenn sie am Rande uns Zeitendenker wie Bergson als verrückte Kerle verzeichnen. Der Arbeitskalender der modernen Produktion, der Fahrpläne, des Radios, der Zeitungen ist eine so überwältigende tägliche Knetmaschine, daß diese abstrakten Zeitmaße für konkrete gehalten werden. Wird aber einmal eine Abstraktion für konkret gehalten, dann ist die Gipsmaske über dem lebendigen sinnlichen Leben zu hart geworden, als daß die Sinne noch ihre redlichen Berichte, erstatteten. Ich sehe mich daher genötigt, a corsaire corsaire et demi zu setzen. Ich muß den abstrakten, d. h. den bloß gedachten und unerfahrbaren Charakter einer aus Sekunden endlos aneinandergereihten Ewigkeit dadurch entthronen, daß ich der Sekunde als Zeitatom (es könnte auch von einer hundertmillionstel Sekunde die Rede sein) einen kleinsten realen Zeitbaustein entgegenstelle. Da die heutige proletarisierende Gesellschaft uns unsere bürgerlichen, adligen, königlichen, priesterlichen, apostolischen, prophetischen Aeren zertrümmert, so wissen die meisten Leser nichts von Epochen, sei es auch nur aus den Zeitbögen der Jahrzehnte, geschweige denn der Jahrhunderte. Sie wissen nichts von der Vergangenheit und der Zukunft als den zwei uns gleichzeitig bedrängenden Gewalten, aus deren Andrang wir gemeinsam gegenwärtig werden.
Im Gegenteil: Presse und Historie hämmern ihnen ein, daß Zukunft aus letzten neuesten Nachrichten bestehe und Vergangenheit aus objektiven Tatsachen. Das industrielle Weltalter befreit sich von der Vergangenheit, indem es sie in Schutt verwandelt, und es befreit sich von der Zukunft, indem es sie in Sensationsmeldungen verwandelt. Journalist und Historiker haben unter sich eine geradezu raffinierte Arbeitsteilung geschaffen, dank deren sie uns versichern, daß wir durch Historie der Vergangenheit und durch die Presse der Zukunft frei gegenüberstehen. Abonniert die Zeitung, lest Toynbee, dann wißt ihr. Die eigene Erfahrung ist doch gerade umgekehrt! Jeder erfährt, wie sein Leben zwischen dem Druck vom drohenden Ende des Lebens her und dem Druck des bisherigen Lebens eingezwängt sich gestaltet. Diese eigene Erfahrung aber wird dem heutigen Schulkind und Zeitungsleser vernebelt. Denn die Industrie stülpt eine mythische, d. h. eine bloß addierte Zeit über uns alle.
So muß ich den einzigen Bereich zu Hilfe rufen, den der fabrikgehetzte Zeitmensch heute außerhalb des „Büros” oder des Betriebs noch kennenlernt. Dieser Bereich ist die Schule, sind die Schulen aller Art, vom Kindergarten bis zur Universität und über diese, hinaus.
In diesem Bereich ließe sich wohl erhärten, daß die neun Jahre höhere Schule oder die vier Jahre auf der Universität eine Zeiteinheit darstellen, in der wir von der bisherigen eingeschränkten Vergangenheit frei und auf unser eigentliches Leben ausgerichtet werden sollen. Schon daraus würde folgen, daß, wenn ein Student am 2. Mai 1957 die Universität Münster bezieht, er in einen Zeitraum von vier Jahren eintritt. Weil dieser ganze Zeitraum bereits am 2. Mai voll verfügbar erscheint, deshalb hat der 2. Mai 1957 nicht nur die sinnliche, empirische Erfahrbarkeit eines einzelnen Frühlingstages an sich. Nein, er macht Epoche. Er stiftet eine Zeitspanne, und dieser Akt des Stiftens verlegt den Sinn des sinnlichen 2. Mai heraus aus ihm selbst in den Zeitbogen „Vier Jahre”. Die Zukunft wirkt also auf den ersten Tag von vornherein; denn er ist ja nur der erste Tag, weil der letzte Tag des Studiums bereits mit gegenwärtig ist! „Vier Jahre” werden also als Eine Qualität erlebt, und das Additionsexempel, es bestehe diese Periode aus 3 x 365 +1 x 366 = 1461 Tagen ist von keinerlei Interesse für das sinnvolle Studium während dieser einheitlichen Zeit. Das zeigt sich darin, daß, wer fünf oder drei Jahre studiert, alle die erzieherischen, bildnerischen, seelischen Nöte genauso bewältigen muß wie jener Vier-Jahre-Studiosus! Die Gesamtfigur „Studienzeit” kann mithin mehr oder weniger Naturzeit füllen, ohne ihre Gestalt deshalb einzubüßen.
Die Schulzeit ist eine.
Ich will es mir aber noch schwerer machen, damit auch der Mißtrauische die Kluft zwischen konkret und abstrakt selber aufzureißen lernt. Ich will die einzelne Kolleg- oder Schul- oder Seminarstunde der Physikzeit gegenüberstellen. Die 45 oder 55 Minuten einer solchen Unterrichtsstunde kommen ja dem physikalischen Zeitablauf verführerisch nahe, viel näher jedenfalls als die „Studienzeit”. Wenn trotz dieser äußerlichen Annäherung die Schulstunde, der Gegenfüßler der Stoppuhrzeit ist, dann wird die Gipsmaske, unter der die Mehrzahl der Menschen um ihre Lebenszeit kommt, sich doch vielleicht lüften lassen.
Die physikalische Zeit besteht aus unerbittlich ablaufenden, voneinander unabhängigen Sekunden. Die Schulstunde ist nur Schulstunde, wenn, solange sie währt, die Zeitteile so fest ineinander verfugt sind, daß „vorher” und „nachher” vertauschbar bleiben. Das klingt fremdartig. Aber versucht nur selber, zu lehren, ohne zurückzunehmen, ohne am Ende der Stunde auf den Anfang zurückzukommen, ohne ein zuerst ernsthaft vorgetragenes Argument hinterher als Scheinargument zu entlarven. Ohne das alles geht es nicht. Lehren ist auf die göttliche Freiheit gegründet, daß ich vor dem Läuten noch sagen kann: Dies alles war nur ein Märchen. Oder: Dies war erst die eine Seite der Sache. Oder: Ich habe als Statistik, die in der ersten Viertelstunde erwähnt wurde, leider die falsche vorgelesen und berichtige mich. Wo über Zeit verfügt wird, werden Vorher und Hinterher frei vertauschbar. In politischem Hochdruckgebiet wäre Lehren unmöglich, könnte der Lehrer sich nicht noch 11.59 auf das 11.06 Gesagte berichtigend zurückziehen und ein bösartiges oder stumpfsinniges Getratsche seiner Schüler so hintanhalten.
Ein Vergleich zeigt das: wenn der Lehrende fünf Minuten, bevor der erste Student hinausgeht, sich berichtigt, so wird er nicht verhaftet werden; berichtigt er sich aber nach der Pause, am Anfang der nächsten Stunde, und ist er inzwischen denunziert worden, so wird seine Berichtigung kaum Glauben finden. Sie hat ihren freiwilligen Charakter verloren, weil jene Zeitspanne „Gegenwart” sich aufgelöst hatte, innerhalb derer wir über eine einheitliche, weil mit-geteilte Zeit verfügen!
Das abgelaufene Weltalter hat sich über den freien Willen zerstritten. Wir begreifen kaum noch, wie so etwas möglich war. Gottes Wille ist frei, sonst wäre er nicht Gott und Wahrheitsforschung wäre uns unmöglich. Jeder streitbare Atheist glaubt ja an die freimachende Kraft der Wahrheit. Mein Wille umgekehrt ist nicht frei, wenn ich nur Natur bin. Mein Wille könnte allerdings befreit werden, falls es Mittel und Wege gibt, meines Willens mich zu entledigen und Gottes freien Willens teilhaftig zu werden. Diese beiden Binsenwahrheiten: 1. An und für sich ist kein einzelner Mensch frei; 2. Jeder der spricht, nimmt an einer freien Wahrheit teil, werden heute völlig übersehen.
Die abstrakten Begriffe Willensfreiheit und Willensknechtschaft sind in den letzten Jahrhunderten zerredet worden. Sie sind abstrakte Begriffe und müssen daher für Theologen und Philosophen aufgespart bleiben, genau wie „Augenblick” und „Ewigkeit”.
Innerhalb der menschlichen Gesellschaft gibt es keine abstrakten Begriffe. Hingegen gibt es die konkreten Gelegenheiten, bei denen sich eine ganze Skala von Graden unserer Freiwilligkeit oder unserer Unfreiwilligkeit vor uns auftut. Ein amerikanischer Student hat mir in ein und derselben Vorlesungsstunde am Anfang der Stunde, zugerufen: „Jesus, after all, has committed suicide by having himself crucified.” Ich zeigte ihm das Unsinnige dieser Behauptung. Aber am Ende derselben Stunde brach die tiefeingewurzelte Nazihörigkeit wieder bei ihm hervor mit dem korrespondierenden Satz: „After all, Hitler has sacrificed himself for Germany.”
Diese beiden Sätze: Jesus hat Selbstmord begangen, Hitler hat sich geopfert, sind die lapidare Teufelsideologie unserer Zeit. Ein Mund, der diese beiden Sätze gläubig spricht, ist aus allen kirchlichen oder humanistischen Lehren ausgebrochen. Er spricht die Sprache des teuflischen Weltalters, das sich dadurch auszeichnet, daß jeder Mund alle Worte, die er spricht, aus eigener Machtvollkommenheit in ihr Gegenteil verkehren kann. In unserem Beispiel haben die beiden Grenzfälle der Freiheit: Opfer und Selbstmord, ihre Plätze vertauscht. Aus der Tatsache, daß Hitler Deutschland seiner Besessenheit geopfert, sich selber aber in der Wut, im Haß, in der Verzweiflung am Ende seiner Sackgasse entleibt hat, wird also die Umkehrung. Nicht habe Hitler Deutschland seinem Willen geopfert; obwohl doch jahrelang in jeder Todesanzeige stand: „Er fiel für den Führer”, heißt es nun: Hitler fiel für Dich! Aber dann wäre Hitlers Tod allen anderen Opfern vorangegangen, und er hätte sie überflüssig gemacht. Tut nichts, „Hitler hat sich geopfert”.
Unser Herr ging ans Kreuz, damit nicht ewiger Mord die Völker verzehren müsse. Tut nichts; weil er die Gefahr des Kreuzes lief, so hat er Selbstmord begangen. Angesichts solcher Abscheulichkeiten hilft es uns nichts, über die Freiwilligkeit zu schweigen. Die freie Tat Jesu im ersten Augenblick und der erzwungene Tod Hitlers im letzten Augenblick belehren uns über die Wertlosigkeit jeder außerzeitlichen Diskussion solcher Ereignisse. Wir also fragen: Wieviel Zeit hatte Jesus zur Verfügung und was hat er mit dieser seiner Lebenszeit angefangen? Wieviel Zeit hatte Hitler zur Verfügung und wie hat er sie geendet? Sprechen wir zuerst von dem kleinen Versuch des Antichristen, von Hitler. Er hat in zwölf Jahren ein Tausendjähriges, ein von ihm auf tausend Jahre angesagtes Reich verspielt. Er hat die in eintausend Jahren erworbene Rechtsüberlieferung der in Staat und Kirche zwieschlächtig verfaßten Welt verhöhnt. Am Ende, als er alles verhöhnt und verspielt hatte, hat er sich mit einem Wutausbruch gegen die ihm Aufgesessenen entleibt. Sein Tod kam hinter dem Tausendjährigen Reich her und war erzwungen. Die Gleichung lautet: 1933 - 1945 = 1000 Jahre.
Bei Jesu Geburt läßt Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium das „O Haupt voll Blut und Wunden” ertönen. Dank Jesu Tod kann der Geist in seine Jünger einziehen, und so, dank dieser freiwilligen Vorwegnahme des eigenen Ausscheidens, vermochte die apostolische Kirche mit vierzigjähriger Verfrühung an die Stelle des alten Israel zu treten. Denn als im Jahre siebzig der Tempel in Jerusalem zerstört wurde, stand die Kirche der Petrus, Paulus, Johannes, Markus, Thomas, Matthäus bereits aufrecht. Das also war die Frucht der Freiwilligkeit ihres Hauptes. Er gewann unendliche Zeit!
Die Jünger aber wurden zu Aposteln nur dadurch, daß sie Jesu Leben bereits so früh von rückwärts lesen und vom Sinne seines Todes her enträtseln konnten. Was ihnen zu seinen Lebzeiten unverständlich war, sprach sein Tod aus. Dank des Todes stand er in ihnen auf. Er bot sich ihnen also freiwillig schon im vierzigsten Jahre vor seinem rein „natürlichen” Tode - etwa mit siebzig Jahren - und von da an bis zur Zerstörung des alten Israel durch vierzig Jahre hindurch als Quelle ihres Geistes dar. Er war das Wort, das sie lasen. Und die vier Evangelien waren die Versionen ihrer Lesung. Was seitdem bis etwa 1914 Kirche wurde, beruht auf dieser damals gewonnenen Zeit von vierzig Jahren. Von der Kreuzigung angefangen, hat die Kirche einen Vorsprung von vierzig Jahren vor der Welt gehabt. Nur wo dieser Vorsprung durch die Vorwegnahme des Todes Jesu wirkt, gibt es Kirche. Oft ist dieser Vorsprung verlorengegangen. Dann ist die Welt zerfallen. Und der Vorsprung hat neu ersprungen werden müssen. So ist der freiwillige Opfertod der Preis, den Jesu uns für unseren Vorsprung gezahlt hat.
Mithin ist es antichristlich, andere für seine Zwecke zu opfern, christlich, sich für andere zu opfern. Mithin ist unser Tod, der ja notwendig einmal vorfällt, dadurch unterschieden, daß wir, sei es zu früh, sei es zu spät, sei es rechtzeitig, sterben.
Mit allen anderen Akten des Lebens ist es erst recht so. Wir müssen atmen, essen, schlafen, uns aussprechen, heiraten, lieben, kämpfen, lernen, lehren usw. Aber wann wir diese Akte vollziehen, das ist unser freiwilliger Beitrag zu unserem Leben. Was zu früh oder zu spät geschieht, ist im biblischen Sinne Sünde. Zur rechten Zeit aber geschieht das Rettende, Heilende.
Grade der Freiwilligkeit lassen sich also dadurch festlegen, daß wir fragen: wann tust Du das, was notwendig ist? Du kannst es um so viel zu früh tun, daß das, was Du tust, ins Leere fällt. Es achtet noch niemand darauf. Es hat keine Folgen. Du kannst es um so viel zu spät tun, daß schon längst niemand mehr darum sich kümmert. Aus Boston sandten 1933 die Anhänger der britischen Königsfamilie der Stuarts ein Telegramm an den Kronprinzen Rupprecht von Bayern, weil er Stuartblut hatte: „Eines Tages wirst Du doch noch König von England!” Das ist ein Scherz des Zuspät. Aber zwischen den beiden Mauern der wirksamen Zeit bildet sich die Marschlinie derer, die das Leben erneuern. Die Sturmvögel, die Propheten, die es verheißen, die Erstlinge, die es daraufhin wagen, die Stifter und Heroen, die zum ersten Male einen bleibenden Grund legen, die Adepten, Jünger und Nachfolger, bis hin zu den letzten, die es bereits für selbstverständlich halten und denen es eben deshalb wieder verlorengeht.
Jede einzige Eigenschaft, die in uns Gestalt gewonnen hat, wird von dem Mob für „natürlich” ausgegeben. Keine einzige aber ist natürlich. Sogar daß wir uns nicht tätowieren, ist ganz unnatürlich. Die reine Haut des modernen Menschen ist eines Tages proklamiert worden.1 Alle unsere Eigenschaften sind eines Tages zum ersten Male ausgesprochen worden. Darum sind sie nun unsere ausgesprochenen Eigenschaften.
Aber daraus folgt, daß der Ausdruck „eines Tages” werden sie proklamiert, zwar einen „Tag” nennt, aber lange Zeitalleen meint. Gewiß ist: Jede Eigenschaft ist eines Tages ausgesprochen worden. Aber jeder dieser Tage war Jahrhunderte oder Jahrzehnte lang! Hier also erscheint das Wort „Tag” in seinem Vollgehalt als die Zeiteinheit, auf die das Licht eines und desselben Geschehens fällt. Von Verheißung über Stiftung, Jüngerschaft, Erfüllung läuft ein Tag, genau wie Präjekt, Subjekt, Trajekt, Objekt die unerläßlichen grammatischen Abwandlungen eines und desselben Aktes sind.
Die Kirche hat ihren Tag, das Automobil und die Eisenbahn und die Reformation haben ihren Tag, weil sie eines Tages erschienen sind. Es wäre Wahnsinn, diesen Tag mit der Elle der Physik zu messen. Es wäre aber töricht, ihn für ungemessen zu halten. Er ist genau bemessen.
Die Soziologie braucht also den Tag als einen eindeutigen Ausdruck für die Ereigniszeiteinheit. Die Zeitspanne, die es dauert, daß eine Eigenschaft proklamiert, verheißen, gestiftet, anerkannt und durchgesetzt wird, ist ein Tag in der Geschichte. Eigenschaften ereignen sich. Also ist jeder Geschichtstag bemessen durch die Durchsetzung des Ereignisses, auf welches das Licht sich richtet.
Das Wort „Tag” gehört mithin zu den „Ereignissen” als ihr Zeitmaß. Damit erklärt sich das den Philosophen und Theologen verschlossene Rätsel der Epochen. Alle Unterteilungen der Zeit, Jahrhundert, Periode, Jahrtausend, Generation, unterhalb so groß und oberhalb so klein, werden von ihnen für willkürlich erklärt. Das ist von ihrem Naturprinzip der Sprachlosigkeit aus unvermeidlich.
Da könnte sich niemand aus blindem Verhängnis, Zufall und Schicksal herauslösen und könnte keine Wahrheit je eines Sterblichen Pfad erhellen. Und die naturalistische Geschichte endet in Rassen-, Klassen- und Massenhaß. Denn jeder ist ja da nur, der er gewesen ist. Ursache regiert die Welt. Der natürliche Mensch aber wird nur aus seinen Ursachen heraus weiterentwickelt. Bestenfalls explodiert er sinnlos in einer „Mutation”, diesem hölzernen Eisen der Biologen. Denn in der Mutation passiert angeblich etwas, was nicht passieren kann aus Ursachen, was aber auf der anderen Seite beileibe keinen Sinn haben darf, weil ja kein Licht vom Ende der Welt her auf die „Mutation” fallen darf. Diese betrogenen Betrüger, diese schizophrenen Naturforscher folgen zwar selber für die eigene Karriere oder den eigenen Ruhm eifersüchtig ihrer eigenen Bestimmung; denn sie dienen ja ehrgeizig der künftigen Wahrheit. Aber ihre Objekte, so sagen sie, haben keine Bestimmung, keine Zukunft und keinen Teil an der Wahrheit.
Aber die Gesellschaft selber, in der wir uns diese seltsamen Spürhunde der Wahrheit, die Naturforscher, zu leisten vermögen, ist eine hervorgerufene Gesellschaft. Sie ist bestimmbar, umstimmbar, verstimmbar. Sie hält angeschlagene Klänge fest, bis sie ausklingen und abklingen dank ihrer Erfüllung. Sprechen heißt einen Ton anschlagen, bis ihm gehorcht worden ist. Geheiß, Gesang, Geschichte, Gesetz (so zeigte es ja die Soziologie I) sind die Klangerfüllungsstufen eines jeden einzelnen Rufes. Den Logos erweist die Grammatik als den Vorgang, dank dessen ein und derselbe Satz abgewandelt werden muß von seinem ersten ausdrücklichen Ausruf bis zu seinem ausdrücklichen Widerruf. „Bring das Holz”, „ich gehe in den Wald, um Holz zu bringen”, „wir haben das Holz gebracht”; „dies sind zwei Klafter Holz”, enthüllen sich als die Konjugation verschiedener Zeiten und Räume, dank deren eine Tat möglich wird. Hier müssen wir auf das so gebildete Zeitband achten. Der „Tag” einer jeden Tat hat Morgen, Mittag, Abend, Mitternacht. Denn Imperativ, Subjektiv, Präteritum, Indikativ sind die Zeitstufen, auf denen sich ein Satz oder Ruf verwirklicht.
Die großartige Leistung meines im Kaukasus 1948 verstorbenen Freundes Prof. Dr. med. Richard Koch aus Frankfurt am Main hat darin bestanden, für diese sprachliche Zeitenbändigung durch Hervorruf die leibliche Grundlage entdeckt zu haben. In seinen Briefen aus den letzten zwei Lebensjahren drückt er sich ungefähr folgendermaßen aus: Die Vierhügelplatte und das Hirn haben zwei komplementäre, aber entgegengesetzte Funktionen. Die unseren Lebenslauf bestimmenden Eindrücke werden in dem archaischen Organ der Quadrigemina angetönt und unbewußt festgehalten. Das Gehirn aber verarbeitet diese Anklänge in fieberhafter und mannigfacher Weise, bis es dem Urorgan rapportieren darf: Aufträge erfüllt. Also, in der Quadrigemina wird der große oder tiefe, weitausholende, das Exemplar der Gattung haltende Ton eines Gebots angeschlagen. Das Gehirn, also das Individuum in uns, geht alsdann all die Wege und Umwege, die der Empfänger des Gebots in den Kosmos hinein gehen muß, damit die Spannung wieder abklingen darf. So bindet jeder Ruf, und ehe er nicht ausschwingt, wird kein Hörer wieder aus ihm herausgelöst und frei. Den dem Ruf nicht Gehorchenden und ihn überhörenden überfällt Angst. Er ist wie gelähmt, denn er entzieht sich dem Wirken des Rufs. Bei ihm gebricht es an der Entsprechung zwischen Quadrigeminavernunft und Großhirnantwort. Er entzieht sich also der Wirklichkeit. Darum muß dieser arme Teufel abstrahieren. Denn sein Gehirn bleibt nicht untätig; auch wenn er nämlich den an ihn ergangenen Ruf leugnet, wird sein Gehirn doch in fieberhafte Tätigkeit versetzt. Nur wird dieser angstvollen Tätigkeit nicht zugestanden, als Antwort auf eine an den ganzen Kerl ergangenen Ruf zu dienen. Das Gehirn trennt sich von dem Geschöpf, in dem es seine Zeit hat. Zu abstrahieren ist der Versuch, zeitlos zu denken. Dem gemeinen Schicksal, daß wir und alle unsere Werke dem Tode verfallen, daß wir zeitweilig wirken, entzieht sich der bloße Denker. Er behauptet, daß er bloß abstrahiert. Aber er verkörpert das Sichentziehen. Er will sich nämlich nicht bestimmen lassen! Wer abstrahiert, hört auf, ein Kontrahent zu sein. Statt von seiner Bestimmung angezogen zu werden, statt in die Geschichte hineingerufen, hineingerissen, intrahiert zu werden, entreißt er sich ihr und macht, soviel an ihm liegt, den ergangenen Anruf ungeschehen. Er klettert wie ein Eichhörnchen. Seine Abstraktionen sind die Sprünge eines Eichhörnchens, den Baum hinauf, von Zweig zu Zweig, höher und höher. Abstrahieren heißt sich entziehen. Nun steht außer Zweifel, daß zuzeiten wir uns entziehen sollen. Wenn ein geschichtlicher Auftrag zu Ende geht, so beginnen mehr und mehr Leute über ihn zu räsonnieren. Wer räsonniert, abstrahiert. Wer abstrahiert, befreit sich. „Dies sind zwei Klafter Holz” ist eine Abstraktion von dem Auftrag, Holz zu holen. Diese bestimmte Geschichte ist eben mit Hilfe der Verallgemeinerung erledigt. Der Auftrag „Zwei Klafter” ist abgeworfen. Das Subjekt extrahiert sich aus den Fesseln des ihm auferlegten Arbeitsauftrags, sobald er in Zahl und Maß sein greifbares Ergebnis abliefert.
Jeder Ruf, so können wir zusammenfassen, spannt eine Zeitbahn; im Anruf attrahiert er wie ein Magnet die Eisenspäne, die Gruppe, die auf ihn anspricht. Die Lebenslänge dieser attrahierten Gruppe erstreckt sich vom Gebot, dem Vorgang der Attraktion, zum Gesang der Kontrahenten, der Kontrahierten, zur Geschichte, zur Relation, wie sich die Betroffenen aus ihrem Auftragsdruck extrahiert haben; dann erst, auf diese erfolgreiche Extraktion hin, darf die Abstraktion folgen. In der Abstraktion gewinnen wir unsere Freiheit zum Weiterleben zurück. So wie in jeder Messe sich am Ende wieder der Anfang vernehmbar macht: Das letzte Wort der Messe lautet: „In principio erat verbum.” Im Anfang war das Wort. Damit ist für die nächste Messe in den Herzen der Gläubigen und in ihren Ohren und Kehlen freie Bahn geschaffen. Daher wird solche freiwillige Begrenzung jedes einzelnen Gebotes von seinem ersten Ergehen bis zu seiner letzten Erfüllung die sozial notwendige Leistung. Die Abstraktion aber ist nur in diesem Zusammenhang sinnvoll.
Denn nur als Stunde, d. h. als Zeitphase, hat die Abstraktion Sinn. Das kann man schön dadurch einsehen, daß man einmal das dramatische, das lyrische, das epische Stadium einer Tat auch so zu entzeitlichen versucht, wie die Abstraktion sich verschweigt, wann sie zu erfolgen hat. Entwurzeln wir doch einmal Gebot (Attraktion), Gesang (Kontraktion), Geschichte (Pertraktion) aus ihrer besonderen Stunde. Das Gebot, als Attraktionsstadium an und für sich, also ohne die Kraft, über sich hinauszuwachsen, ruft das Kollektiv hervor, den Bienen- oder Termitenstaat. Denn schon der Zusammenschluß selber wird das Allheilmittel. Verherrlicht ihr aber das Stadium der Kontraktion an und für sich, so müßt ihr Ästheten werden, Psychologen, subjektive Gefühlsathleten. Herr Rilke oder das Horst-Wessel-Lied - gleichviel, man fühlt sich zusammen um jeden Preis. Die Pertraktion der durchhaltenden Emsigen, Fleißigen, Epischen macht den Amtsfanatiker; wer die Traktanden unermüdlich bearbeitet, das sind die Funktionäre, die Spezialisten, die Fanatiker des Reglements. Die Abstraktion, die neutrale letzte Phase der Verallgemeinerung aber gesellt zu diesen drei festgelegten Sklaven ihrer Phase: dem revolutionären, dem ästhetischen, dem funktionierenden, den philosophierenden Mob. Sie sind ein Mob, weil sie ihrer Stunde verfallen bleiben. Sie haben die Orientierung verloren. Die Stunde gerinnt ihnen, und sie glauben sich an sie berufsmäßig ausgeliefert; sie wissen ihr nicht zu entrinnen.
Deshalb schütteln sie alle den Kopf, wenn die heiligen Maße der Zeiten bekannt werden. Niemanden können die Zeiten als Morgen, Mittag, Abend und Mitternacht eines hervorgerufenen Tages ergreifen, der einer der vier Stunden dieses Tages nicht mehr entrinnen will. Die Revolutionäre, die Ästheten, die Funktionäre, die Intellektuellen sind der Zeit nicht gewachsen, weil sie einer einzelnen Stunde verfallen sind. Ein Kind und ein Erwachsener unterscheiden sich eben dadurch, daß Kinder nur um die einzelne Stunde zu wissen brauchen, der Erwachsene aber um den Rhythmus des ganzen Tages. Revolutionäre, Ästheten, Funktionäre, Intellektuelle sind die schrecklichen Produkte der geborstenen Zeit. Sie sind die eingekerkerten Kinder des Jahrhunderts der Naturzeit, wo die Zeit für reiner Ablauf galt. Während sie doch sozial hervorgerufene Zeit ist, verheißend, bindend, erfüllend und lösend aus dem Munde aller Beteiligten. Weil jeder zu einem anderen Zeitpunkte zur Teilnahme aufgerufen wird, hat jeder etwas anderes zu dem Ereignis zu sagen. Aber wenn er uns von Herzensgrund redlich seine Wahrheit ausspricht und bewährt, wenn er unabsichtlich und einfältig das sagt, was „an ihm” ist, dann liest sich das Stimmengewirr aus diesen absichtslosen Sätzen wie eine großartige Symphoniepartitur.
So lesen sich die Evangelien: Die vier Evangelien sind vier Phasen der Verwirklichung! Das hat die gesamte „Bibelkritik” mißverstanden.
Dies also ist das Geheimnis. Wir sprechen uns um so tiefer in ein uns umrauschendes Glaubensmeer hinein, je absichtsloser und leidenschaftlicher wir nur das Wort dieses Augenblicks gehorsam auszusprechen oder zu hören wagen. Dann und nur dann wird es sich reimen. Das Verhältnis zwischen dem von mir verkörperten gesamten Menschengeschlecht und dem bischen „mir selber” verkörpert sich vielleicht in der Spannung zwischen der einmal erregten Vierhügelfalte und den Umwegen und Auswegen der Großhirnrinde.
Indem sich ein Gehorchender auf das ihn durchziehende Zeitband einläßt, das in der Zeitspanne der Gattung zittert, wird ihm auch schon der bestimmte Aggregatzustand angewiesen, als Geheißener, als Sänger, als Amtswalter, als Analytiker, der nun gerade für dies bestimmte Ereignis, wie der Berliner sagt, „am dransten ist”. Zu dem Ablauf, in dem ein Wort Fleisch wird, fällt dir dein Stichwort um so beseligender zu, je unabsichtlicher du zu hören weißt.
Der Einschnitt der Epoche ist also die Bedingung einer verständlichen Geschichte, und die Geschichtsschreiber von Gnaden haben die Bedingung respektiert, von der Genesis, der Ilias und der Odyssee bis zu Lamprecht und Spengler. Eines Tages wurde die Geschichtsschreibung dieser Bedingung ungehorsam. Selbst an diesem Tage der Fachgeschichte als Wissenschaft finden wir noch die Titel Mitteralterliche, Neuere, Antike, Moderne, ja Zeitgeschichte. Sogar diese säkularisierten oder weltlichen Historiker also werden von einem Zeitschema dogmatisch beherrscht. Sie leugnen zwar die Perioden und Epochen in ihrem bewußten Forschen; aber sie beugen sich ihnen in ihrer materiellen Existenz als mittelalterliche usw. Historiker. Ihr „Tag”, ihre Epoche wurde von kühnen Kriegsfreiwilligen des Geistes, von Gibbon, St. John, Condorcet, Luden, Michelet, Ranke erschaffen. Das Auftreten epochenloser Historiker ist aber selbst ein Tag in der Historie. Sie haben mit ihren Fächern Epoche gemacht. Sie beweisen also selber unsere These, daß sie eines Tages uns widerfahren sind, und daß sich dieser Tag auf nicht ganz anderthalb Jahrhunderte bemißt2.
Bis vor kurzem war die christliche Zeitrechnung selber ein solcher „Tag”. Das Alte Testament verhieß das Neue. Das Neue Testament erfüllte das Alte. Und so wurde ein Tag.
Die Soziologie kann nicht mehr damit rechnen, daß die Fachjuristen, Fachhistoriker, Fachökonomen, Fachphilologen auf die Wahrheit der geschichtlichen Stunden unmittelbar hören und aus ihr heraus begeistert werden. Die Objektivität der Naturforscher hat sich zwischen den Gott der Wahrheit und die Wissenschaften der Fächer geschoben. Die Forscher werden verführt, das Geheiß zu leugnen, das primär an uns aus Gottes Gerichten ergeht; längst bevor wir Professoren oder Habilitanden oder auch nur Studenten sind, müssen wir Gott mehr gehorchen als den Menscheneichhörnchen, die abstrahierend auf ihre Bäume höher und höher, von Wissenschaftszweig zu Wissenschaftszweig klettern. Mit Hilfe der Abstraktion entzieht sich der Träger des Geistes einer ihm auf den Leib rückenden neuen Inkarnation. Der Intellekt erschrickt vor dem Gedanken, daß sein bisheriges Vokabular und seine Erfahrungen nicht zureichen könnten. Die Abstrahierenden kommen über diesen uns allen eingeborenen Schrecken nicht hinweg. Sie leugnen den Notfall, sie leugnen die höhere Gewalt eines unerhörten Menschen oder eines unerhörten Ereignisses. Neue Namen werden nur im drängenden Notfall eingelassen. Die Sprachdecke sträubt sich in jedem gewöhnlichen Fall, sich über einen weiteren Namen auszudehnen. So wie die ersten Autos Kutschböcke von den Pferdewagen her mitschleppten, so sträubt sich Geschichte. Es bedarf eines Durchbrechens der Decke, so, wie wenn in das Firmament plötzlich ein neuer Stern eindringen will. Nicht von selber wird diesem Neuen Stern Raum gegeben. Professor Gerhard Ritter verwendet auch 1963 für die deutsche Geschichte nur Begriffe von 1878.
Darum bedarf das Herangeschliffenwerden eines Menschen zur vollen Scheitelhohe eines eigenen unerhörten Namens einer schmerzhaften Wandlung der Umwelt, d. h des Prozesses, den wir Inkarnation nennen. Und er untersteht den Gesetzen des tödlichen Ernstes und der Notwendigkeit. Hier sehen wir also nicht das spielerisch scheinende Hantieren mit bloßen Worten am Werk. Sondern der Notfall erhebt unser Sprechen in die Höhe der geläuterten Ernennung wo wir für einen Namen uns in Stücke hauen lassen. Denn wir ziehen seine Geltung unserem Leib und Leben vor, wir lassen uns für ihn kreuzigen. Aber die Kreuzigung hat jedes Menschen Epoche neu bestimmt!
Die niedrige Grammatik sah sich die Sprache als Wortschatz an. Und so ist es begreiflich, daß sie beim Nominativ anhob als dem ersten Fall und den Vokativ als fünften Fall ausgab oder ansah.
Wir hingegen sehen die Geisteskraft sich über keimendes Leben ergießen und aus verfallendem Leben herausreißen. Vom Ganzen ergehen Anrufe, namentliche Anrufe an die ins Leben gerufenen Geschöpfe. Sie ergehen aber nur im Notfall. Darwin hat ganz recht, die Geschichte der Neuschöpfungen in Kämpfen ums Dasein zu periodisieren. Jedes neue Geschöpf ist der Not entsprossen. Jede neue Spezies ringt gerade deshalb uns einen besonderen Namen für sich ab. Darwins Kampf ums Dasein vollendet sich eben in der Zwangsvorstellung die ein Ereignis in uns aufregt, so daß wir nicht ruhen, bis es einen Namen empfangen hat. Die Aufregung über eine Not legt sich, sobald das Kind dieser Not seinen eigenen Namen empfängt. Denn damit ist die Not anerkannt. Und erst im Akt der Anerkennung vollendet sich jegliches Ereignis. Die. namentliche Anerkennung ist der letzte Eindruck, den ein Ereignis hervorbringen muß, um sich als echtes Ereignis zu legitimieren.
Wenn nun die Namen aus dem Ganzen heruntersinken auf die uns umringende Welt, so ist es unverständig, die Grammatik aus dem einzelnen Ding in seinem Nommativ abzuleiten. Die Beugung jedes einzelnen Wortgeschöpfes muß an den Sprachstrom des Ganzen angeschlossen bleiben. „Notfall” ist also die Ereignisstufe der Wort- und Namenbildung, vom Ganzen zum Einzelnen hin.
Notfall | das erstmalige Ergriffenwerden von einem unerhörten Träger eines Namens. |
Vokativ | Vorfall, die erstmalige Anrufung dieses neuen Trägers. |
Akkusativ | Nachhall, die erstmalige Selbsterkenntnis im Lichte dieses neuen Trägers. |
Dativ | Zugebracht und zugedacht wird die bisherige Welt dem neuen Wesen. |
Genitiv | Abhängig wird von der neuen Abstammung alles Sonstige. „Ich werde meines Vaters Sohn.” Statt: „Heute habe ich Dich gezeugt” auch: „Heute hast Du mich gezeugt! Und ich heiße nunmehr Gottes (Genitiv!) Kind.” |
Nominativ | Der neue Name tritt seinen Herrschaftsbereich an. |
Soundso viel Zeitworte werden diesem Nominativ, diesem Regenten von Verben zugewiesen. Vom Notfall zum Genitiv wird jeder solche Regent erst einmal zustande gebracht: Der Nominativ ist geschichtlich der letzte Fall, in den ein Träger einrückt. Wer diesen Weg nicht gehen kann, dem versagt sich die Erfahrung, also allen bloß Verständigen.
Notfall, Vorfall, Akkusativ, Dativ, Genitiv, Regierungsfall bilden die aus dem einen Geistesbraus sich herauslösende Sonderfährte eines Elohim, eines Bereichs. Seit Pasteur macht der Tollwutbazillus krank, so wird der Bazillus oder die Bakterie, um 1880 der neue Gott. Er wurde seit Pasteur benannt, beschworen, die Bakterien Verehrer schössen aus der Erde. Alles Unerklärliche, wie Krebs, wurde dem neuen Wesen unterstellt.
Wir können nun vielleicht einsehen, weshalb ein abgeschnittenes Individuum keine Erfahrung machen kann. Wer heute die Zeitung liest oder das Radio aufdreht, hört „gleichzeitig” Neuigkeiten, die aus all den verschiedenen Zeitkapiteln vieler Ereignisabläufe stammen: Verheißung, Unterziehung, Übersetzung, Entsetzung, Präjektives, Subjektives, Trajektives, Objektives werden im Ätherraum der Telegramme betäubend durcheinander gemeldet. Alles wird von dem verbildeten Schulkind, dem Publikum, für ein gefundenes Fressen seines zeitentrückten Verstandes angesehen. Und indem ihm seine eigenen Spannungen als stiftender Ahn, geliebtes Kind, verheißener Enkel verborgen bleiben, mißversteht er sich als verständigen Beobachter oder überlegenen Intellektuellen. Also kann er die Eindrücke nicht sortieren; Aschenputtel hätte, auch nie die Linsen oder Erbsen sortieren können ohne göttliche Hilfe. Genauso fehlt dem einzelnen die Scheidekraft für die Geisterstunden. So wie das Geschlechtswesen Mann ohne Weib, Weib ohne Mann sich immer selbst betrügt, so betrügen sich in uns auch Enkel, Sohn und Vater und Ahn unausgesetzt, wenn sie sich trennen. Aber
Man und Weib, Weib und Mann
reichen an die Gottheit an.
Und unser Aschenputtel von Individuum bedarf der Götterhilfe, um aus dem Labyrinth seiner widerstreitenden Gefühle gegen jedes Ereignis herauszufinden. Diese Hilfe bleibt uns nicht versagt. Wir alle sind Aschenbrödel ohne Zeitgewinn. Gewinnen wir aber Zeit, so stoßen wir wie die Häher in die Höhe, in der mehr als eine Zeit sich zur andern Zeit fügt.
Wo der Amtswalter oder wo der Revolutionär, jeder für sich, die Geschichte erfahren wollen, da wird nichts erfahren. Gerhard Ritter und Gustav Landauer und Walter Flex und Max Weber haben alle vier den ersten Weltkrieg aus vollstem Herzen erlebt und erlitten. Aber eine fruchtbare Erfahrung haben sie nicht gemacht. Frieden ist nicht geschlossen worden.
Woodrow Wilson hat auf dem Sterbebett 1923 den amerikanischen Studenten den ebenso grauslichen wie überflüssigen zweiten Weltkrieg vorhergesagt. Der moderne Intellektuelle, dem die Ahn- und Enkelorgane ausoperiert sind wie einem Eunuchen, kann nicht hören. Hitler war ein typischer tauber Intellektueller. Er hatte nie das entsetzliche „Im Westen nichts Neues” in sich hineingehört. Also mußten die Völker fühlen.
Die Taubheit der grammatisch zerborstenen Geister der nationalen Intellektuaille oder Canaille hat den ersten wie den zweiten Weltkrieg hervorgerufen. Denn Kriege werden hervorgerufen durch Schalltaubheit, hingegen werden Friedensschlüsse möglich durch Gehorsam.
Weder Krieg noch Frieden passieren von selbst. Denn sie sind gemeinsame Unternehmungen des Menschengeschlechts. Sie fahren auf dem Wellenband des Ausgesprochenen und Vernommenen einher. Reißt dies Band ab, so bricht Krieg aus; wird es neu gespleißt, beginnt der Friede. Kein selbständiger Mensch aber kann es spleißen. Denn das tragende Zeitband kommt nur dann zustande, sobald die Selbste aufgesprengt, sobald die Individuen aufgeschlossen und sobald die Völker gehorsam werden.
Denn dann fügen sich Prophet, Sänger, Gesetzgeber, Erzähler zu den Stationen einer Epoche, und erst damit wird sie erfüllt. Aber die Ludendorffe und die Hitlers fügen sich nicht. Sie sind Techniker; sie kennen die Dinge und ihren eigenen Willen. Sie sprengen die heilige Ordnung, in der sich keine einzige Zeit vereinzeln darf; weder Sommer noch Winter, weder Nacht noch Tag, weder Krieg noch Frieden dürfen je sich selbst überlassen bleiben. Sie müssen aufeinander hören. Seit der Sintflut wissen das die gläubigen Völker; die ungläubigen aber fallen der Vernichtung durch ihren eigenen Willen anheim.
-
Nachgewiesen in „Der Vollzahl der Zeiten”-Soziologie II (1958). ↩
-
Näheres dazu in: Out of Revolution, Autobiography of western Man, 1938. Zuerst habe ich in einem Festvortrag vor den amerikanischen Historikern 1934 diese unsere Epoche der epochenlosen Historiker niedriger gehängt. Kein deutscher Historiker hat von diesem aus den Quellen gearbeiteten Buche Notiz genommen. ↩