Logo Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft Unterwegs zu einer planetarischen Solidarität Menü

Rosenstock-Huessy: Die Weltteile (1917)

Seit mehr als 100 Jahren hat die Menschheit fast vollkommen vergessen, über die Weltteile zu philosophieren; doch traten gerade in dieser Zeit die aussereuropäischen Weltteile in die Geschichte ein. Vorher waren die anderen Erdteile nur geographische und ethnologische Grössen gewesen und in diesen Richtungen bewegte sich auch das Interesse an ihnen. Im 19. Jahrhundert wurden sie historisch und büssten damit das naive Interesse ein, während ein neues noch nicht heranwuchs. Die Zugehörigkeit zur Geschichte ist ein passives Geschehnis, das sich erst ins Active weiterentwickelt, sobald die geschichtliche Zugehörigkeit politisch wird; das findet erst mit dem gegenwärtigen Kriege statt, der die aussereuropäischen Weltteile von dem Zustand, Objecte der europäischen Politik zu sein, zu dem Zustand eigener Teilnahme an der Politik führte und damit die Weltteile zu handelnden Personen erhob. Die Weltteile sind heute nicht mehr Handelsobjekte, sondern freiberechtigte Wesen, die selbst über ihr Schicksal verfügen; und hiervon soll erzählt werden.

Europäisch war Grundschauplatz und Wesen des gegenwärtigen Krieges, europäisch war auch seine Seele. Das durch den Krieg zerrissene Europa ist nach dem Jahrhundert, das einmal das Jahrhundert der einzelnen Nationen heissen wird, zum erstenmal wieder “Europa”, geeint durch Schicksal und Inhalt des Krieges, einheitlich auch durch das Erlebnis des Kriegsteilnehmers, geschlossen durch das ausschliessliche Walten des Schicksals in Europa, das eine scharfe Trennungslinie zwischen Europa und Aussereuropa zieht.

Europäisch war die Kultur vor dem Kriege, europäisch ist die Politik der Erde nach ihm. Vor dem Kriege herrschte die Weltpolitik, der Politik der ferneren Frage; die Fragen der Politik hiessen etwa: Ostasien, Marocco, Persien, Mittelamerika, Südsee. Hat man schon bemerkt, dass diese fernen Fragen im Kriege entweder verschwunden oder zu kleinen Fragen herabsanken? Dafür sind die vorher nur inneneuropäischen Probleme des Balkans und des Mittelmeers, der nur zwischen einzelnen Staaten spielenden Fragen Elsass-Lotharingen und der Oesterreich-ungarischen Grenzen, in die höchstens in einem einzigen Staate innenpolitisch aufgeworfen oder überhaupt gar nicht bestehenden Fragen Irlands, Polens, der baltischen Provinzen und B… zu grossen … waren, auch der der Völker der Erde von einem Ende zum anderen bewegt worden und für das die Völker der Erde von einem Ende zum anderen bluten. Auf den weltpolitisch so still gewesenen Gefilden Ostfrankreichs und des “neutralen” Belgiens vereinigten sich die Völker des Erdbodens und warfen ihre Leiber in den Streit der Menschen.

Es ist auf die lange unbedingt centrifugale Bewegung des vorangegangenen Jahrhunderts ein Rückschlag, eine eine centripedale Bewegung eingetreten. Wir stehen am Anfang einer rückläufigen Bewegung der ganzen colonialen Epoche der Menschheit. Damit tritt eine Wandlung in dem Verhältnis der Weltteile zu einander ein, ja sie verhalten sich von nun an erst zu einander wie Weltteile; die anderen Erdteile stehen nun zu Europa ebenso wie bis jetzt nur Europa zu ihnen. Die Welt kennt nunmehr auch eine europäische Frage, die früher nie existiert hatte; noch nie war eine politische Frage in der neueren Geschichte so schwer und so voll Leidenschaft gewesen, wie diese neue Frage.

Da ist zuerst die Fragwürdigkeit Europas in der Versorgungsfrage; mit dem Krieg entstanden, wird sie ihn überdauern; da ist ferner, nachdem sich die Nationalstaaten ein Jahrhundert lang nur in sich selbst entwickelt und die anderen Weltteile als die Kloaken für ihre überschüssigen Kräfte benutzt hatten, die …. überlastete Nationalitätenfrage, die durch die Lösungen, die der Krieg ihr zunächst geben wird, nicht zum Schweigen kommen wird.

Europa bisher als Mittelpunkt der Erde, als Ausgangspolitik aller politischen Bewegungen, als Kräftecentrum aller geschichtlichen Kräfte und daher bisher mehr und zugleich weniger als ein Erdteil, selber ein solcher. Europa, das immer nur Subjekt, eine Summe von Subjekten gewesen war, wird nunmehr auch Objekt, eine Summe von Objekten. Unsere gesamten Vorstellungen über die Lebenskraft und die Lebensweise der Staaten, gebildet nach dem Urbild der centrifugalen Staatsbewegungen, wird über den Haufen geworfen. Ein zweites Centrum der Erde entsteht und dieses liegt nicht räumlich gebunden in einem Teil der Erde, sondern in dem Verhältnis aller zu einander, in der erdenbewohnenden Menschheit als solcher; und die Geschichte wird von dem Kräftespiel das sich abspielen wird, von nun an bestimmt werden; eine für uns augenblicklich allen Prophezeiungen spottenden Geschichte. Europa’s Weltteilwerdung entscheidet auch definitiv über den Weltteilcharakter der anderen Erdteile. Bis jetzt wohl Teile der Erde, hatten sie noch nicht die aktiven Eigenschaften gezeigt, die dem Eigentlichen Weltteile eignen. Jetzt aber werden sie activ, da Europa seine aussereuropäische Politk, durch die sie gebannt waren, zurückstellte und eine rein europuaische Politik auf den Schauplatz bringt; an dieser europäischen Politik sind die anderen Weltteile numehr selber beteiligt. Den Zutritt zur europäischen Politik, der die Pforte zur Politik überhaupt öffnet, erstreiten sich von anderen Weltteilen die in der bisherigen Weltpolitik Europas vordergründigen Erdteile Asien und Amerika. Beide sind obschon sie an der Grenze des Krieges verblieben, doch nicht blosse Zuschauer; sie entdecken in ihm ihre europäische Bestimmung, ihre europäische Interessiertheit. Indem Europa Objekt der Politik wird (die europäische Frage), wird die Weltpolitik, die bisher die Welt ohne Europa betraf, auf Europa ausgedehnt und dadurch die aussereuropäischen Staaten zu Mitträgern der Weltpolitik gemacht. Die Grenze zwischen europäischer und Weltpolitik ist gefallen. Der centrifugalen Bewegungsrichtung folgt eine centripedale; es ist, als hätte sich Europa darauf besonnen, dass es nicht ins Weite schweifen müsse, um Stoff zur Weltpolitik und zur Weltgeschichte zu finden.

Im Einzelnen bestimmt sich der Anteil der anderen Weltteile so, dass Asien der centripedalen Bewegung Europas ein Veto entgegensetzte und das ist um so entscheidender, als Japan, der führenden Staat Asiens, keine Kolonie ist, also kein Produkt der centrifugalen Epoche. Amerika, das Hauptprodukt der centrifugalen Zeit Europas, schliesst sich dem Vorgehen Asiens, wenn auch an einem anderen Punkte an. Japans Veto geht gegen die centrifugale Bewegung als solche, die naive Selbstverständlichkeit der Kolonisation, die von Deutschland, das nicht mehr zur centrifugalen Zeit der Geschichte gehört, in sinnloser Nachahmung am Schluss der kolonialen Epoche auch begonnen wurde; Amerikas Veto richtet sich gegen die europäische Usurpation der Wege der centrifugalen Politik, gegen die Herrschaft der Meere. Um letzteres zu verstehen, muss man sich klar machen, dass das englische Seerecht, das in Amerika durchaus einen Gegner hat, nur Deutschland, als einziges Land, aus dem Weltverkehr und damit aus dem Verhältnis der Weltteile ausschloss, während unser U-bootkrieg, dessen Gründe für Amerika ganz gleichgültig sind, ganz Europa aus dem freien Nebeneinander der Weltteile herausreisst und damit die Freiheit der Weltteile gegen einander verneint. Das Interesse und die Teilnahme Asiens und Japans am Krieg entsteht mit ihrem Willen, die centrifugale Bewegung der europäischen Politik zu zerstören und geht über diesen Zweck nicht hinaus. An der Bucht von Tsinktau und mit der amerikanischen Kriegserklärung gegen den deutschen U-bootkrieg erhielt Europas zentrifugale Epoche ihren Todesstoss; die weltgeschichtliche Wandlung, von der wir sprachen hat in den beiden anderen Weltteilen die Henker ihrer Opfer gefunden.

Hiernach werden sich Asien und Amerika verschieden um Europa gruppieren. In beiden haben wir die Welt ohne Europa, nämlich in Asien die Welt vor Europa, in Amerika die Welt nach Europa. Die zentrifugal Bewegung Europas konnte Asien nur an-, nicht auffressen, während sie in Amerika, das durch sie entstand, zum Umschlag in sich selbst kam. Asien ist keine Wider… des bisherigen Europas, wohl aber Amerika. Daher kann Europa von Asien nie ersetzt werden, wohl aber wird und muss Amerika versuchen, sich ganz an die Stelle Europas zu setzen. Die gelbe Gefahr besteht nicht, dagegen die europäische Kolonie Amerika bedroht Europa mit Untergang, droht ein zweites Europa zu werden. Daher besteht für Europa nur eine Amerikanische Gefahr. Auch im Kriege zeigt sich das: die “bedrohten Völker Europas”, die ihre Güter wahren sollen, verlieren zwar Kiautschau und werden werden viele Kiautschaus einbüssen, aber Japans Interesse geht über Asien nicht hinaus, es bleibt kontinental gebunden. Amerikas Politik dagegen, aufgerichtet am Willen zum freien Meer, tritt zum mindesten an die europäischen Gestade des Weltmeeres an Europa heran. Als Führer der Welt gegen Europa in der Meeresfrage greift Amerika in die Herrschaft ¨¨ber die Meers entscheidenden Teile des Kontinents hinüber. Zwischen Asien und Europa besteht eine durch Land gebildete Lücke, zwischen Amerika und Europa schlägt der Ozean eine Brücke, auch für die Politik.

Europa, Asien und Amerika sind die drei grossen Weltteile der Zukunft: nur an ihnen vollzieht sich die Weltteilwerdung, die dem augenblicklichen Zeitpunkt, sein Gesicht gibt. Die beiden übrigbleibenden Erdteile haben ein anderes Gesicht. Australien, das ebenso wie Amerika ein Produkt der zentrifugalen Zeit Europas ist, löst sich allerdings zu selbstständiger Eigenexistenz vom europäischem Boden ab, ist aber zu klein und auch zu abliegend, um in den Concern der europäischen Politik, in den Bereich der zukünftigen Weltpolitik einzutreten; kein eigentlicher Baustein und auch kein Baumeister der zukünftigen Geschichte, wird es in sich die Erinnerung an die zentrifugale Zeit mit den Gesetzen der centripedalen vereinigen und so genügend Selbstständigkeit behalten, um ohne Verbindung mit den anderen Weltteilen existieren zu können, - das abgesplitterte Stück der Erde, der Weltteil als isolierter Erdteil. Anders Afrika. Auch sein Schicksal wird ein anderes, aber es wird diese Wandlung nur erreichen, denn es ist weder Teil der voreuropäischen Erde noch Produkt Europas. So bleibt es zu Europa in dem Verhualtnis, Objekt einer centrifugalen Politik Europas zu sein, Kolonialland. Kolonialländer sind aber nur als Staaten Europas und daher ist Afrika soweit es nicht in seinen Küstenländern in Nord und Süd entweder in die europäische Politik oder in die amerikanische Seepolitik verwickelt ist, das Stück der Erde, in dem sich die bisherige Epoche Europas erhalten wird. Mitten zwischen den Trümmern der centrifugalen Epoche und mitten in den Ansätzen zum neuen Erdrund bleiben die Kolonialbauten Europas in Afrika stehen, nur dass sie aus der grossen Politik herausgenommen werden; denn die grosse Politik kann nur zwischen den 3 Hauptweltteilen vor sich gehen; Afrika aber ist für Asien und Amerika schon wegen ihrer eigenen kolonialen Unbedürftigkeit kein Gegenstand ihres Interesses. In Afrika wird daher Europa für sich bleiben und indem seine politischen Probleme sämtlich in dem Rahmen der grossen europäisch-asiatisch-amerikanischen Politik eingebaut werden, eine Politik treiben können, die fern der grossen Politik, nur ihrer eigentlichen Aufgabe, der Kolonisation ?gewidmet werde?. Das wäre eine … gemeinsame Aufgabe und wenn irgendwo so wird es in Afrika sein können, dass das entzweite Europa ein … gemeinsamer Arbeit besitzen wird. In diesem Zusammenhang gewinntdie von dem deutschen Kolonialsekretär …. neulich vorgeschlagene Neuaufteilung Afrikas besondere Bedeutung. Es war eine weltgeschichtliche …. vielleicht dem …. selbst in ihrer ganzen Bedeutung nicht bewußt. Afrika ist heute noch das Land, das kolonisierbar ist, das die Eigenschaft aller Kolonien hat, dass sein Boden ein …Wert, eine Neuaufteilung auf Grund von Vereinbarungen daher möglich wäre. Europa wäre hier mit sich allein; Amerika und Asien würden sich an der afrikanischen Diskussion nicht beteiligen. Afrika wird Europa “gehören” und wird deshalb an ihm hängen, weil es auf afrikanischem Boden das bleiben kann, was es vor Auftreten der europäischen Frage war. Die Lösung der afrikanischen Frage wird daher uns zeigen, wer im alten Europa, soweit es noch ein altes Europa geben wird, der Herr sein wird. Setzen wir die Neuaufteilung durch, so setzen wir die deutsche Vorherrschaft durch, so weit die europäische Frage eine Vormachtstellung noch möglich macht. Bleibt die alte Verteilung oder auch von ihr nur Teile, so ist England, das Hauptland der alten Epoche, Vormacht geblieben. Deshalb geht der Krieg, seitdem die europäischen Fragen in ein Stadium der Entschiedenheit eingetreten waren, nur noch um Afrika und damit allerdings zugleich um die Zukunft Europas. Wie aber auch diese Frage sich entscheiden wird, die Vormachtstellung einer Macht in Europa bleibt beschränkt; denn die europäische Frage, die Nationalitätenfrage zur Weltfrage erhoben, setzt den Anteil der anderen Weltteile an der europäischen Politik und damit die Bündnismöglichkeit des in Europa Schwächeren mit der aussereuropäischen Macht. Die Weltpolitik geht einem Gleichgewicht der Mächte entgegen, das an das Gleichgewicht der europäischen Kontentinalmächte … Angedenkens aus dem 18. Jahrhundert uns erinnert, aber anstatt sich den europäischen Kontinent zu beschränken und damit England draussen zu lassen, die gesamte grosse Politik betreffen wird. Das englische balance of power wird zum Henker der englischen Weltmacht, aber schafft auch keine anderen Alleinherrschaften der Erde. Politisch-geographisch, zu Land und zu See und ebenso wirtschaftlich ist ein Gleichgewicht der Völker im Entstehen begriffen; dies wird die neue Menschheit geben; auf die Epoche der Weltpolitik wird die Weltteilpolitik folgen. Jede neue Zeit der Geschichte hat einen Schöpfer, einen der für sie denkt, aber auch für sie … . Dies sind wir Deutschen gegenwärtig. Wir gehören nicht mehr zur kolonialen Epoche der Menschheit, wir haben nur an ihrem Ende noch schnell nachholen wollen, was wir nicht mitgemacht, und haben dadurch einen nur sehr unsicheren Wechsel auf die Zukunft gezogen, aber unsere Bestimmung war uns damals noch nicht erkennbar. Der Krieg … Deutschland als das Land der Mitte, das den Erdring um sich im blutigen Kampfe vereinigt, als den Feind der Welt und damit als den Feind der centrifugalen Epoche der Menschheit, als das Land an dessen Grenzen … Völker der Erde sich ein Rendezvous geben. Mittelpunkt in einem neuen Sinne, der fast passiv klingt, und der allerdings voller …, aber doch das Schöpferische, Neue enthält, weshalb auch Deutschland berufen ist, die neue Rolle Afrikas zu erkennen.

Vergleichen wir den deutschen Kulturimperialismus, den politisch gewordenen Imperialismus Fichtes mit dem englischen Imperialismus, so erkennen wir in diesem den centrifugalen, in jenem den centripedalen. Zivilisierungsimperialismus geht nach draussen, von einem Mittelpunkt aus; Kulturimperialismus zieht an, von überall aussen nach einem Mittelpunkt hin. So entstammt der Geist der jetzt neu einsetzenden Epoche der Geschichte aus Deutschland und das europäische Problem der Menschheit wird daherletzthin immer das Deutsche bleiben. Heute aber ist es verfrüht, die Lösungen, die diesem Problem beschieden sein können, vorauszudenken.

„Die Weltteile” als PDF-Scan