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Rosenstock-Huessy: Europas Amerika und Amerikas Europa (1963)

Lehrjahre einer Atlantischen Gemeinschaft1

Mein Thema empfehle ich Ihnen als ein Thema über lebendige Zeit. Ich möchte Sie dringend warnen, es in der Geographie oder etwa in der Geo­politik zu suchen. Die Namen Amerika und Europa stehen für mich nicht auf einer Landkarte, sondern es sind Zeitkörper, die atmen, seufzen, ster­ben können, sie gehören auch nicht in die unvorstellbaren Zeitdimensionen der modernen Physiker, die mit Begriffen wie 1/1000000000 sec. oder 100 000 000 Jahre umgehen, sondern in unsere eigenen Zeitvorstellungen. Wir Menschen können im Grunde nur wissen, was es heißt, dreißig oder siebzig oder auch hundert Jahre zu leben. Schon in dieser unserer eigenen Existenz werden wir von Überraschung zu Überraschung geführt. Mit Blitz, Donner, Verwandlung, wie beim Theatermärchen, verändert sich plötzlich die Szene, und nun befindet sich auf einen Schlag in einer ganz neuen Umgebung, ohne zu wissen, wie man dorthin gekommen ist.

So ist es mit den Ländern; so ist es mit den Erdteilen. Daß dieser Erdteil Europa uns nach den Verwüstungen eines zweiten Weltkrieges noch alle würde beherbergen können und daß Europa sogar eine Ansicht von Amerika hat - wer hätte das im Jahre 1945 wohl geglaubt? Aber dieses „Blitz, Donner, Verwandlung” hat offenhar eine befruchtende Wirkung gehabt. Die meisten von Ihnen können sich gar nicht mehr daran erinnern, daß die Amerikaner einmal ihre Kriegsgegner gewesen sind, so wie umgekehrt die Amerikaner sich kaum noch daran erinnern, daß sie einmal ihre Männer und Söhne nach Europa in den Krieg geschickt haben. Sie fanden das sehr sinnlos.

Amerika — offenes Land

Das ist das erste, was ich vom Verhältnis zwischen Europa und Amerika sagen möchte: die Amerikaner sind immer davon ausgegangen, daß die Europäer schon da sind und daß man praktisch nicht anderes tun kann als auszuwandern. Aber ich möchte Ihnen auch zeigen, daß es bei dieser Auswanderungsbewegung nicht um eine Auswanderung von „Europa” nach „Amerika” ging.

Die Europäer hatten von Amerika zunächst ein negatives Wissen. Sie wußten, daß es noch kein Land sei. Amerika war ein offenes Gebiet, in das Menschen einströmten, und es war ein ganz anderes Gebiet als das gesamte Europa, das damals bis zum Ural reichte; denn nach den Landkarten, nach denen ich Geographie gelernt habe, gehörte Rußland bis zum Ural zu Europa; dieses Europa am Ural war gottesfürchtiger als Paris oder Braunschweig. Und was bedeutete im Jahre 1907 Amerika für einen Einwohner dieses Europa?

„Der Amerikanische Idealismus”, schrieb damals der Europäer Maxim Gorki, „ist nichts als der übernaive Optimismus einer Menge bloßer Individuen, die noch nicht die Schauspiele und Tragödien erfahren haben, welche in ihrer Gesamtheit als die Geschichte eines Volkes bekannt sind.”

Dieser Ausspruch zeigt, daß sich damals in Amerika noch keine einheitliche Struktur gebildet hatte, die alle Narben und alle Wunden und alle Segnungen des geschichtlichen Lebens gemeinsam auf einen durchgehenden, wachsenden Baum der Erlebnisse und der Geschichte bezieht. Ich könnte auch sagen, für Gorki war Amerika ein Gebiet, in dem zwar jeder einzelne seine Geschichte erlebte, in dem es aber eine amerikanische Geschichte noch nicht gab.

… und Land der Zuflucht

Es ist gleichfalls falsch, demgegenüber von „den Europäern” zu sprechen. Die 26 Millionen Auswanderer, die während des 19. Jahrhunderts in die Neue Welt übersetzten, sind nicht aus Europa ausgewandert, sondern aus Kornthal oder aus Niederschlesien oder aus Positano.

Die erste Schicht der Europäer, die nach Amerika gekommen ist, waren Gemeindemitglieder, die aus Glaubensgründen auswanderten. Denn Amerika gewährte den einzelnen Dörfern und Städten Religionsschutz. Die letzte dieser aus Glaubensgründen ausgewanderten Gruppen kam im Jahre 1839 herüber. Sie hatte sich der Willkür eines Friedrich Wilhelms III. entzogen. Der hatte sich in den Kopf gesetzt, daß die Landeskirche von Preußen nach seinem Herzen tanzen und musizieren sollte. Diese Altlutheraner luden ihre Familien und ihre bewegliche Habe auf Spreekähne, und so machten sie sich, Kirchenlieder singend, am Berliner Schloß vorbeifahrend auf den Weg. In Buffalo gründeten sie eine neue Synode unter ihrem Führer, der dann noch dreißig Jahre lang für sie gesorgt hat. Das ist für die Amerikaner Europa.

Danach wandte sich das Blatt. Es kamen die ersten Auswanderungen nach Amerika aus wirtschaftlichen Gründen. Gerhart Hauptmann hat das in den „Webern” geschildert. Dorf um Dorf, Stadt um Stadt, Landschaft um Landschaft lösten ihre ökonomischen Probleme - von 1840 angefangen bis etwa 1921 — im großen durch Auswanderung nach Amerika. Die Auswanderung war so stark, daß es zum Beispiel eine eigene Schiffahrts­linie Positano/New York gab. Und noch heute ist die Bindung dieses Ortes an Amerika fast stärker als an Norditalien, denn die Menschen in Positano hatten bis 1945 zwar verwandtschaftliche Beziehungen nach New York, aber noch keine nach Mailand oder Florenz oder Venedig.

So sieht in Wirklichkeit die Geschichte der Menschheit aus, und nicht, wie man meistens lesen kann: deutsche Geschichte — soundsoviel Tausend von Deutschland nach Amerika ausgewandert. Die Menschen sind nicht aus Deutschland ausgewandert, sondern aus ihrem Heimatort, und Deutschland mußte ihnen gleichgültig bleiben, weil es versagte. Solange man nur in großen geopolitischen Klumpen denkt, wird man die Seele Amerikas und die Seele der Auswanderer und die Seele der zurück­gebliebenen Europäer mißhandeln.

Ein Jahrhundert besteht auch nicht einfach aus hundertmal 365 Tagen. Es ist das Leben der Großeltern, der Väter und Mütter und der Enkel. Mit Statistiken läßt sich das nicht erfassen. Da gibt es oberschlesische Familien, von denen wanderte ein Sohn nach Amerika aus, einer ging nach Berlin, einer kam als Bergarbeiter ins Ruhrgebiet, und alle blieben sie eine Familie und gründeten neue Familien. Die Gemeinsamkeit dieser drei Familien ist in keinem Lehrbuch zu finden, weil Bücher nach dieser toten Idee der Landkarte aufgeteilt sind. Der Raum beherrscht sie alle. Der Raum aber ist Heidentum, ist Götzendienst.

Auch in Amerika sind diese Menschen nicht in den Raum gekommen, son­dern in die Freiheit. Amerika ist nicht ein Land mit großen Städten, son­dern es ist ein Land der Zuflucht. Nehmen Sie also bitte die Europäer, die nach Amerika gegangen sind, nach ihren einzelnen ethnischen oder religiösen Gruppen und sagen Sie nicht: die kamen aus Europa! Das hat es gerade nicht gegeben.

Vor einem Homer der Weltkriege?

Es ist das Ereignis der letzten fünfzig Jahre, daß man erst jetzt von Amerika her anfängt, für Europa eine gemeinsame Benennung zu suchen, wo man bisher nur von Deutschen oder Schweizern oder Schweden ge­sprochen hat. Jetzt gibt es ein Europa. Das hat aber nicht der Marshall­plan ausgelöst, sondern für die Amerikaner entstand Europa aus ihrer Verzagtheit. Sie wollten einen Erdteil, von dem sie glaubten, daß sie ihn hinter sich gelassen hätten, nicht im Stich lassen. Er enthielt ja ihre Hei­mat, ihren Ursprung. So ist das heutige zweite Werden Europas ein Prozeß, an dem die Europäer geringeren Anteil haben als die Amerika­ner. Auch de Gaulle und Adenauer haben sich im Schatten des Titanen Amerika geeinigt.

Europa ist zwar ein alter Name; Karl der Große hat hier in Frankfurt von Europa geredet, bevor er noch Romkaiser war. Aber 1945 war er verwirkt. Europa hatte Selbstmord begangen. Wir sind mitten in der griechischen Tragödie, wenn Sie einmal für Christus: Agamemnon, und für Europa: Klytämnestra setzen. Es ist kein Spiel, das zu tun, denn nur poetisch überwindet unsere Seele ihre gräßlichen Erinnerungen; viel wichtiger als Gipfelkonferenzen wäre ein neuer Homer, der die beiden Weltkriege und den zwanzigjährigen Waffenstillstand zwischen ihnen besänge. Da stünden dann die Russen als der erboste Sohn Orestos und Amerika als die mitleidige Schwester Iphigenie; Rächer ist der ergrimmte Sohn, weil Europa das Wehen des Weltkrieges nicht hörte. Mit ihrer „Care“ aber versuchte Iphigenie die Wunden zu verbinden. Es gab einen Moment, wo Europa ermordet war und nur noch in den Herzen seiner Abkömmlinge lebte, der Russen und der Amerikaner. Soviel ich mich erinnere, war das 1945 der Fall. Der nächste Homer wird es besingen.

Unstillbares Heimweh

Das Europa, das die Amerikaner ins Leben zurückgerufen haben, ist ein neues Europa, eine Projektion aus den Tochterländern. Diese Auswan­derer haben nämlich etwas gemeinsam: Aus welchen Gründen immer sie in Amerika einwanderten — ob aus wirtschaftlicher Not, oder weil sie silberne Löffel gestohlen hatten, oder weil sie ihren Glauben verteidi­gen wollten — sie hatten Heimweh. Sie haben etwas aufgeben müssen oder aufgeben wollen, ohne es zu verwerfen, sie fanden das, was sie zurückließen, sogar sehr schön. Das ist gar nichts Sentimentales, sondern eine ungeheuere Kraft. Dies Heimweh bedeutet nämlich, daß man das, wonach man Heimweh hat, nicht untergehen lassen kann und will. Und weil alle Amerikaner Heimweh nach Europa haben, sind sie zweimal in den Krieg gezogen. Dieses Europa sollte weiterbestehen.

Heimweh hat nun eine sehr merkwürdige Eigenschaft: es konserviert. Es soll alles so bestehen bleiben, wie man es in der Erinnerung hat. Wer Heimweh hat, antiquiert das Objekt seiner Sehnsucht, hält den Gegen­stand seiner Sehnsucht dort fest, wo er ihn aufgeben mußte und erlaubt ihm nicht, sich zu verändern.

Die Europäer hingegen haben Amerika sehr oft für einen Mülleimer ge­halten, aus dem ab und zu ein Scheck kommt.

Beides ist ein großes Unglück. Amerika ist kein Mülleimer, und Europa hat das Recht, seine eigenen Lebensformen zu ändern. Es ist nicht gut, wenn zuviel Heimweh von außen die unzerstört gebliebene Universität Heidelberg für das Ziel aller Wünsche erklärt. Und es ist nicht gut, wenn die Bürger Europas nur auf die Goldverluste der USA starren, so als seien wir nur wegen des Dollars interessant.

Ein großer vielstimmiger Rhythmus

Freilich schien es einen Augenblick lang so, als ob Europa die Vergangen­heit repräsentieren dürfte und Amerika die Zukunft. Technisch, geistig und geographisch erwartete man von Amerika die Zukunft und begnügte sich in Europa mit der Pflege seiner Traditionen. Aber die Zeiten des Lebens lassen sich nicht aufteilen auf ein Land mit der Zukunft und ein anderes mit der Vergangenheit. Wenn Menschen, Völker, Erdteile in eine gemeinsame Geschichte eintreten, dann müssen sie in einen gemein­samen Rhythmus des Geschehens eintreten. Denn Leben heißt, sich be­wegen, atmen, Erfahrungen sammeln, heißt: gleich-zeitig werden mit allen, die uns lieben.

Seit dem ersten Weltkrieg hat ein solcher gemeinsamer Rhythmus zwi­schen Amerika und Europa tatsächlich bestanden, wenn auch in unerwar­teter Form. In der Erinnerung hat das Jahr 1929 für den Amerikaner die gleiche Bedeutung wie für Sie das Jahr 1914 oder 1918. Im Jahre 1929 gingen mit einem Schlage zwei Drittel aller kapitalisierten Vermögen in den Vereinigten Staaten zugrunde. Man spricht in Amerika von der Zeit „before the depression“ und „after the depression“, so wie es hier heißt „vor dem Krieg“ oder „nach dem Krieg“. So wird dieselbe Sache, von einer anderen Seite aus gesehen, zur amerikanischen Erfahrung. Auch hier hätte man die Weltwirtschaftskrise lieber nicht mit dem verlorenen Kriege zusammenbringen sollen und dann versuchen, auf Grund des verlorenen Krieges die Wirtschaftskrise zu bekämpfen. Alles Unglück entstand in Deutschland aus dem Unvermögen, beide Dinge zu trennen. Die Teilung in Pankow und Bonn hat das Weimarer Regime verhindert, und es hätte sich gelohnt, schon 1929 durch Dienste diese Einheit zu retten. Im Hitlerrausch wurde die 1918 gerettete Einheit weggeworfen. Dadurch ist ihre Aufgabe schwerer zu lösen, aber sie ist unverändert. Den Rausch von Krieg und Sieg konnte es in Amerika gar nicht geben, weil man dort schon längst wußte, daß Siege mit militärischen Mitteln heute nicht mehr zu erfechten sind.

Die Amerikaner sind kein pazifisches Volk, sondern sie sind der Zukunft zugewandt. Da seit hundert Jahren sich die gesamten Anstrengungen der Menschheit darauf konzentrieren, die Grenzen zu überwinden und an die Stelle der agrarischen Hauswirtschaft des Einzelbauern eine Weltwirt­schaft zu setzen, können sie auch die sogenannte Nationalökonomie nicht mehr ernst nehmen, die noch immer besagt, die Ökonomie gehört mit der Nation oder mit dem Staat zusammen. In Deutschland ist man leider noch nicht soweit.

Insofern ist der Rhythmus Amerikas ein anderer als der der Europäer. Er ist schon auf den Zusammenklang der Vielen ausgerichtet. Der ameri­kanische Präsident hat schneller als die europäischen Staatsmänner, die in ihrer eigenen großen Angst befangen sind, diesen neuen Rhythmus, diese Polyphonie, vernommen. Er hat es sehr schön in einer Rede in North-Carolina ausgesprochen, daß die Zeit der rein amerikanischen Lösungen vorbei sei, daß Geduld und noch einmal Geduld die einzige große Tu­gend sei, die heute von einem Amerikaner verlangt werde.

Die Menschen können nicht alle nach demselben Rhythmus leben. Wir sind darauf angewiesen, daß die verschiedenen Nationen ihren ver­schiedenen Rhythmus haben. Ohne diese Polyphonie ist der Tod unser Teil. Auch unsere Organe in unserem eigenen Leibe müssen verschieden schnell reagieren und sind nicht auf dieselbe Wellenlänge angesetzt. Gewisse Reize müssen schnell und andere müssen langsam ausgetragen werden. Das Wesen des Lebens ist diese Kontrapunktik, die Gegenpoligkeit von Langsam und Schnell.

Heute sind diese Gesetze der seelischen Vielfalt noch unerforscht. Viel­leicht verstehen Sie aus diesen Vergleichen aber, daß man Amerika und Europa nicht auf der Landkarte suchen soll.

Wo aber soll man sie suchen? Wo ist dieser Zusammenklang der Sphären vielleicht hörbar? Es gibt ein Gesetz, das gilt für alle Harmonie, es gilt auch für die Völker. Völker sind genau wie jeder einzelne nur lebendig, wenn sie nicht selfcentered sind, nicht den Mittelpunkt in sich selber sehen. Wenn wir aufhören, von Europa und Amerika zu sprechen und anfangen, von der Atlantis zu sprechen, wenn Amerika nicht mehr auf Europa star­ren wird und Europa nicht mehr auf Amerika, dann können wir zu der erstrebten Gemeinsamkeit kommen, dann werden wir ihn finden, den unbeschreibbaren, nur hörbaren, nur fühlbaren, nur taktmäßig wahr­nehmbaren Mittelpunkt.

Von der Seite Amerikas gebiert ihn das Heimweh. Was aber könnte den geistigen Hochmut der Europäer so überwinden, daß in ihnen für Amerika seelisch Raum wird? Denn sonst gibt es die atlantische Gemeinschaft nie. Nun, kürzlich starb unter ihnen ein Industrieller, der die drei machtvoll­sten deutschen Theologen zu Vorfahren hatte. Das waren wahre Ent­decker gewesen; sie hatten nämlich neu den Zukunftscharakter des Glau­bens, hatten die Eschatologie wieder entdeckt. Der Enkel hat diese Ent­deckerfreude aus der Theologie ins Leben getragen. Die Amerikaner wa­ren hart gegen ihn, aber er zeigte mir verschämt als seine Meinung die Schrift: „Kleine Liebe zu Amerika.“ Den liebenswerten Kontrapunkt über die Atlantis wird es nur geben, wenn Sie aufhören zu glauben, nur Columbus habe Amerika zu entdecken gehabt. Jeder von ihnen kann es entdecken. Die atlantische Gemeinschaft wird ins Leben treten, wenn sich Heimweh und Entdeckerfreude eines Tages die Waage halten.

„Europas Amerika und Amerikas Europa” als PDF-Scan

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  1. Auszug aus einer Ansprache auf einer gemeinsamen Veranstaltung der Wipog mit dem Amerika-Haus Frankfurt und der Europa-Union am 29. März 1962 in Frankfurt am Main. Gekürzt