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Rosenstock-Huessy: Die Kirche und die Völker (1930)

Abriß und Überblick.

I. Die Unsterblichkeit der Völker.

Die Kirche verheißt den Menschen den Zugang zum ewigen Leben. Verheißt das Christentum auch den Völkern, aus denen die Christen hervorgepredigt und hervormissioniert werden, das ewige Leben?

Gott hat den Menschen zu seinem Ebenbild geschaffen, „zu seinem Bilde schuf er ihn”. Der Mensch, das ist aber auch das Menschenvolk, das Menschengeschlecht. Wie verhalten sich am Stammbaum des Menschengeschlechtes die einzelnen Völker? Werden sie durch die Kirche aufgeschmolzen, gespalten und sich selbst entzogen, werden sie in das Menschenvolk aufgelöst?

Der Apostel sagt von sich: er habe Gnade und Apostelamt, die Völker zu lehren. Lehrt er die Völker, sich selbst zu überwinden, oder sich selbst zu behaupten? Kein Volke ist seit der Annahme des Christentums vom Erdboden verschwunden, selbst die kleinsten Völkerschaften, die Esten und Letten, Ladiner und Basken haben sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Während ganze Völker der Antike untergegangen sind, wie die Goten am Vesuv, ist kein zum rechten Glauben der Christenheit bekehrtes Volk mehr verschwunden. Es scheint also, als hätten die Völker dieser Erde eine Verheißung. Wenn sie den Menschen, den Gottmenschen in sich hineinlassen, und wenn sie unter sich eine Provinz des Volkes Gottes aufbauen, so gewinnen sie selbst Anteil an dem ewigen Leben und bleiben erhalten deshalb, weil sie sich erneuern lassen.

Aber das geschieht auf dem Wege einer Umstülpung ihres Volksglaubens und ihres Volkstums. Denn aus seiner eigenständigen Grundhaltung, aus dem, was sie Selbständigkeit nennen, werden durch die Bekehrung, durch die Völkertaufe geistige Abhängigkeit und Unselbständigkeit. Es ist keine Kleinigkeit, aus dem einzelnen Volke bewußt zu einem Teil des Menschengeschlechts zu werden. Die Völker sträuben sich dagegen, und immer wieder suchen sie sich selbständig zu machen und wider den Stachel zu löcken. Da scheint es angebracht, einmal den Gang der Kirche durch die Volker in seine einzelnen Wegabschnitte zu zerlegen. Die Kirche hat es nicht immer mit denselben Völkern zu tun, und deshalb kommt die Kirche in verschiedener Gestalt zu den verschiedenen Völkern oder Volkstümern. Die Volkstümer treten unter den Bann und Zauber sehr verschiedener Verführungen und zwar gehen diese Verführungen zu allen Zeiten immer wieder vor sich. Immer wieder will die Verführung sie ihre Tollhaftigkeit vergessen machen. Aber gewisse Verführungen sind doch am ausgeprägtesten in vorchristlicher Zeit; gewisse andere Volksumartungen und -entartungcn werden gerade erst durch das Christentum möglich. Die für die Kirche belangreichen Volksformen sind so noch nie gegliedert worden. Die moderne Soziologie kann aber hier mit Nutzen der Kirchenlehre dienstbar gemacht werden. Wir werden natürlich hier die neue Lehre nur in Umrissen geben können.1

II. Die Masken des Todes.

Die Völker bewohnen die Erde in der Zerstreuung. Ausgewandert und ergossen über den ganzen Erdball, vergißt jedes einzelne Volk zwar nicht seines besonderen Ursprungs in seiner Wandersage, aber es vergißt seiner Sendung aus dem gemeinsamen Mutterschoß der Schöpfung; bis zur Urzeit reicht kein Volksgedächtnis zurück.

Diese Haltung der Völker in der Zerstreuung ist die erste der ewig möglichen Haltungen der Völker. Sie ist heut die sogenannte Rassenhaltung. Früher hieß das der Ahnenkultus, der Blut- und Geblütsstolz; die heutige Form wirkt gegenüber der grandiosen Kraft des Ahnenkultus in den Jahrtausenden der Blutrache nur noch wie eine literarische Totenbeschwörung. Immerhin teilt auch die heutige schwächliche Form Größe und Verwirrung mit ihren stärkeren Vorbildern. Der Rassenwahn ist zugleich Blutrausch und Begeisterung, opferheischend und glaubenentzündend in der Verengung des Göttlichen auf den Fleisch und Blut gewordenen Zusammenhang der menschlichen Art. Der Menschenschlag wird vergöttert und wird isoliert. Mit Menschenschlag muß man Rasse übersetzen. Denn Rasse gibt es nur innerhalb des Gleichen. Es gibt Menschenrassen, Affenrassen, Hunderassen, weil es den Menschen, den Affen, den Hund gibt. Daher ist die größte geistige Grundlegung des Rassenglaubens: ist selbst Gobineaus Essai über die Ungleichartigkeit der Menschenrassen zugleich ein dogmatischer Beweis für die Einheit des Menschengeschlechts. Denn er predigt nur die Ungleichheit und kann sie nur predigen auf dem Urgrund einer Gleichheit, innerhalb deren er die Unterschiede setzt. Allen Analysen liegt eben die Ganzheit zugrunde. Sie wird nur geflissentlich in den Hintergrund geschoben. Entsprechend wird die Vergötterung auch der alten Stammesahnen immer nur auf dem Hintergrund der einen göttlichen Macht gelehrt; der Gott hat viele Göttersöhne erzeugt von sterblichen Frauen; hier ist dieser, dort jener der Göttersöhne dann der Stammvater eines Volkes geworden. Ein solcher Halbgott gibt den Namen den Nachkommen, sie heißen nach ihm für immer. Daß wir Menschen alle den Vatersnamen empfangen, daß wir Patronyme tragen, ist ein Ausdruck des Ahnenkults aus der Stammeszeit der Völker in der Zerstreuung. Ursprünglich hat der ganze Stamm nur einen Namen. Und dieser Name hatte Zaubercharakter. Den Römer- oder den Sachsennamen zu gewinnen oder zu verlieren, wandelt den einzelnen Menschen um. Der ganze Stamm aber ist kraft dieses Namens in Gott geborgen. Er kann nun kraft des Namens nicht verlorengehen. Der Name macht ihn zum Kleinod und Augapfel des Gottes. Der Name des Volkes ist aber der Name des Stammvaters. Und so tritt eine Wendung hin zur Vergangenheit bei allen Stämmen der Antike ein. Der Träger des Namens, der, für den er geschaffen wurde, ist ja tot; aller Stammesglaube will es nur nicht wahr haben, daß der namengebende Held in den Orkus hinabgegangen ist. Der Ahnenkult ist eine Verhüllung des Todes. Alles Stammeswesen, der Totenkult, die Totenbeschwörung, die Ahnenpietät, der Ahnenfluch sind Masken des Todes. Die Bahn, die das erste Stammeshaupt gewandelt ist, soll unverwandelt und unverändert nachgeschritten werden von den Nachkommen. Wie bezeichnend ist schon das Wort „Nachkommen”. Der Menschenschlag ist da, die Rasse ist gezüchtet. Fleisch und Blut glauben die unfehlbaren Erben zu sein, nur weil sie nach und hinterher kommen.

Alle Formen des Stammes- und Abstammungswahns sind Unterfälle dieser Form des Heidentums; Diese Masken des Todes sind die eine Art, in der die Menschenart und das Volkstum sich um den Tod zu betrügen versucht.

Die Wege, auf denen die Kirche diese Masken des Todes zu lüften unternimmt, sind die ersten und ältesten ihrer Missionsgeschichte:

Der Mensch wird nun nicht mehr geboren wie das Tier, denn er wird erst geboren, wenn er seinen Namen unmittelbar von Gott und vor Gott vernimmt. Nicht das Patronym macht den Christenmenschen zum Träger göttlicher Abstammung. Denn die Herkunft entsteht nicht aus der Nachkommenschaft. Die Kirche rechnet die Geburt-für-den-Himmel, d, h. den Todestag; der Todestag tritt an die Stelle des Geburtstages. Die Vollkommenschaft der Sterbestunde tritt an die Stelle der Nachkommenschaft der Geburtsstunde. Advent: Zukunft wird wichtiger als Abkunft.

Das Grab des Osterhelden wird verehrt statt der Geburtsinsel des Apollon. Der Tod tritt vor das Leben. Der perfectus homo tritt seinen Wandel auf Erden an, wenn die Masken, die den Tod verhüllen, gefallen sind.

III. Die Festungen des Lebens.

Die zweite Art völkischen Unglaubens weicht von der Form des Stammes erheblich ab. Das Mittel, Gott auszuweichen, liegt hier nicht in der Macht der eigenen Vergangenheit. Deshalb sollen hier nicht Masken des Todes die Qual des Lebens verhüllen. Nein, das Volk kann auch auf andere Weise das Leben rechtzeitig, solange es noch nicht entflohen ist, verstärken. Das Volk kann, statt wie die Stämme die gräulichen Masken der Zauberer und Medizinmänner anzumalen, Festungen des Lebens erbauen. Mit Burgen und Tempeln, Märkten und Häusern gräbt das Volk eine Runenschrift in die Erde. Es verewigt sich auf diese Weise. Der einmal erfochtene Sieg wird in der Akropolis, in der Siegesburg dauernd der Erde abgerungen. Der alljährliche Zug zum Tempel verklärt die einmal geschehene Offenbarung des göttlichen Gesetzes. Der Friede, den das Volk sich errungen hat, wird auf dem Markte den Fremden zum leichten Güter- und Gedankenaustausch gewährt. Und in den festen Häusern und Höfen verrinnt die alltägliche Arbeit in den festen herrkömmlichen Gleisen.

An die Stelle der Abkunft tritt so in den Ländern irdischer Kultur das Herkommen als die festigende Macht des Lebens. Die Beständigkeit der Erde wird hineingenommen in die Gebrechlichkeit der menschlichen Ordnungen, um sich so zu versteifen und zu verstärken gegen den Einbruch des Todes und der Volkskatastrophen.

Die Häuser, die Kulturbauten eines Volkes verleihen ihm ein erhöhtes Leben. An die Stelle des vergänglichen, flüchtigen Menschenkindes treten Könige und Priester in mächtigen Burgen und Tempeln. An die Stelle des schwächlichen, hilfsbedürftigen Stammesgliedes tritt der machtvoll reiche Kaufmann und Hausherr, dessen Bedürftigkeit durch Gold und Knechte in unerstchöpflichem Reichtum gewandelt zu sein erscheint.

Diese Festungen des Lebens verwandeln alle Schwächen des Volkes in Stärken, aus arm wird reich, aus schwach stark, aus Zerstreuung Sammlung, aus Dunkel helle leuchtende Klarheit.

Aber des Todes und des Gottes, der die Menschen hin zum Tode erschaffen hat, wollen auch die Kulturvölker spotten. Und die Kirche muß auch ihnen begegnen. Den Stämmen hat sie das Haus des Herrn über Leben und Tod, die Grabeskirche gebracht und davor zerstäuben die Masken des Todes. In den Festungen des Lebens muß Christus anders gepredigt werden. Man denke an die Predigt des Paulus in Athen. Das Chaos, das noch den tanzenden Stern gebären kann, muß beschworen werden angesichts der Prunkbauten irdischer Festigkeit. Das Christentum steht im Werden und niemals nur im Sein. Auch aus den geistvollen allzu sichtbaren Münstern des Mittelalters führte der Heilsweg nur in das „unsichtbare Reich” Gottes. Die Kirche selbst mußte „entfestigt”, „unsichtbar” werden. Die Bilder fallen von den Wänden. Sehnsüchtige Musik entreißt die Seele dem Augenblick. Luther „singt” die neue Gemeinde zusammen. Kirchenmission und Grabeskirche erlösen die von den Masken des Todes Befallenen, aber Reich-Gottes-Mission und Predigtkirche erlöst die in den Festungen des Lebens gesicherten Völker.

IV. Die Gestalten unserer Zeitrechnung.

Es gibt aber noch eine dritte Art des Volkstums, die erlösungsbedürftig ist: Denn das Volkstum ist ja nicht in vorchristlicher Artung verblieben. Es verdankt vielmehr gerade dem Christentum selbst seine weitere Prägung und einige seiner Gestaltungen gehören daher ausschließlich unserer, der christlichen Zeitrechnung an.

Die Kirche ist ja selbst eine Gestalt unserer Zeitrechnung, und auf der Voraussetzung des Daseins dieser Kirche haben sich Staat und Gesellschaft des christlichen Zeitalters gestalten können.

Weder Staat noch Gesellschaft hat es ohne oder vor der Kirche geben können. Denn Staat im Sinne der Neuzeit ist nur die Gemeinschaftsordnung eines Erdenteils, der sich in allem abzüglich der Religion souverän gestalten will. Und Gesellschaft ist im Sinne unserer Zeit nur die Ordnung von Wirtschaft und Arbeit, die der ganzen Erde abzüglich von Religion und Staat ein einheitliches Gepräge geben will. Der Staat verdankt seine Schranke der Kirche, er bleibt durch das Christentum außerhalb der sakralkultischen Sphäre und daher in einer gleichartigen Staatenwelt. Denn alle diese Staaten liegen auf diese Weise in einer christlichen Welt! Dem Staate diktiert die Kirche seine Diesseitigkeit, seine Rationalität. Denn rational wird nur das in der Mehrzahl vorhandene, das pluralistische Staatenwesen. Die Gesellschaft aber verdanke umgekehrt der Kirche ihren Singular - daß es nur eine einzige Gesellschaft geben soll und geben kann. Beide, die vielen Staaten und die eine Gesellschaft werden eben durch diese ihre Dialektik mit der Kirche Gegenspieler der Kirche innerhalb unserer Zeitrechnung.

Die Staaten - Carl Schmitt hat das in seiner politischen Theologie fein dargetan - verwenden lauter säkularisierte theologische Begriffe, um ihr weltliches diesseitiges Gebiet auch so glanzvoll auszustatten, wie es die Kirche mit ihrem Reich hat tun können, weil es nicht von dieser Welt war. Vor allen Dingen entlehnen die Staaten der Kirche den Begriff unendlichen Wachstums und heilbringender Vollständigkeit. Sie werden alle imperialistisch, weil sie einen Glauben vorweisen müssen, der sie kirchenebenbürtig macht. Die Staatsvölker werden auf diese Weise alle auserwählte Völker. Die modernen Nationen sind alle mehr oder weniger gut nachgeahmte Völker Israel. Sie beanspruchen alle Gottes Lieblinge zu sein, unvergeßlich, unvergänglich, unverwerfbar. Sie wollen, um ihre Auserwähltheit zu erweisen, gern die ganze Welt verwandeln. Nur sich selber zu wandeln begehren sie nicht mehr. Sie sind eben selber wandelnde Kirchen und Reichgottesprovinzen geworden, ihrer Überzeugung nach; aber in Wahrheit bleiben sie ganz und gar diesseitige Größen.

Die Staaten und die Staats-Nationen sind, gemessen an der Kirche, die ihnen als erste vorangeht, die zweite Gestalt unserer Zeitrechnung. Die Gesellschaft ist die dritte Gestalt. Sie bringt Einheit wie die Kirche, widerstandsloser als die Kirche, nämlich wirklich über das Erdenrund. Sie überrundet und kreist ein kleine und große Völker, sie macht die Völker zu bloßen Filialen des Welthandelshauses Ökumene. Sie uniformiert die Völker durch die Mode, das Radio, den Kino, das Flugzeug usw. Und sie verkettet sie durch Handel und Wirtschaft und Verkehr und Arbeitsteilung zu einer einzigen Ökonomie.

Die zweite und die dritte Gestalt unserer Zeitrechnung verfahren also mit dem Volkstum auf sehr verschiedene Weise. Der Staat peitscht das Volke zu einer Auserwähltheit auf, die in einem exklusiven Imperialismus der Nationen endet. Die Gesellschaft hingegen zapft diesen verheißungsgeschwollenen Nationen das Blut wieder ab, und immer anämischer, immer gespenstischer sehen darnach die angeblich erwählten Nationen aus, sobald man erkennt, wie tagtäglich die Weltwirtschaft mehr und mehr sogar die nationalen Eitelkeiten kommerzialisiert. Die „Nation” wird heute durch die Gesellschaft in ihren Lebensäußerungen ein Handelsartikel. Mit nationalen Rüstungen, mit Volkstrachten, mit Prestigegefühlen, mit Dialekten und mit Literaturen werden gigantische Geschäfte gemacht, Bürokratien gefüttert, Pfründen vergeben, genau wie mit anderen natürlichen Erdproduktcn auch.

Die Völker bleiben so als Schatten ihrer selbst in der modernen Gesellschaft erhalten, nachdem sie in der modernen Staatenwelt zuvor der Kirche eine hemmungslose, für das Christentum tödliche Konkurrenz gemacht hatten. Gegen die vorchristlichen Mächte der Volksart, gegen die Masken des Todes und die Festungen des Lebens, ist die Kirche, die sichtbare und die unsichtbare, stets wirksam geworden; hier kennt sie ja die Feinde und kennt ihre eigenen guten und bewährten Waffen. Die einzige Gefahr, die ihr hier heut noch droht, kommt da von den Kirchenchristen, soweit diese selbst nur Nachkommen oder Kulturbesitzer sein wollen: Das innerkirchliche Heidentum, nämlich der Ahnenkult der bloßen Erben der Bekehrung ist in vielen Christenstämmen und Christenschlägen heut beliebter als die Bekehrung oder die Wiedergeburt; so gibt es auch innerkirchliche „Masken des Todes”. Und der Kulturstolz des Augenmenschen hat auch die Kirchenleute vielfach befallen, daß sie mit herrlichen Münstern und „großen Personen” mehr prahlen als gut ist. Indessen die Selbstreinigung der Kirche von Erbpächtern und Erbbauern, die Herauslösung aus Masken und Festungen erscheint nicht unmöglich.

Schwerer aber ist der Kampf gegen die Erkrankung des Volkstums durch die anderen Gestalten unserer Zeitrechnung, Gesellschaft und Staat. Denn beide haben von der Kirche die Waffen übernommen, die die Kirche gerade gegen das Heidentum der Todesmasken und der Lebensfestungen ins Feld führen konnte: nämlich das Wachstum des Reiches und die Vergeistigung des Lebens:

Blutlos ist die Gesellschaft, milde und kraftlos. In der Gesellschaft werden keine Opfer auf Altären geschlachtet, wie in Indien oder Griechenland.

Unruhig ist der Staat, nicht abgeschlossen und eingemauert wie die antike Polis, nein, aufgeregt missionierend und für das eigene Wesen werbend.

Diesen beiden Gestalten unserer Zeitrechnung müssen daher die Völker durch einen ganz anderen Akt der Mission entrissen werden als den Mächten der alten Geschichte. Unser Überblick soll aber nicht von dieser Veränderung der Missionsmethoden selbst handeln. Er will nur die Diagnose stellen für die verschiedenen Entartungen der Völker; denn die Vorbedingung für die Mission ist, daß man die großen Gegenspieler der Mission kennt und unterscheidet.

V. Die Lücke der heutigen Völkerlehre.

Unsere gesamte Staats- und Gesellschaftslehre seit der Renaissance hat sich bisher bemüht, die Unterschiede der außer- und der innerchristlichen, die Kluft der vor- und der mitchristlichen Lebensmächte zu bagatellisieren. (Vgl. Rosenstock-Wittig „Das Alter der Kirche”, I, 3 ff. das Herz der Welt). Staat war ihr gleich Staat bei Aristoteles und bei Treitschke; Volk wurde gleich Volk gesetzt, Nation gleich Nation. Die Christen haben sich in das Schlepptau dieser humanistischen Identitätslehre nehmen lassen und tatsächlich sich glauben machen, der aus der Kirche entsprungene Staat der christlichen Nation und die antiken heidnischen Gewalten dürften so aufeinander gelegt werden als seien sie kongruent. Die Christen haben damit vor einer unchristlichen und antichristlichen Geschichtslehre kapituliert. Denn die Geschichte der Welt hört natürlich auf Heilsgeschichte zu sein, wenn der Staat von 1930 und die Polis von 600 v. Chr. trotz Christentum dasselbe sind! Das Versiegen der christlichen Mission hängt mit diesem Versiegen des eigenen Geschichtsbildes der Christen gegenüber den Kindern der Welt zusammen. Da man die eigene, die christliche Herkunft der neuen Gegner Staat und Gesellschaft nicht sah, so berannte man sie nur mit den altkirchlichen Mitteln. Und die prallten an den nachchristlichen Gestalten unserer Zeitrechnung einfach ab. Gerade die Innere Mission ist ein solches Gebilde zwischen Glauben an die Heilsgeschichte und Kapitulation vor dem Humanismus.

Dem Humanismus ist es auf diese Weise gelungen, die Kirche blind werden zu lassen gegen den eschatologischen Charakter ihrer beiden Konkurrenten Staat und Gesellschaft! Dort, wo der Stammesglaube nach rückwärts, der Kulturglaube erdenwärts gerichtet waren, dort greifen staatlicher Imperialismus oder Berufungswahn und gesellschaftlicher Utopismus oder Fortschrittswahn bedenkenlos nach dem jüngsten Tag voraus. Staat und Gesellschaft sind hemmungsloser eschatologisch als die Kirche, vergleichbar den Sektierern, ernsten Bibelforschern und dergleichen. Also müssen sie anders missioniert werden als die Ursprungsmythologieen des Stammes und die Sicherungstheorien der Erdkultur. Die Kirche kann also diese Gestalten unserer Zeitrechnung nur durch einen Kampf gegen die schlechte Unendlichkeit und die schlechte Unsterblichkeit, gegen die schlechte Ewigkeit und die schlechte Vollendung missionieren; es ist ihr alter Kampf gegen die eigenen Spaltungen, gegen die Sekten, Chiliasten und Schwärmer, nunmehr zum Weltkampf ausgewachsen, gerichtet wider die wirklichen Mächte dieser Welt.

So gilt es zu unterscheiden: Die Kirche hat vor sich zwei vorchristliche und zwei nachchristliche Heidentümer: als die vorchristlichen erkannten wir den in den Masken des Todes gehüllten Stamm und das in die Festungen des Lebens verschanzte Volk. Beides findet sich natürlich immerdar und also auch heute in Hülle und Fülle auf Erden. Gegen sie hat aber die Kirche heute verhältnismäßig leichtes Spiel.

Schwieriger dagegen sind die Gestalten unserer Zeitrechnung zu durchschauen. Kirche, Staat und Gesellschaft sind diese Gestalten unserer Zeitrechnung. Die Kirche bedarf noch immer der Selbstreinigung gegen das Kirchenvolk, das die Kirche zu einer Festung der Kultur oder zu einem Erbe der Bekehrten herabsetzen will. Sie bedarf aber vor allem der Ruhe (des langen Atems) gegen den imperialistischen Staat, der Blutfülle gegen die blutlos machende Gesellschaft.

Wo sie Schäden der Gesellschaftsmenschheit lindern will, muß sie daher rüchsichtslos andere Mittel anwenden, sie muß dort vielleicht sogar die Mittel empfehlen, die sie aus den Stämmen oder aus der Erdkultur als Hindernisse der Erlösung vertilgt hat! Den blutlosen Gesellschaftsmenschen gilt es zu verleiblichen: Der Christ im Tanz ist hier die Verheißung der Kirche. Ihre Heilsökonomie muß aufstehen gegen die stimmlose, wortlose, lautlose Ökonomik der Gesellschaft.

Die unerhörte Freiheit der Kirche für ihren Feldzug durch die Welt der Völker kann heut nur wiedergewonnen werden, wenn die Entartungen, in die sich die Völker in den verschiedenen Epochen ihres Daseins hineingehen, unterschieden und verschieden beurteilt und beantwortet werden.

Eugen Rosenstock

„Die Kirche und die Völker” als PDF-Scan

  1. Ausgeführt sollen sie den zweiten Band meiner Soziologie bilden (I 1925).