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Rosenstock-Huessy: Glaube und Hoffnung (1954)

Ein Nachwort zu Evanston

Bissingen/Ulm, 3. 6. 54

Lieber Herr Professor!
Wieder wende ich mich in einer besonderen Sache an Sie, und Sie werden gleich wieder denken: Oh, diese verwünschten Theologen! Also in meinem Fragekasten liegt zuoberst wieder das oberkirchenrätlich angeordnete Jahresthema zum Diözesankonvent, zu dem ich mit: „Die christliche Hoffnung als Weltgestaltung in der römisch-katholischen Theologie und Kirche” beitragen soll. Nun stimmt ja die Formulierung nicht ganz. Stillschweigend muß ja wohl ergänzt werden „… als Impuls zur Weltgestaltung” oder so ähnlich. (Es soll auf die Evanston-Konferenz vorbereiten, also die angeblichen Abwege von der echten Eschatologie zeichnen.) Kann man wirklich so sagen, daß die eschatologische Hoffnung im Katholizismus in „Weltgestaltung” transformiert oder transponiert wird? (Als ob das, was vermutlich gemeint ist, nicht die notwendige Frucht des Evangeliums wäre!) Nun kennen Sie ja sicherlich die katholische Sozialethik und Naturrechtslehre. Wo finden sich die entscheidenden Kapitel bei Thomas? Sicherlich ist da auch Suarez wichtig? In welchem Verhältnis steht die - ursprünglich doch weltkritische - Civitas Dei Augustins zu dem auch neuerdings wieder laut verkündigten Programm, die Welt dem Christentum zuzuführen? …

G. Bartning

Norwich/Vt, 8. 6.54

Lieber Herr Bartning,
… ad verbum „spes”. Es spiegelt die tragische Geschichte der griechisch überrannten und überwältigten Christenheit. Amerika ist im Superlativ bloß „Hope” ohne Glauben, weil es die äußersten Ausläufer von 900 Jahren Aristoteles und Plato verkörpert. Daher dies Thema in Evanston obenan steht. Die Kirche geht heute an der höchst unheiligen idealistischen Hoffnung meines Erachtens leicht zugrunde. Niemand will sich die Mühe machen, zu fragen, wann denn die christlichen Kardinaltugenden „übernatürlich” werden und wann sie bloß recht gnadenlos bleiben. Antwort: An sich selbst sind Glaube allein, Hoffnung allein, Liebe allein zwar auch nicht „natürlich”, weil sie ja zwischen den Menschen walten, die „Natur” aber alles in die Einzelnen selber hineinverlegt. Also natürlich sind sie nie. Aber voneinander abgetrennt, sind sie auch nicht Offenbarungen, sondern bloß kreatürlich. Denn die arme Kreatur tritt in den Zeitprozeß überhaupt erst ein, wenn eine der drei auf uns wirkt. Wirken sie in Sonderung, so ist die Zeit noch nicht Gnadenzeit, ist unerfüllt. Es ist eben eine Zerstreuung der Zeit, aber tot ist Zeit nie! Zeit ist nämlich nie „natürlich”, ist immer kreatürlich. Aber nur in der Gnadenzeit ist sie vollzählig (siehe „Heilkraft”)! Es gilt also, drei Zustände zu scheiden: Natur: die Zeit stirbt. Kreatur: die Zeit wirkt. Gnade: die Zeit ist erfüllt.

Diese drei Ebenen werden heut auf die bequemeren zwei reduziert; die meisten Akademiker kennen nur die Dialektik Natur = Übernatur. Und das gibt das Prokrustesbett eines falschen „Entweder natürlich oder übernatürlich”. Damit entfällt dann das Verständnis für die drei Ebenen Natur, Geschöpf, Schöpfer und auch für die drei Akte im Atem der Seele. Denn Hoffen kommt aus den Bildern des Vergangenen - niemand kann auf das hoffen, wovon er gar nichts weiß - und ist daher die idealistische Eigenschaft. - Genau umgekehrt von dem, was die Menschen heut denken, stammt jede Idee aus vergangener Realität (gegen Platos Uridee) und will ihre Rückkehr. Alle Renaissancen sind Rückkehrhoffnungen. Glaube aber kommt aus der Zukunft auf uns zu. (Scheint ganz unbekannt den heutigen Theologen, die sogar Glauben und Hoffen individualistisch in uns selber hinein verlegen. Aber der Glaube zieht vom Ende her, die Hoffnung stößt vom Vorhergehenden aus. Kraft der Kardinaltugenden sind wir also eingetaucht wie der Fisch ins Wasser in das Meer der Zeit vom Anfang und vom Ende her.) Nur wenn Hoffen von Anbeginn und Glaube vom Ziel her mich stoßen und ziehen, kann die Liebe tanzen. Sie rhythmisiert. Wie erhaben, daß die Evangelien das Wort „Hoffnung” nicht enthalten! Nur Johannes, der Gottes ποίημα dem griechischen Poem entgegenstellt, muß es als erster auch mit den Hoffnungen der Griechen aufnehmen! Und Paulus muß das eben auch. Aber noch weiß die apostolische Generation um ihre sola fides, d. h. um den Unterschied eines neuen „Gezogenwerdens vom Ende her”. „Glaube” gegenüber den „Hoffnungen” der frommen Heiden. 800 Jahre später ist das total vergessen. Radbert von Korvei schreibt etwa 850 „De spe”, und da ist das nur eine Debatte mit der cognitio. Der Idealismus hat gesiegt; vielmehr, in der Form der Kirche erzieht jetzt das heidnische Altertum die Germanen zur akademischen Vorstufe des Christentums, die in Nietzsche endet.

Folge: Die gesamte Eschatologie der Rom-Kirche steht unter der dauernden Verwechslung von Spes und Fides. Kreuzzug ist ja Rückkehrhoffnung! Die „Re”-Silbe (siehe meine „Revolutionen”) ist immer „Spes”. Joachim v. Floris und die Opposition im Mittelalter sind die einzigen Fideisten, später die Mystiker. Luther im Bauernkrieg, Cromwell 1650, Napoleon, Lenin sind übrigens die Glaubenshelden, in denen die bloßen Hoffnungen ihrer „Mitläufer”, die „Vor”Stellungen, überwunden werden aus reinem Glauben! Vorstellungslos ist der Glaube.

In Luther streiten die Elemente. Sola fide, ja. Aber praktisch hat er eben doch die Laien gar nicht zu Priestern, sondern zu Theologen gemacht. Protestantismus ist nicht allgemeines Priestertum geworden, sondern allgemeines Theologentum. Denn Luther und Melanchthon schenken den Laien die Teilnahme an dem von Anselm und Abälard via Thomas und Bonaventura und Gerhard Groote und Jean Gerson geschaffenen Schöpfrad des theologischen Prozesses. Bedenken Sie immer, daß es diese Theologen erst seit 1125 gibt (siehe meine „Heilkraft”; und für Glaube, Liebe, Hoffnung siehe Augustin in „Atem”, eine Untersuchung über die drei Kardinaltugenden, die ich für eine von niemandem sonst gegebene oder gesuchte Neuordnung dieser Vorstellungen im Rahmen des Neuen Zeitdenkens ansehe) und daß die Ethik Richard Rothes und die Ethik des Thomas beide idealistisch-„speratica” sind. In der Eschatologie ist dies sehr bemerkbar: Der Papst als Vikar Christi, des Weltenrichters, ergänzt seit 1095 den Papst als Nachfolger Petri. Daher stammt seine neue Gesetzgebungsgewalt, in Vorwegnahme des Endgerichts (Nachweise in „Out of Revolution”). Die Verdoppelung der päpstlichen Rolle:

Papst Papst
von Null her! Jesus Petrus Christus vom Ende her!
Nachfolger Petri Vicarius Christi

hat noch Michelangelo an die Sixtinadecke gemalt. Sie führte in der Ethik zu einem Knäuel, weil unablässig Endzeit und kirchliche Vergangenheit miteinander verwechselt wurden. Luther zerschnitt den gordischen Knäuel, setzte die Welt der Staaten an die Stelle des Papstes. Heut wird der Protestantismus „kirchlich”. Bums, schon wird Christus unsere spes unica. Insofern ist Evanston ein Zeichen für das Grauwerden der Formen Gregors und Luthers: Sie suchen sich auszutauschen!

Die hoffnungslose kommunistische Glaubenseschatologie zwingt anscheinend die alten Mächte dazu.

Die echte christliche Antwort sehe ich ja in einer Aufdröselung des Elohim-knäuels. Wir einzelnen müssen kleine, begrenzte Weltuntergänge und Parusie-verzögerungen pluralistisch-elohimistisch-dionysisch erleben dürfen. Das Triumphgeheul der Liberalen über die irrige Parusieerwartung der Urchristen ist total fehlgegriffen. Es ist gar nicht wahr, daß sie irrig war. Denn wie bei Jona und Ninive kann die Welt nur von denen gerettet werden, die an den sofortigen Weltuntergang hier und jetzt echt und ehrlich glauben. Wem es mit der Gegenwart Gottes überhaupt Ernst ist, der muß glauben: Kein καιρός ohne vorhergehendes Weltende. Das angenehme Jahr des Herrn kam in Kapernaum, nachdem Jesus seiner Zeit gestorben war!! Nun war die Welt untergegangen!

Davon weiß der Idealismus Gregors VII. und Melanchthons und Schleiermachers nichts. Aber Luther wußte davon und riß die Fürsten mit sich an diese Stelle. Keine Zeit…

E. Rosenstock-Huessy

Bissingen/Ulmj 14. 6. 54

Hochverehrter, lieber Meister und ungekrönter Doktor Theologiae!
Verzeihen Sie die Geschmacklosigkeit, daß ich in der Eile einen Umschlag mit meinem Stempel verwendet habe. Sie haben die unbeabsichtigte Herausforderung so schön pariert, daß wirklich eine „Laien”-Theologie dabei herausgekommen ist, die sich Evanston hinter den Spiegel stecken könnte. Wenn das so weitergeht, müssen Sie in der nächsten Auflage von „Heilkraft” (S. 51 ff.) das Duell mit Herrn Thomas ergänzen durch einen zweiten theologischen Briefwechsel mit vielleicht nicht ganz so trostlosem Ausgang. Nun hat Ihr Brief bei mir die Schleusen hochgezogen, und ich erlaube mir - im voraus mit jeder „Honorariums-Forderung” Ihrerseits einverstanden! -, ziemlich unsystematisch weiterzufragen. Leider sind alle diese Fragen theologisch und philosophisch überaus töricht, und entweder bin ich zu feige oder zu bequem oder habe ich zu wenig Zeit, sie einem „Zünftigen” vorzubringen (und dort, wo ich’s tat, bekam ich entweder gar keine Antwort, oder es hieß, ich spreche eine unverständliche Sprache). Ihre Thesen helfen mir, sie andeutungsweise zu ordnen.

  1. Wenn ich Sie recht verstanden habe, „schwimmen” wir in den drei christlichen Kardinaltugenden wie der Fisch im Wasser - zodion „pisces”! -, das ist doch wohl unser Erbe. Aber schwimmen wir wirklich noch darin? Und wenn nicht mehr, sind wir im Aussteigen begriffen, weil uns das Bad jetzt lange genug gutgetan hat (es gäbe ja heutzutage dann genug, womit man sich hinterher frottieren könnte, bzw. das Gesicht des heutigen öffentlichen Lebens sieht danach aus, als gäbe es von dem genug) - oder versuchen wir nur auszusteigen und rutschen doch wieder hinein, mit Recht (ich bitte, dies nicht zynisch zu verstehen). Ja, daß „Hope” im Schwange geht - noch im Schwange geht, das „glaube” ich gerne -, vielmehr habe ich diese „hope”-übersättigte Luft so über, daß ich, kurz bevor Ihr Brief kam und ich gerade mit ganz anderen Sachen beschäftigt war, ein Bild malen wollte mit der Unterschrift „hopeless”. Mir leuchtet das ein. Auch die Psychoanalyse ist so ein Ausläufer der Spes, mitinauguriert durch Augustins bildergesättigte „Memoria” - bis hin zu dem rührend hoffenden Kinsey. Übrigens meine ich mich zu entsinnen, daß selbst Klages - also vom ganz anderen Ende her - solch einen Zusammenhang zwischen dem „Eros der Fernec” und der romantischen „Hoffnung” anvisierte - natürlich mit der entgegengesetzten Tendenz! In irgendeinem gnostischen System - ich weiß nimmer, in welchem - ist „Elpis” ein hierarchisch ausgezeichneter Äon. Aber wie ist es heute mit den andern zwei? Und vollends mit dem ganzen Terzett? Und wenn der Glaube drüben ist bei den Leninisten, warum geht das Evanstoner Konsortium nicht nach Moskau? Und wie ist es mit der größten unter den dreien? Rilkes „Nicht sind die Leiden erkannt, / Nicht ist die Liebe gelernt, / Und was im Tod uns entfernt, / Ist nicht entschleiert” ist doch wohl mehr als ein hypochondrischer Seufzer. Freilich können wir die drei nicht in einem „Befund” aufnehmen - das wäre ja gerade wieder „idealistisch”. Vielleicht ists auch vermessen, in einer Situation wie der unsrigen nach „Deutungen” zu fahnden. Es gibt davon gewiß genug. Aber als „arme Seele - wenn auch vielleicht noch nicht als „arme Kreatur” - darf ich doch wohl fragen, was die „Taufe” wert war. Aber das führt mich wieder auf den Abweg der „Hoffnung” - sicherlich haben Sie recht, daß wir jetzt einfach durch die Weltuntergänge hindurchmüssen. Aber uns pastoribus ist eine Hoffnung anvertraut - weithin noch oder wieder -, der ist der ganze en bloc hingeschmissene Elohim-Knäuel lieber. Die Synoden und Konsistorien haben ja gewissenhaft acht darauf, daß er nicht „aufgedröselt” wird. Schon die wahnsinnige Pflichtenüberhäufung sorgt ja dafür, daß der Theologe und der theologisierte Laie vorneweg immunisiert ist gegen dionysische Weltuntergänge und Parusieverzögerungen. Der Gedanke daran ist ja schon diesem armen Arbeitstier eine Blasphemie. Aber noch hält er es aus - kraft der „spes unica”! Er hofft dann wenigstens. Diese Dinge haben ja heute auch ihre schreckliche leibhaftige Seite. Gott sei Dank, es gibt noch immer Glaube, Hoffnung, Liebe - an „Hecken und Zäunen” trifft man auf sie und wird unbeschreiblich beschenkt. Ich gestehe, daß ich gerade für die „platonische” Hoffnung eine Schwäche habe. Und lange genug habe ich von ihr gelebt - von ihrer noch immer fruchtbaren Verwesung gelebt. Wahrscheinlich lebe ich heute nicht mehr von ihr (aber dies vermag nur Gott zu sagen). Sie ist eben und bleibt ein Reich der schönsten Gestalten. Und mir ist noch der Vorzug zuteil geworden, daß ich ihrer nicht erst ansichtig wurde, als sie vielen ehrlichen Leuten erst im Ekel und Überdruß hochkamen, Es ist mir übrigens in diesem Zusammenhang aufgefallen, daß in einem angelsächsischen Buch - vermutlich katholischer Herkunft („Screwtape letters” von Lewis) - die Zukunft so perhorresziert wird, dem heutigen Menschen vorgeworfen wird, er verbrenne die Güter der Gegenwart, der einzigen „ewigkeits-förmigen” Zeit, auf dem Altar der Zukunft. Alle jene Ismen (Lenin usw.) betrügen den Menschen um seine Gegenwart. - Damit bin ich beim

  2. (was ich auch wieder von der Seel-Sorge her vorbringe). Wir stehen in zwei Fronten. Einmal gegen jene „Zukunfts”-Fanatiker, die der Engländer im Auge hat, die die Gegenwart verloren haben, weil die Hoch-Zeit der Liebe an ihnen vorüberging (d.h. wir müssen wohl für sie, nicht gegen sie stehen) - gemeint sind ja nicht die, die kraft des Glaubens die Zukunft in die Gegenwart hineinreißen, sondern die, deren Leben in die Leere voraus präzipitiert, weil der Schmelzfluß und die Kristallisation der Gegenwart ausblieben. Und dann gegen die Andern, die „Speristen”, die „Zukunft” und sogar „adventus” sagen und sich bezeichnend genug nur eine „Wieder-kunft” vorstellen können (warum hat noch niemand die Geschichte dieser verhängnisvollen Übersetzung „Wiederkunft” geschrieben, dieses Mordes an der παρουσια). Sie verstehen mich: Wir leben unter Gehetzten, d. h. Liebes-Flüchtigen, und lassen uns hetzen - das ist die falsche, scheinbare Zukunfts-Süchtigkeit. Und wir müssen den Glaubens-Fanatikern, den Hoffnungslosen doch recht geben gegen die Wiederkünftler. Wenn wir aber den Leuten mit der „guten Hoffnung” die Augen aufmachen über das Wesen ihrer Hoffnung, wie

  3. kann dann Kirche bestehen? Sie deuten es ja wohl selbst an, daß es nur in der Form der Kirche dem Christentum gelang, die Germanen zu „erziehen”. Nun ist klar: Solange man von vorneherein meint, die Kirche müsse „erziehen” (oft vermeidet man ja diesen Ausdruck und praktizierts um so eifriger), braucht man den Bilderkosmos der Hoffnungen. Aber vielleicht fällt das, was ”Kirche” einmal war oder sein sollte, nicht unbedingt mit diesem Erziehungs-Programm. Diese Verkirchlichung des Protestantismus muß untergehen. Jawohl. (Auch ihr ausgezeichnetes Einverständnis mit den letzten Resten des „Staates” heute - in Westdeutschland wenigstens - spricht dafür.) Aber: man sucht ja nicht nur „Kirche” (und versucht sich damit an einer „Renaissance” oder „Re-Forma-tion”), man sucht auch „Sakrament”, man sucht also leibhafte Gestalt. Man sucht „Realpräsenz”. Ich meine, die Eschatologie erfreue sich deshalb solcher Beliebtheit, weil man da eine besonders zuverlässig garantierte Realpräsenz sich verspricht - nach all den Bilderstürmen des Protestantismus endlich eine legitime Gelegenheit, sich an Bildern - sit venia verbo - zu sättigen. Ist das nicht auch Symptom der Liebesbedürftigkeit? Nicht nur der Alters-Asthenie „Hoffnung”? Es könnte dann zu dem gehören, was Sie in „Heilkraft”, S. 42, sagten: Daß die Kirche der dem Ende zu rasenden Gesellschaft zurufen muß: „Nicht so schnell!” Daß nicht nur die „Mitte der Zeit”, sondern auch die „Mitte der Gezeiten” wieder erfahren wird? - In dieser Reihe noch eine Frage: Wieso akzentuieren Sie a.a.O., S.37, beim 3. Artikel Hoffnung, Liebe, Glauben?

  4. Ich muß - egoistisch genug - nochmals auf das mir gestellte Thema „Weltgestaltung” (angeblich) in der katholischen Theologie zurückkommen. Unter dem Oberbegriff „Hoffnung” geht das schlecht. Aber ich kann den Stiel ja umkehren und „Glaube” supponieren - vorausgesetzt, daß doch noch einige da sind, denen der „Fideismus” Luthers noch im Blute steckt. Schließlich müßte sich ja der Glaube auf eine Zeit-Gestalt berufen können. Nur wird bei Botschaften, wie denen des Joachim de Fiore, die Verbindung mit der Trinität deutlicher als bei Luther. Da komm’ ich unwillkürlich auch - so nebenbei - auf das Thema „Hölle”. Bei Dante, im „Hoffnungs”-Äon, ist die Hölle der Ort der Hoffnungslosigkeit. Und darum gibt’s dort auch so sch¨øne Zwischenstufen, wo die nicht so hoffnungslosen Sünder, Typen und Temperamente angesiedelt werden: das Purgatorio. Wie ist das bei Luther und den Fideisten? Eigentlich verschwindet da die Hölle! Sie steht da gar nicht mehr zur Debatte! Aber ganz verschwunden kann sie nicht sein, da sie - vom Reich der Seele her gesehen - doch wohl der Teil der Welt ist, der nicht „gestaltet” werden kann, der sich der Gestaltung widersetzt und darum mehr oder minder gewaltsam ausgeschieden wird. Aber da die Welt als Ganzes im christlichen Zeitalter erlöst ist, kann dieser sich aus irgendwelchen Gründen widersetzende Teil nicht wieder dem Chaos, der Un-Gestalt, anheimfallen, sondern wird zur Gegen-Gestalt, zum Gegen-Kosmos mit einer präzisen Hierarchie. Nach der Reformation taucht sie dann Stück für Stück wieder auf - und wird tapfer realisiert, in der machina mundi der Technik (ich glaube, daß viele technische Erfindungen vorher als „Höllenmaschinen” imaginiert waren), nicht mehr gerade hierarchisch, aber um so präziser. Das ist doch eigentlich ein großartiger Glaubens-Akt! Ein „Beweis des Geistes und der Kraft”, den die offizielle Kirche wieder einmal beliebte zu übersehen! Aber ganz wurde die alte Hölle durch diese Realisierung nicht zum Verschwinden gebracht. Der Alpdruck vom Gegenteil macht uns ja dauernd zu schaffen (Zukunftsromane). Hier wird Welt „gestaltet” - aber gewissermaßen zu präzis. Über-Determination der Gestalt, indem dabei die Zeit, die Zeit-Gestalt verschlungen wird. Man bemüht sich wohl um den arbeitsfreien Samstag (bzw. Montag), um die Zeit wieder deutlicher zu artikulieren. Man nimmt den Rhythmus unter die Lupe und vergröbert wieder (- die feine Rhythmusschwankung des Wochenverlaufs um den Donnerstag herum, in manchen Ländern durchaus respektiert, wird wiederum niedergewalzt). Ich finde da nicht recht heraus. Vermutlich habe ich da etwas falsch eingeordnet.

  5. Mich beschäftigt immer wieder die Zwiefalt der hebräischen Verbalzeit - im Vergleich mit den indogermanischen „tempora”. Hier ist doch ein Übersetzungsproblem allererster Ordnung, im Vergleich mit dem der mittelalterliche Universalienstreit wie ein Kinderspiel anmutet. Haben Sie hierüber einmal etwas geschrieben?

Dies ist noch nicht alles - aber ich habe Ihre Geduld schon zu lange auf die Folter gespannt. - Ist „Out of Revolution” in einem europäischen Verlag erschienen? Es ist überhaupt schrecklich, daß man außer dem „Alter der Kirche” keines von Ihren früheren Büchern noch kriegt, auch antiquarisch nicht. - Herzlichen Dank für Ihr gütiges Eingehen auf meinen „Elohimknäuel”.

Ihr Gerhart Bartning

Norwich/Vt., 19. 6. 54

Lieber Herr Bartning!
Bücher schicken kann ich im Moment nicht. Also nur disjecta membra einer Antwort auf Ihre Glossen. Zunächst schönsten Dank für die Abschrift meines Spes-Traktates. Die Konkordanz wird Ihnen inzwischen verraten haben, daß auch das Johannes-Evangelium ohne das Wort Hoffnung auskommt.

In Goethes „Töchterchen Hoffnung” reckt diese die Flügel wie eine Wiederentdeckung einer in der Orthodoxie des Luthertums verdorrten und nun im griechischen Idealismus von 1789 neu erblühenden Wunderpflanze. Deshalb ist von 1789 - 1917 alles „Hoffnung”. Und nur wegen der Hoffnung waren die Liberalen überhaupt noch bei der Kirche zu halten. Indessen 1917 beginnt eine neue Ära, der „vorstellungslosen Leiden”. Da eben, zur Strafe für den Überschwang der Hoffenden, Liberalen, beginnt also die Höllenqual des Hoffnungslosen aus der unterdrückten Tiefe aufzusteigen ins Bewußtsein. Die dritte, die johanneische Situation macht die Hoffnungslosigkeit der koptischen Mönche zum allgemeinen Lebensbestandteil. Ein Stück Hoffnungslosigkeit, ein Stück Hölle, ist jedem von uns zur Konfrontation aufgetragen. Die Askese, in die die Ahnung dieses Tatbestandes von jeher hineingeheimnißt gewesen ist, wird heut aus einer Werkaskese reale Lebensaskese. Das heißt, wir brauchen nicht kanonisierte begriffene Werke der Askese, sondern die vorstellungslosen Leiden. Auf die liebende Verteilung dieser Leiden freilich kommt es an. Jeder trage des Andern Last. Je mehr sich entziehen wollen, desto heilloser die Hölle. Aber „heillos” ist sie auch bestenfalls. Denn seit Lessing wissen wir, daß wir unsere Hölle auch in unsern Himmel mitnehmen müssen; unsern Himmel, umgekehrt, dürfen wir in die Hölle mitnehmen. Nur die Begrenztheit ihrer Heillosigkeit dank ihrer Anerkennung durch uns führt zur Auf Schließung der Hölle. Die Teufel steigen heut auf ins Licht des Tages. Aber sie bleiben stehen. Nur ihre Pluralität ist die Schmach, die ihnen angetan wird. Denn weil es viele gibt, schäumt jeder einzelne vor Wut! „Ecclesia magistra”: Die Kirche erzieht, oder: sie lehrt. Sie dürfen nicht vergessen, daß dies eine Irrlehre dessen, was Kirche sei, gewesen ist. Im paulinischen Äon ist dies - Ecclesia magistra - seit Gerson von Paris - freilich überspitzt worden. Luther vollstreckt da nur den Ausgang der Scholastik in seinem doch rein lehrhaften Katechismus.

Weil Paulus, der Doctor gentium, übertrieben worden ist, tritt heut das unsichtbar bleibende, ergänzende johanneische Element in Wirksamkeit. Dies ist rein heilsbezogen, hat es nur mit Erwachsenen und mit echten Leiden zu tun, mit Lebensaltern, nicht mit Wochen oder Moden, bleibt, wie die Ehe, „vorübergehend” im Vergleich zu den Schulen, Kirchschulen, Staaten, Konsistorien, nämlich zehn-, fünfzehn-, höchstens dreißigjährig. Das johanneische Element salbte ja auch Jesu irdischen Wandel mit dem einen Tropfen erleichternden griechischen Öls, nämlich mit seiner natürlichen Zuneigung für Johannes. Schließlich war Jesus während seines Wandels auf Erden in Himmel, Hölle und Fegfeuer zugleich. Wir werden es also wohl nie besser haben dürfen als unser Meister. Deshalb meine ich, Sie müssen weder an den Sakramenten des Petrus noch an den Chorälen des Paulus rütteln, sondern, und so reichlich wie möglich, Johannes vorschalten. Wer in die Kirche kommt, sollte vorher und draußen freie Liebe empfangen und erfahren haben: Dann werden „die Bilder bald reden”, und die Orgel wird wieder in ihm Erfahrungsklänge antönen. Hingegen sind Petrus und Paulus irreformabel als solche. Ach, sie sind ja viel zu gründlich reformiert: und sie gehen gerade an ihren tugendhaften Reformen zugrunde. Sobald Sie Ihrer Gemeinde offen die sponsa, die magistra und die mater auseinanderklauben, werden diese Laien auch den Mut finden, ihre Kinseyreport-Welten, d. h. ihre außerkirchlichen Liebesbereiche, als Erfahrungen, Gleichnisse und Anfeuerer, Ihnen in die Kirche zuzurechnen und beizutragen. Ohne diesen Rückgriff auf das außerkirchliche freie, wilde, „höllische” Leben aber geht es allerdings nicht. Indessen kann dieser Rückgriff durchaus orthodox geschehen und gerade den Gegenschlag gegen den scheußlichen Bultmann führen. Denn darum geht’s doch gerade, wie immer, daß die gegen den Mythus geschehene Offenbarung heut wieder die Massen und den liebesträumenden Einzelnen durch Deutung ihrer Mythen aufzuwecken vermag. Jeder von uns lebt doch mythisch, in seiner Liebe, seinem Beruf, seinen Selbstvorstellungen. Wie Henrik Steffens, dessen Biographie ich verfaßt habe und die ich Ihnen empfehle, da Sie Züge von Steffens besitzen, das sehr schön gewußt hat. Ermutigen Sie Ihre Gemeinde, erst einmal dem eigenen Mythus in Erwartung seiner Erlösung durch die Offenbarung herzhaft Einlaß zu gewähren. „Freundschaft” z. B. ist ja solch ein Mythus! Jugendliebe ist es. Daß die Ehe Gleichnis Christi und seiner Kirche sei, das darf man immer erst im Liebesunglück voll erfahren. Die Pastoren, die das in ihre Verliebtheit von vorneherein hineinbeten, sind bloß Schweine. Daß heißt, auch hier hebt die Offenbarung das schon mythisch Geschehene hinterher in ihr Licht. Manchmal, ja oft, hat das früher ein Mann in seiner ersten - unglücklichen - Liebe vorweg gelernt, dann vermochte er es, die entmythisierte erste Liebe bei der zweiten Bindung hell zu erfahren. Aber diese früher bei relativ spätem Eheschluß fast regelmäßige Verteilung auf verschiedene Liebeserfahrungen - wie beim „dépit d’amour” des jungen Mädchens - ändert nichts an der notwendigen Reihenfolge: Erst Mythus, dann Offenbarung. Weil die Mythen durch die Offenbarung hinterher offenbar werden, deshalb sind sie die Hoffnungen, welche der Glaube erlösen soll. Und deshalb hat die Offenbarung die zu den Mythen sich hinstreckenden Fangarme, die diese Mythen aufgreifen und am Ende entzaubern sollen. Diese Fangarme der gegen das Steckenbleiben in Mythen in die Welt getretenen Kirche will Bultmann amputieren!! Furchtbar. Und seinen eigenen Mythus als Theologe ahnt er nicht. So war er schon 1923, als ich ihn in Breslau kennenlernte. An ihm sehen Sie aber, daß wir am allgemeinen Theologentum todkrank sind. Sonst würde man ihn doch auslachen!

Aber die Verwechslung Bultmanns zeigt die Unwissenheit der Theologen an. Die liebend nach den Mythisierten ausgestreckten Fangarme des Heils und die zu überwindenden Mythen selber sind zweierlei. Und das sollen Jesus und Paulus nicht gewußt haben! Schrecklich. Und deshalb verdient sie wohl ein weiteres Wort. Alle Hoffenden haben Vorstellungen, sagten wir. So sehr hat das 19. Jahrhundert diese hoffnungsvollen Vorstellungen gepflegt - Fortschritt, Freiheit, Fliegen, Technik, Staat, Nation, Sozialismus usw. -, daß Joseph Wittig vor dreißig Jahren ein Weltalter „vorstellungsloser Leiden” prophezeit hat. Statt des von Dibelius ausgerufenen ”Mythos der Kirche” und gar des Rosenbergschen „Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts” ist die Wittigsche Weissagung bereits seit langem fürchterliche Wirklichkeit um uns her. Aber die Bultmanns haben noch ihren alten hoffnungsfrohen Mythus von der wissenschaftlichen Wahrheit, und dies ist ihr Mythos. Worin beseht er denn? Wissenschaftliche Wahrheit ist ja doch nur verallgemeinerte Wahrheit. Falls also Wahrheit nicht verallgemeinert werden könnte - und keine wichtige Wahrheit darf generalisiert werden! -, dann wäre das eine Schranke für den Fortschritt der Wissenschaft. Denn Wissenschaft verallgemeinert. Mein Platz im Himmelreich aber kann seit Jesus Christus nicht verallgemeinert werden.

Das Evangelium geht aber von dem Fall, den der griechische Geist getan hat, aus, weil es überhaupt von dem Sturz der Geister in die Hölle des Zeitlichen ausgeht. Gegen Bultmann ist das Johannes-Evangelium geschrieben, gegen Bultmanns Mythos nämlich, man könne durch Literatur über das Heil das Heil ersetzen. Der Mythos, den Johannes liebend aufschließt, ist der Logosmythos, der von Heraklit bis Philo die hellenische Welt am hoffnungsvollen Leben erhält und auf Christus vorbereitet; denn Johannes setzt gegen Philo und gegen Plato und gegen Aristoteles - nicht aber gegen Heraklit! - den Logos in das Richteramt ein, das zwischen tot und lebendig scheidet. „Logos ist Gesammeltheit”, sagte Heidegger. Andere haben den Geist vergottet, „der Herren eignen Geist” nämlich. Aber Johannes reißt uns über die Katheder hinauf, dahin, wo ernannt wird. „Nennkraft” ist sein Logos; er entscheidet: dies sterbe, dies lebe. Die Urkraft der Sprache wird den Akademikern drohend und liebend vor Augen gestellt, sie, die Todesurteile fällt und ins Leben ruft, steigt empor über den Beschreibungen, Definitionen, Analysen, Berechnungen, Feststellungen. Keine Entscheidung über Tod und Leben kann je verallgemeinert werden. Die höchste Wahrheit kann nie wissenschaftlich werden. Sie wird durch zweier oder dreier Zeugen Mund wahrhaftig wahr; durch zweier oder dreier Zeugen Aufopferung wird sie bewährt und fruchtbar.

Indem Bultmann seinen eigenen Mythus, den des Professors, nicht sieht - er lautet: „Die ganze Welt kann zu wissenschaftlicher Wahrheit werden” -, kann er auch nicht sehen, wie liebevoll die Fangarme des Johannes-Evangeliums sich ihm, dem mythosumhüllten Bultmann, entgegenstrecken. Logos, lieber Bultmann, sagst du, Wahrheit; aber gewiß doch. Jedoch, das fleischgewordene Wort ist der einzige fruchttragende, über Leben und Tod als Nennkraft entscheidende Logos.

Indem nun Bultmann den eigenen Mythos des Aufklärers nicht überwunden gibt, übersieht er auch die mythenabsorbierende, schwammartige Saugkraft der anderen Evangelien: Es ist hier nicht der Ort, das einzeln herzuzählen, was da von Matthäus, von Markus, von Lukas in den verschiedensten Bereichen ein für allemal geleistet worden ist. Die Synoptikerkritik hat sich seit Baur das Verständnis dieser Entmythologisierung durch die Evangelien dadurch unmöglich gemacht, daß sie nicht der Funktion einer Mehrzahl von Evangelien nachsann, sondern „Quellen” konstruierte. Doch muß zur Steuer der Wahrheit, die in der Geschichte waltet, auch die andere Seite dieses Bultmannschen Kampfes um die Entmythologisierung gewürdigt werden.

Die Evangelisten selber entmythologisieren. Ihre Fangarme zum Aufsaugen der Mythen werden total verkannt, wenn dem Neuen Testament nicht dieselbe Mythosgegnerschaft zugeschrieben wird, wie sie das Alte Testament geschaffen hat.

Jedoch bleibt die Frage, was geschehen muß, nachdem sie ihr Werk getan haben. Wie, wenn die Mythen der Vorzeit resorbiert wären? Wie, wenn deshalb die Fangarme nichts mehr zum Greifen, zum Offenbaren in die Fänge bekämen? Wie, wenn das Christentum und die Evangelien gesiegt hätten? Dies ist eine fruchtbare Fragestellung. Die Entmythologisierung, welche die vier Evangelisten verkündigen, ist vielleicht so erfolgreich gewesen, daß die Zeitgenossen des Flugzeugs, der Konzentrationslager und der Bibelkritik für diese Art evangelischer Entmythologisierung kein Verständnis mehr aufbrächten? Dann könnte Gott seine christlichen Soldaten entwaffnen. So hat es Nietzsche angesehen. So sah ich es 1918: „Der Antichrist überwindet nicht das Christentum. Denn er kommt erst, als es gesiegt hat. Sondern er überwindet das Werden des Christentums durch die letzten beiden heidnischen Jahrtausende hindurch, er überwindet die Mittel des Christentums.

Als wenn ein großer König unzählige Heerscharen aufgeboten hat, um alle Gegner zu besiegen. Endlich ist der Sieg errungen. Da entsteht eine große Leere und Enttäuschung. Das Volk glaubt mit seiner kriegerischen Form sich selbst zu Tode gesiegt zu haben. Der König aber weiß es besser. Er hat ja nicht für den Sieg, sondern für das Leben nach dem Siege geherrscht.

So ist es den Christen ergangen und ihrem Bekennen. Als Waffe der Eroberung und als Erkennungsmarke hat das Bekenntnis gedient bis in den Weltkrieg. Heut ist es kein Zeichen und kein Beweis mehr. Die Gabe ,christlich oder unchristlich’ hört auf, die leiblichen Menschen wirksam von außen einzuteilen und räumlich wahrnehmbar zu gliedern. Denn der Unterschied besteht nicht mehr zwischen verschiedenen Personen, seitdem der Herr gesiegt hat. Sondern heut ist der Kampf in jedes einzelnen Menschen Brust verlegt. Da ist heut keiner mehr, der nicht christliche Gedanken in sich trüge, auch wenn er auf eine heidnische Weltanschauung selbstbewußt schwört. Und da ist kein selbstbewußter Orthodoxer, der nicht neben oder hinter seiner Orthodoxie heidnisches Geistesleben birgt”. Zu diesen Sätzen stehe ich auch heute noch. Wenn Bultmann dreißig Jahre später nach „Entmythologisierung” des Mythos rief, so spiegelt sich darin das „Immer - langsam - Voran” des akademischen Landsturms. Auch jetzt sieht er den Vorgang im Rahmen seines einzelnen Faches, der Bibelkritik. Aber nur wenn wir diesen Rahmen sprengen, erkennen wir unsere wahre heutige Lage. Diese neue Lage hat nichts mit Fachleuten oder mit Priestern zu tun. Denn sie trifft mit voller Wucht gerade nur den Laien in uns, nämlich dies entvolkte Weltkind und diese mechanisierte Arbeitskraft, dies analysierte Geschlechtswesen und dies aufgeklärte Studentlein.

Seine vorstellungslosen Leiden, vor denen es Joseph Wittig gebangt hat, lassen dies Individuum verstummen. Und in diesem Augenblick wird es wohl evangelisch werden; ihn mit Hoffnungen, mit Vorstellungen, mit Klängen zu füllen, wird es wohl fröhlicher Boten bedürfen, um ihn zu
re-mythologisieren.

Weil Luther nicht das allgemeine Priestertum gebracht hat, sondern nur das allgemeine Theologentum, deshalb müssen wir heute rufen: Drei gibt es, kirchengeschichtlich gesprochen:

Da nun heut zuviel Theologie den Glauben erdrosselt, rufen wir das allgegemeine Laientum der Fachleute aus.

„Laßt uns mehr sein als Sieger”, ruft Paulus im Römerbriefe. Aber Karl Barth 1919 hat trotz unseres Flehens nicht verstanden, daß er hätte rufen müssen: „Laßt uns mehr sein als Theologen.” Dies war der Kampf zwischen ihm und mir. Und obwohl er als Sieger dasteht und ich im tiefsten Incognito verblieben bin, so bin ich trotzdem nicht widerlegt. Noch lebe ich desselben Glaubens: Laßt uns mehr sein als Sieger, laßt uns mehr sein als Theologen. Denn alle sind heut berufsbesoffen und reden nur noch „als” Pfarrer, „als” Professoren, „als” Konsistorialräte, „als” Verleger, „als” Minister, „als” Arbeiter usw. Dies „als” ist das Übel, das weg muß. Und so ist in jedem Fachmann der Laie „hervorzurufen”. Sein wirklicher Name muß aus ihm so hervorgerufen werden, daß ihm der Anruf nicht eine Klappe im fachmännisch ausgebildeten Gehirntelegraphenamt herunterwirft, sondern ihm schnurstracks „aufs Herz fällt”! Das haben übrigens die Männer des Widerstandes am 20. Juli vorgeleistet, besonders Bonhoeffer, Moltke und Delp.

„Drei für Gott und Vier für die Welt” hat man immer stehen lassen. Das hat die Kardinaltugenden „gerettet” …

Eugen Rosenstock

„Glaube und Hoffnung” ist Teil des PDF-Scan