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Rosenstock-Huessy: Eine Generation allein ist nicht geschichtsmächtig (1957)

Eugen Rosenstock-Huessy zum Generationsproblem

Vorbemerkung

Wohl kaum je zuvor sind Spannung, Rhythmus, korrelative Bedeutung der Generationen in Anthropologie und Geschichtstheorie so gewürdigt, ja, zum Organon des geschichtlichen Selbstverständnisses gemacht worden wie bei fugen Rosenstock-Huessy. Die folgenden Zitate mögen das bezeugen. Ihr Sinn entfaltet sich erst völlig im Zusammenhang der Werke, denen sie entnommen sind. Doch’ geht es dabei letztlich immer wieder um wenige entscheidende Grundgedanken:

Der Mensch muß lernen, die Zeit wahrhaft zu erfahren. Mehr, er muß sie zur Geschichte gestalten. Geschichte aber ist für Rosenstock wider alle herrschende Skepsis seit Christus Heilsgeschichte, d. h. nur insofern wahre Geschichte, als Integration, Befriedung des Menschengeschlechts in ihr fortschreitet. Aber jene Erfahrung der Zeit, geschweige diesen echten Fortschritt der Geschichte leistet kein Einzelner, keine Einzelgeneration aus eigener Kraft. Nur indem sie sich als „nächste Generation” weiß, Empfängerin eines von der vorigen überlieferten Potentials des Friedens wird und selbst biologische und geistige Erzeugerin einer nächsten Generation, einer lebendigen Zukunft nur dann wird eine Generation geschichtsbildend. Davon spricht das erste Zitat. Dabei ist Rosenstocks besondere Sorge, daß diese Überlieferung, speziell in der so überaus diskontinuierlichen deutschen Tradition, nicht mehr von selbst geleistet und aufgenommen wird. Die bewußte geschichtlich-soziologische Orientierung wird notwendig. Sie aber kann, wie das zweite und dritte Zitat ausführen, nicht monologisch, vom isolierten, bloß „zeitgemäßen” Selbstbewußtsein, sondern nur in der bewußten und hingebenden Kommunikation mit den Erfahrungen der Vätergeneration und den Erwartungen der kommenden geleistet werden. Die bestimmte Polyphonie der geschichtlichen Wahrheit, Grundprinzip des Rosenstocksehen Denkens, findet in der „Mehraltrigkeit”, der jeweiligen Koexistenz mehrerer Generationen ihren vorbildlichen realgeschichtlichen Ausdruck. Die polyphonische Struktur der Wahrheit in den Generationen einer Epoche manifestiert sich aber, wie das vierte Zitat besagt, auch in der existentiellen Geschichte, der Biographie. Es gibt nicht „das” Wesen „des” Menschen. - Schließlich aber ist es das Ergebnis der Rosenstocksehen Analyse der letzten tausend Jahre europäischer Geschichte, daß auch in deren Epochen und Revolutionen jeweils neue Stimmlagen des menschlichen Wesens als Protestanten und doch auch Erbfolger des Bisherigen sich konstituierten. Indem dabei der Blick auf jenen radikalsten Bruch einer neuen Generation gerichtet wird, auf so total gegen das Bisherige sich richtende personale und soziale Daseinsformen, wie sie in der Russischen Revolution proklamiert und partiell in der ganzen Welt wirksam wurden, wird hell der historische Hintergrund beleuchtet, auf dem die Frage der Generationen, ihrer bedrohten, neu und bewußt zu gestaltenden Kontinuität, sich stellen mußte.

Fritz Vilmar

In der Tat ist das Menschengeschlecht ja ein in Lauf gesetzter Vereinigungsprozeß. Heute müssen ja Erdteile befriedet werden, gestern waren es nur Nationen, vorgestern Landschaften. Dieser Verlauf ist schon in der ersten Ehe gesetzt. Die Vererbung der Überzeugung, es könne Frieden werden, führt zu der Reihenbildung, die wir Geschichte nennen. In dieser Reihenfolge wird dem Urfrieden (der in jeder Ehe gestiftet wird, F.V.) von jeder Generation eine neue Friedensschließung hinzugesellt. Wer das Wort, die „Nächste Generation” mit Sinn und Verstand sagt, dem sind die Ehe, die Ewigkeit, die aetas und der Äon und die Mehraltrigkeit nicht mehr Vokabeln, er ist selber von der Macht der Zeitenbildung ereilt worden und er weiß, daß sich in uns die Natur zu einer des Neuen fähigen Friedenstat gesteigert hat. Die Nächste Generation ist nie mit Sicherheit zu erwarten. Sie braucht sich nicht zu bilden. Die vorhergegangenen Generationen können ihren Eindruck verfehlen. Die Kinder, denen keine älteren Friedensschlüsse Eindruck machen, werden ausdruckslos. In Bismarck, Wilhelm II., Hindenburg und Hitler zum Beispiel als Ahnen erblickt der Enkel nur Fehlschlüsse, und so beginnt er zu folgern, daß wir zu Fehlschlüssen gezwungen sind. Diese Zwangsvorstellung ist die Folge der Friedloswerdung. Nur die nachdenkliche Haltung kann also die jungen Menschen heute neuer Zeugung fähig machen, sie müssen über das Unglück seit 1890 hinausdrängen. Die Verfehlung der Friedensschließung durch ihre Älteren muß selber zum Thema derer werden, die einer nächsten Generation in den Sattel helfen wollen. Auch hieran erweist sich die Stunde der Soziologie als ein biologisches Ereignis. Die Besinnung ist heut den Kindern, Studenten, Individuen, Abgesprengten unerläßlich, nämlich eine gedankliche Durchdringung und soziale Bewußtwerdung der bisher naiv verlaufenen Erzeugung der nächsten Generation.

Aus: Soziologie 1, 2. Aufl. 1956, Stuttgart, S. 258 ff.

Es ist die Großartigkeit der vor-bürgerlichen und vor-marxistischen Überlieferung, daß sie zum Träger der Heilsgeschichte nicht und niemals das Individuum berufen hat, sondern das Spezimen Mensch, also jenes Wesen, in dem Tochter und Mutter, Sohn und Vater, Erbe und Ahn, beide miteinander ringen, um des Geschichtstags mächtig zu werden. Die durch die Zeiten gehende Heilsgeschichte verknüpft Generationen. Nur da geschieht Geschichte, wo solcher Verknüpfung genügend Zeit geopfert wird. Das Ritual dieses Zeitopfers ist der vernünftige Gottesdienst von uns geschichtlichen Wesen. Es umfaßt die Inspiration des Genius, die Verheißungen des Propheten, die Autorität der Lehre und die Gewalt des Ererbten. Diese vier Kräfte greifen hinter die Gegenwart sowohl in Zukunft wie in Vergangenheit hinein und verknüpfen die Zeitgeister mit dem Heilenden Geist.

Die Industrie frißt die angeblichen Erbkräfte der Volkskörper weg. Gegen Nachtschicht hält keine bäuerliche Tradition stand. Leiblich wird Erbfolge nirgends mehr gelebt. Das Generationsproblem muß in den Geist hinübergerettet werden, weil es leiblich täglich weniger inkarnieren darf. Das Denken selber also muß sich als Ackerkrume und Pflanze, als erbfähig und genial, als verheißend und gesetzgebend fassen, statt journalistisch, begrifflich, ideell, zeitlos und rational.

Aus: Thesen für eine Arbeitstagung in der Evang. Akademie Arnoldshain, 1957.

Das Individuum, so wie es Tag für Tag sich fristet, ist geschichtsunfähig. Der Traum der abgelaufenen Epoche, „Ich” als Träger des Geistes meiner Zeit und Zeitgenosse, sei fähig, umfassende Weltkatastrophen fruchtbringend zu erleben, ist ausgeträumt. Wohl erfahre ich die leibliche Gegenwart dank meiner fünf Sinne. Hingegen den Sinn der letzten vierzig Jahre oder den Sinn der Atombombe — diesen Sinn erleben erst drei oder vier Generationen zusammen; und auch dann erleben sie ihn nur, nachdem eine jede aus ihrer eigenen Zeit heraustritt und mit den anderen Geschlechtern einen einheitlichen Erfahrungskörper freiwillig konstituiert.

Was diese Zeitschriftenreihe bei ihrem Aufbruch zuerst antrifft, ist die tröstliche Tatsache, daß auch in der zerstörten Zeit von heute drei oder sogar vier Generationen gleichzeitig miteinander leben. Jeder einzelne Mensch selber durchläuft selber drei, vier scharf unterschiedene Lebensabschnitte. Lassen wir zu jeder geschichtlichen Not mehr als eine Generation zu Worte kommen. Denn die Vieldimensionalität aller Geschichte drängt ans Licht und die Unvereinbarkeit aller bloßen Zeitalter muß diese Vieldimensionalität deutlich machen. Die immer anwesende Mehrzahl der Generationen – ja sogar der Epochen - soll mobilisiert werden, damit wir geschichtsfähig werden.

Aus der „Einladung zur Zeitbuchreihe EPOCHE“, Käthe Vogt Verlag, Berlin 1957 (in dieser Reihe soll jeweils die Position mindestens zweier Generationen zu brennenden Fragen unserer Zeit zur Sprache kommen).

Das Zentrum des Menschentums liegt nicht in einer abstrakten Überzeugung oder einem stählernen Willen. Kern unseres Menschseins ist das tiefe Vertrauen, daß uns Phase zu Phase und Alter zu Alter inmitten der uns umgebenden Düsternis geleitet und uns mit wachsender Verehrung die „Metamorphose” in unserer Natur entdecken läßt. Wenn wir den Menschen in seiner Realität organisieren wollen, dann müssen wir in unsere Rechnungen die organischen Veränderungen bei einem Menschen einbeziehen, die Änderungen in seinen Überzeugungen und Ideen, in seinem wirtschaftlichen Geschmack und seinen Werten. Es ist kein angemessenes Ideal, jeden für alle Zeit an ein und denselben Platz zu stellen. Erst den vielen Gestalten entsteigt die volle menschliche Gestalt im Laufe der Zeit, aus den siegreich bestandenen Zeiten seines Lebenslaufs.

Aus: The Multiformity of Man, deutsch 1955: Der unbezahlbare Mensch, Berlin.

Die Auflösung der Familie, die Verhöhnung der Kirche, Experimentierhaltung zu allen Leidenschaften werden von jedem Menschen durchlebt, auf der Lebensstation, wo er zwischen Ursprung und Herkunft einerseits, begeisterter Hingabe andererseits, zwischen Elternhaus und eigener Wahlheimat von allen Versuchungen heimgesucht wird. Dieser Mensch ist nicht mehr daheim und noch nicht daheim. Der jugendliche Mensch vor der Ideenreife ist biologisch die Grundlage der proletarischen Seelenhaltung. Diesen Menschen verabsolutiert die Russische Revolution für ihre Gefolgschaft. Dieser Werdende, der dem kapitalistischen Europa flucht und gleichzeitig von Europas technischen, organisatorischen, finanziellen Krediten lebt, entspricht ja ganz dem Sohn, der der väterlichen Gewalt flucht, während er vom Vater ausgehalten wird. Er flucht ihr also, um aus ihr heraustreten und ihr entwachsen zu können.

Aber es ist ein ewig Menschliches, das hier im Russen weltgeschichtliche Gestalt gewinnt. Es geht bei diesen Volkscharakteren um ein Zuendedenken und ein Zuendeschaffen des Wesens Mensch. In sechs großen Geschichtsabsätzen ist der Mensch in Europa, den wir Europäer nennen; erschaffen worden. Sechsmal hat eine große Revolution diesen Menschen ergänzt. Die Dialektik der Revolutionen ist die geschichtlichen Ökonomie: in dem Haushalt dieses Kraftfeldes dienen alle Sprachen des Geistes und alle Mittel der Materie nur dazu, die Seele des Menschen in immer neue Gestalten hineinzuprägen und zu verkörpern, bis der Mensch geschaffen sei, in dem sich die Schöpfung vollendet.

Aus: Die Europäischen Revolutionen, 2. Aufl., Stuttgart 1951, Seite 542 ff.

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