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Rosenstock-Huessy: Die Einheit des menschlichen Schicksals in Kriegsheer und Friedenswirtschaft (1956)

Die Einheit des menschlichen Schicksals in Kriegsheer und Friedenswirtschaft

Rede vor den Offizieren des 2. Lehrganges in Sonthofen, 1956

Es ist sehr unerwartet, dass ich hier vor Ihnen stehe. Ich habe in einem kleinen Kreise von Offizieren in Bonn mein Anliegen und meine Sorge eines weltweiten Dienstes zu erörtern Gelegenheit gehabt und daraus ist dann dieser Besuch in Sonthofen geworden. Wenn ich mich nun vor Ihnen in den Tagen, wo es wieder eine Bundeswehr gibt, einfinde, möchte ich einen einfachen Satz an die Spitze stellen, über den wir uns vielleicht alle einigen können, dass, wenn immer ein Kriegsheer zum Friedensheer wird, die Stunde des Friedens für diesen bestimmten Krieg erst geschlagen hat.

Das klingt nun wie eine Binsenwahrheit, aber in den 40 Jahren, deren Erfahrungen ich und Sie als 2 verschiedene Generationen wahrscheinlich repräsentieren, ist diese Binsenwahrheit zu einer sehr ungewöhnlichen Wahrheit geworden. Deswegen glaube ich, dass es keine Zeitverschwendung ist, wenn ich diesen ganz einfachen Satz in einer langen Stunde auszuführen versuche. Was ist denn geschehen, dass es heute so aussieht, als ob wir schon ein paar Jahre im Frieden lebten und nun nachträglich die Deutschen ein Heer bekommen? Was ist denn geschehen, dass man in Amerika nach dem 1. Weltkrieg das Heer sich zerlaufen liess und im 2. Weltkrieg ungerüstet war, dass man auch nach dem 2. Weltrkieg die Soldaten so früh nach Hause schickte? Ich habe damals einige meiner jungen Freunde beschworen, noch aktiv im Dienste zu bleiben, sie haben mir geglaubt, aber es waren zu wenige und wie Sie wissen, ist das Unglück von 1950 dann passiert, dass zum dritten.Male sich die Vereinigten Staaten eigentlich als ein Miliz-Volk ohne Friedensheer vorkamen. Ich will den Satz, der so einfach klingt »wenn ein Kriegsheer zum Friedensheer wird, dann ist dieser bestimmte Krieg erst zu Ende« noch stärker ausdrücken, um vielleicht von Ihnen mehr Aufmerksamkeit zu erlangen. Denn es ist gar nicht so gewöhnlich - wenigstens unter uns - dass ein Kriegsheer zum Friedensheer wird! Erst dadurch reifen die Früchte eines bestimmten Krieges! Nicht durch Verfassungen und durch Gesetze kann man den Frieden einseitig auf dem Papiere diktieren. Es muss etwas vor sich gehen, die Rüstung muss zur einfachen Haut um den Volkskörper werden, die wir ein Friedensheer nennen. So wie die Mähne zum Löwen, so gehört zu einem gesunden Volk ein Heer und so wie die Verdauung im einzelnen Körper, so gehört dann zu diesem Friedensheer eine Friedenswirtschaft.

Zweimal, wie ich schon erwähnte, 1918 und 1945 hat das Schiessen aufgehört, aber ein Friedensheer ist nicht sofort zustande gekommen. Jetzt sind seitdem 1 Jahre vergangen. In Irland oder im Rom der Antike, wo jedes Jahr Krieg geführt wurde, zog im Frühjahr eben der Miles auf den Kuhdiebstahl aus und dann kam er heim. Der Quirite wurde der Civis! Der Übergang von Krieg in Frieden war so normal, wie das Einatmen und Ausatmen, wie der innere Stoffwechsel und die äussere Betätigung eines einzelnen Menschen. Dieser Rhythmus ist in unserer Zeit zerstört. Der Krieg und der Frieden sind durch diese Zerstörung unmenschlich geworden. Und von dieser Unmenschlichkeit eines nicht mehr im selbstverständlichen Übergang von Krieg in Frieden lebenden Volkes möchte ich nun sprechen.

Es gibt natürlich, wenn ein solches Unheil uns befällt, Heilmittel; wenn wir uns darauf besinnen, was denn ein Kriegsheer eigentlich seinen Mitgliedern abverlangt, und was die Friedenswirtschaft den Mitgliedern bieten muss. Ich behaupte nun, dass die Kriegsverhältnisse der letzten 50 Jahre dem Krieger nicht das abverlangt haben, oder haben abverlangen können, was ihn zu einem menschlichen Krieger macht, weil die Friedenswirtschaft unmenschlich geworden war. / Und weil sie den Menschen gar nicht für den Krieg willig gemacht hat in einem höheren menschlichen Sinne. Der heutige Industriemensch ist sehr kriegerisch, er ist brutal. Sie können leicht Großstadtmassen zu allem hinreissen, und das Ethos des Krieges und das Ethos der Wirtschaft, ihre sittlichen Schranken, die sind in den Weltkriegen von allen Nationen aufs äusserste gefährdet worden. Und deswegen glaube ich, ist der Übergang vom Krieg in den Frieden nicht normal verlaufen.

Lassen Sie mich feststellen, was dem Krieger abverlangt wird und was die Wirtschaft den Zivilisten bieten muss, wenn wir Menschen bleiben sollen. Im Kriege kann man nur ehrenvoll fechten, wenn man das Recht der Vergangenheit und die Forderung der Zukunft, das Recht der Väter und die Hoffnung seiner eigenen Enkel, gleichzeitig sichert und wenn man in den Feinden, die man bekämpft, die Verbündeten von morgen sehen kann. Das sind die beiden sehr einfachen und doch sehr schweren Bedingungen für einen menschlichen Krieg. Im Kriege muss man selbstvergessen sein eigenes Leben in die Schanze schlagen. Wer von Ihnen 1914 mit ausgezogen ist, wie ich selber, der weiss, dass diese Bereitschaft eine natürliche war, eine sehr grandiose, eine selbstverständliche. Aber sie hatte auch eine Voraussetzung. Es hat doch nur Sinn, das eigene Leben wegzuwerfen, wenn Vorher und Nachher durch meinen Tod auf dem Schlachtfeld verbunden werden. Ein Krieg ist undenkbar, es sei denn drei Generationen seien an ihm beteiligt und die mittlere Generation sei bereit, für das Zusammenschmieden der Vorfahren und der Nachfahren das eigene Leben verkürzen zu lassen. Ein Mensch im Kriege ist nicht ein Kind seiner eigenen Zeit, sondern er ist ein Mitglied einer Kette. Und er ist das Glied, das sich zum Wiederschmieden dieser Kette hergibt.

Nun ist jeder der beiden Weltkriege in eigenartiger We i s e nur von zwei Generationen geführt worden. Wir sind nämlich 1914 — das darf ich von mir sagen, ich war damals ja schliesslich Professor der Rechte — für das Recht unseres Reiches in das Feld gezogen, aber 1939 ist man für die Zukunft Deutschlands in das Feld geschritten. Darin lag eine Trennung von je zwei Generationen. Wir waren bereit für das Bismarcksche Reich und unsern Nachbarn Österreich-Ungarn ohne alle Kriegsziele neuer Art hinauszuziehen. Der erste Krieg hat geendet, als man Kriegsziele erfand. Denn wir hatten ausser die Sicherung des Bestandes keins als wir auszogen. Nachträglich hat man dann Kriegsziele erfunden, weil man einen Krieg nicht ohne Zukunft und Vergangenheit führen kann. Aber der erste / Weltkrieg ist — von allen Ländern übrigens — für eine Art status quo geführt worden. Die Jungen haben für die Ordnung ihrer Väter bei Langemark und anderen grossen Orten ihr Leben gegeben. 450000 Engländer sind bei Passchendaele und Umgebung in Flandern gefallen. England hat sich bis heute von diesem Verlust nicht erholen können und hat keine Zukunft. Es ist beim Alten geblieben. Hingegen im 2. Weltkrieg, soviel ich es sehen kann, ist auf der deutschen Seite die Parole gewesen: »Zukunft« und nicht das »Recht«, Nicht das Recht der Vergangenheit, nicht eine bestehende Ordnung, sondern die Eroberung einer offenen Zukunft, einer grossartigen Zukunft meinetwegen. Jedenfalls sind die Menschen aufgeboten worden als die Lebenden, die sich für die Zukunft aufopferten. Erst die beiden Weltkriege zusammen geben Sinn. Ich bin überzeugt und das war mein Anliegen hier in Deutschland, deutlich zu machen, dass wir erst zum Frieden kommen werden, wenn die beiden Weltkriege als Teil eines einzigen Vorganges gewürdigt werden. Und Sie können als Soldaten vielleicht mir diesen Satz abnehmen, dass im 1. Weltkrieg die Vorfahren und die Lebenden und im 2. Weltkrieg die Lebenden und die Nachfahren aufgeboten worden sind, dass aber beiden Kriegen das Dreigliedrige gefehlt hat. Das ist, glaube ich, sehr wichtig. Die zweite Veränderung im Kriegswesen hängt natürlich mit dieser ersten zusammen. Sie ist, dass man im Gegner von heute nicht den Verbündeten von morgen gesehen hat. Das verteilt sich nun auf die Alliierten und auf die Deutschen wieder nach Weltkrieg 1. und 2. Im Weltkrieg 1 konnten die Westmächte überhauptihre Truppen nur aufbieten, wenn sie ihre Soldaten an ein Zusammenleben mit den Deutschen nach dem Kriege sowenig wie möglich denken liessen; im 2. Weltkrieg ist das von deutscher Seite geschehen, wo man im Gegner den Auszurottenden gesehen hat. Wenn ganze Regimentsstäbe der Exekution von tausenden von nackten Juden Kindern, Greisen und Weibern — in Polen atemlos 12 Stunden zugesehen haben, meine Herren, dann ist der Krieg eben unmenschlich geworden. Man hat vergessen, dass der Feind von heute, der Freund von morgen ist, und da hört der Krieg auf. Wir sind dann Tiere! Das ist also im 1. Weltkrieg von westlicher Seite geschehen, im 2. von deutscher.

Was ist der Grund für diese Veränderung? Ich glaube, der liegt in unserer Friedenswirtschaft. Wir müssen sehen, dass die neueste Friedenswirtschaft nicht weniger unmenschlich ist, als der Krieg der letzten 40 Jahre. Wir müssen die Heilung dann wohl für beide gemeinsam suchen. Und das ist mein persönliches Anliegen, mit dem ich Sie nun behelligen will. Ich will Ihnen verständlich machen, / weshalb ich hierhergekommen bin. Um meine eigenen Sorgen der Armee gerade, der neuen deutschen Armee, ans Herz zu legen. Die heutigen Kriege werden schneller geführt, als die Seele der Menschen sie verkraften kann. Es ist aber eine Beobachtung, die merkwürdigerweise in Deutschland nicht rechtzeitig gemacht worden ist, die aber die Amerikaner seit 60 Jahren sehr beschäftigt und bewegt hat, dass die Technik den Menschen so davon läuft, dass die Staatsmänner das Nachsehen haben. Es hat schon ein grosser Amerikaner, Henry Adams, der Sohn und Enkel vom Präsidenten, ein Mann, der die Geschichte Amerikas nach den Unabhängigkeitskriegen geschrieben hat, gesagt, dass im Jahre 1917, das ist nämlich das Jahr, in dem Amerika tatsächlich in den Weltkrieg eingetreten ist, die Ereignisse schneller und schneller ablaufen würden, als der menschliche Verstand nachkommen könne. Ein bisschen ist es doch so, wenn Sie sich in der Zeitung orientieren. Die Staatsmänner aller Länder einschl. Nehru laufen hinter den Ereignissen her. Wir treiben eine nachträgliche Politik heute. Weil die Maschinen so schnell funktionieren, dass 1918 schon 15 Millionen tot waren, schrieben die Staatsmänner erst noch einen Frieden, der von 1910 datierte. Die 15 Millionen wurden in Versailles noch nicht eingerechnet! Ich will Ihnen dabei ein Wort der Weisheit von Präsident Roosevelt im letzten Weltkrieg sagen, der ausführte: »Diesmal kann der Frieden erst nach 10 Jahren geschlossen werden«. Damit hängt es wohl zusammen, dass ich erst heute vor Ihnen spreche, und daß Sie erst heute hier sind. Frieden wird nämlich nicht durch Erklärungen auf dem Papier gemacht, sondern eben, wenn sich in den überlebenden Völkern ein Friedensheer bildet. Man hat das also doch voraussehen können, dass die Technik schneller funktioniert, als unser Geist und unser Herz lebt. Wir brauchen Zeit! Wir können nicht, nachdem ungeheure Leidenschaften entfesselt sind, am nächsten Tage Frieden schliessen.

Ich möchte Ihnen eine persönliche Erfahrung mitteilen: Es war Sylvester 1944, den ich im Kreise von amerikanischen Freunden feierte — wir waren s c h o n durch sehr viele Schicksale mit ihnen verbunden. Da kam die Rundstedt-Offensive in den Ardennen über das Radio und die Amerikaner, die den Krieg von weitem bisher betrachtet hatten, gerieten in furchtbare Aufregung und behandelten mich als Feind, als Ausländer, als Deutschen. Es war ihnen plötzlich der Krieg in die Knochen gefahren. Solange hat es gedauert, bis in Amerika der Krieg in Fleisch und Blut überging, obwohl schon die Menschen draussen längst fochten. Aber die Leidenschaften waren noch nicht entfacht, die wurden entfacht bei dem ersten Rückschlag! Zum ersten Male kam es ihnen da zum Bewusstsein, was es heisst, im Krieg zu sein und Feinde zu haben. Sie kennen die Amerikaner. Es ist ihnen sehr schwer zu sagen, dass irgend jemand ihr Feind ist.

Also die Feindschaften und die Freundschaften der Menschen haben einen ganz anderen Lebensrhythmus als die Maschinengewehre. Es kommt von unserer Technik und die Technik hat den Menschen im Frieden auch s e i n e s Verhältnisses zu seiner Wirtschaft beraubt. Ich sagte Ihnen, dass wir im Kriege es nicht fertiggebracht haben, den Soldaten gleichzeitig das Gefühl für das Recht der Vergangenheit und die weite Zukunft zu geben. Das hat man künstlich in zwei Weltkriegen aufteilen müssen, um die Massen überhaupt in Bewegung zu bringen, des halb war der 2. Weltkrieg ohne Recht und der 1. ohne Zukunft, ohne Ziele. Zu Hause in den Fabriken war es aber ja jahrzehntelang ähnlich zugegangen. Wir können unsere Arbeit nur tun, wenn das Ganze unseres Lebens für längere Zeit feststeht — unsere Liebe, unsere Ehe, unsere Freundschaft und unsere Heimat, unsere Häuslichkeit - als das bisschen Arbeit, das jeden Tag wechselt. Sie wissen nun, dass die Industrie alle Arbeitsverhältnisse kurzfristig gemacht hat, und dass der Mensch sozusagen so kurzfristig wurde, wie die ganze Produktion. Er hatte im Leben nicht mehr das Mass vor sich, »meine Arbeit kurz, mein Leben lang«, sondern das Leben selbst wurde so verkürzt. Was leidet nun darunter, wenn der Mensch nach Stunden, nach Minuten sogar unter dem Mikroskop der Zeitstudie seine Arbeit tun soll; wenn er jeden Augenblick umkommandiert wird zu einem anderen Meister? Ein junger Freund von mir, konnte nicht mitkommen, weil der Meister sagte: »Wenn Du jetzt hier nach Sonthofen mitgehst, dann kann ich Dich zwar nicht entlassen. Die oben haben es Dir erlaubt, aber ich gebe Dir einen anderen Arbeitsplatz, das passt mir nicht«. So wenig elastisch ist der Betrieb, dass er ein menschliches Rühren nicht verkraften kann. Ein solcher Mensch entbehrt der Solidarität. Solidarität empfinden wir mit Schicksalsgenossen, die ein ganzes, langes Leben mit uns verbunden sind. Diese Solidarität wird von der Industrie zerstört! Jeder von Ihnen, der in den letzten zehn Jahren als Zivilist in der Berufsarbeit gestanden hat, weiss, dass das wahr ist. Das ist in der ganzen Welt so! Wir haben Nomaden-Menschen, die keine Heimat haben und keine Sicherheit für ihr ganzes Leben. Solche Menschen werden also anfällig. Sie werden nicht auf ihre Menschlichkeit hin gestaltet, sondern sie werden mit der Kurzfristigkeit von Wasser und Kohle, der Elektrizität mehr oder weniger gleichgesetzt, sie werden Materie und dann nennen sie sich schliesslich stolz/ Materialisten. Aus der Not muss man eine Tugend machen! Es ist also die Kurzfristigkeit des Zivillebens in unseren heutigen Betrieben.

Im Kriege waren die drei Generationen nicht da. Also wurde das Recht nicht innegehalten und wurde die Zukunft nicht wirklich anvisiert, denn Zukunft und Vergangenheit stehen ja in einer Harmonie; es muss altes Recht verwandelt werden in neue Ordnung. Sie können nicht bloss Neues und nicht bloss Altes haben, ohne menschlich aus den Fugen zu gehen. Aber im Betrieb ist es noch schlimmer, wenn ich in 10 Jahren 30 Arbeitsstellen habe ich habe einen Freund, der Dreher ist, dem das passiert ist — leidet meine Dienstwilligkeit. Es tritt ein latenter Sündenfall ein, dass nämlich der Mensch in keinem dieser Betriebe sich hinge ben darf, weil er sonst zu Grunde geht. Jeder, der in der Industrie steht, muss ein doppeltes Leben führen: Er muss 1. an Ort und Stelle arbeiten und er muss 2. sein eigener Arbeitsnachweis bleiben, damit er eine andere Stelle auch kriegen kann. So ein Mensch ist gespalten. Er muss immer bei Gefahr des Untergangs weniger tun, als er könnte, er muss sich selbst behaupten. Es hat einer von den Herren, die mit mir in Bonn die Sache besprochen haben, das aufgegriffen und gesagt, dass eben ein Mensch erkrankt, der gezwungen wird, bei seiner Arbeit immer selbstbewusst zu sein. Gute Arbeit kann man nur leisten, wenn man selbstvergessen ist. In dem Augenblick, in dem Sie denken, »was kriege ich da- für«, leidet die Arbeit. Das brauche ich Ihnen als Offizieren nicht zu sagen.

Als ich einmal auf einer Reise in England erkrankte, ging ich zu einem Arzt, und er hat mir das Geheimnis des Offiziers verraten - ich war ja damals Zivilist, es war in den zwanziger Jahren. Er sagte: »Sie sind Gelehrter?«»Ja«, sagte ich ganz betrübt. Da meinte er: »Gelehrte und Offiziere dürfen nie länger als 14 Tage in ärztlicher Behandlung sein.«»Weshalb? Ich habe doch Schmerzen.«»Das tut Ih- nen nicht gut, haben Sie Ihre Schmerzen, das ist viel besser, als dass sie selbst- bewusst werden. Ein Offizier und ein Gelehrter denken an Andere, die vergessen sich und das ist eben ihre Gesundheit, denn sie werden krank, wenn ich als Arzt sie zwinge, sich nur mit sich selbst zu beschäftigen.«

Nun hat unsere Industrie den Menschen gezwungen, sich mit sich selbst zu sehr zu beschäftigen, das ist das ganze Problem der Arbeit. Derselbe Arbeiter, der an einem Experiment in einem Laboratorium hingebungsvoll arbeitet, darf im Be- trieb nicht hingebungsvoll arbeiten, er muss das Akkordgedinge innehalten, sonst vergeht er sich gegen seine Arbeitskameraden. Ein solcher Mensch hört auf dienstfähig zu sein. Er hört auf, dienstwillig zu sein. Ich habe gestern gerade von einem Berufsschullehrer, mit dem ich über den Vortrag heute sprach, gehört, wie seine Jungen ihm jetzt eben den Eintritt in die Bundeswehr vorrechnen: »Was kommt dabei für mich heraus?« Eine völlig sinnlose Fragestellung! In keiner an- ständigen Angelegenheit des Lebens »kommt irgendetwas raus«. Ich sage das immer meinen Studenten. In Amerika, das ja doch ein Handelsland ist, fragt mich auch immer jeder Student, was er aus meinem Kurs kriegt, und ich sage immer, er kriegt nichts heraus, er muss sogar was hereintun. Eine höchst unangenehme Antwort für die!

Von dem Zustand, dass von den Menschen der Industrie kein unmittelbarer Zu- gang zur Dienstwilligkeit vorhanden ist, bin ich in meinem ganzen Leben ausgegangen. Das ist die Erfahrung, die ich auch als Soldat im Kriege gemacht habe. Ich habe sogar im Kriege in der Champagne ein Mannschaftshaus der 3. Div. aufgebaut und sollte an Stelle des Kommissars den Propagandisten spielen, den sogenannten Aufklärungsoffizier. Also statt dieses schrecklichen Bonzen, der da Aufklärung propagiert, habe ich meinem Divisionär gesagt: »Excellenz, geben Sie mir die Leute, die an der Nahtstelle der Kompanie, an der Front stehen für eine Woche, je einen aus jeder Kompanie, und Sie werden sehen, dass das Wunder wirkt.« Wir haben einfach zusammen gedient und gearbeitet, es war sehr schwierig, weil ich Offizier war und die anderen Unteroffiziere und Mannschaften waren. Im alten Heere war ja die Kluft, wie Sie wissen, noch sehr erheblich. Ich habe oft innerlich, das will ich Ihnen offen gestehen, mir am liebsten die Epauletten abreissen wollen, um wirklich mit diesen Menschen leben zu können. Ich habe es nicht getan, es ist auch so gegangen. Aber ich habe Erfahrungen gesammelt, dass im Kriege und sogar an der Front — es war vor Verdun und in der Champagne, wir haben das dreimal gemacht - eine Brücke geschlagen werden muss von dem modernen Industriemenschen zu der unbedingten Aufopferung des Heeres, mit Einsatz des Lebens.

Es muss ein Vorbild geschaffen werden für die Dienstwilligkeit, für die Erfahrung, für die Lindigkeit, die Zartheit, die Vorsorge, einen Baum zu pflanzen, eine Küche zu putzen, statt bloss ein Arbeitsstück abzuliefern für 20 Pfennige. Sie können nicht pflegliche Behandlung, Verständnis der bestehenden Baulichkeiten, der bestehenden Wälder usw. von Menschen verlangen, die im Stück bezahlt werden. Irgendwoanders muss das eingeübt werden, denn der Soldat wird sonst nicht menschlich. Die moderne Industriemenschheit, wie Sie ja genau wissen, zerstört mit grosser Freude, mit kannibalischer Freude, ganze Städte und ganze / Länder, wenn sie die Durchschlagskraft nur haben, weil sie sich nicht vergegenwärtigen, dass morgen dieses Land wieder Friedensland ist, und weil sie sich nicht vergegenwärtigen, mit welcher ungeheuren Liebe von Generationen solch ein Land erst mal aufgebaut worden ist. Es geht ja alles so schnell! Es ist ja alles bloss Beton! Es ist aber gar nicht alles bloss Beton, das wirkliche Leben ist ja sehr langsam. Der Aufbau einer Gemeinde dauert Generationen, und so haben wir also das Problem heute: Wie mache ich den Industriemenschen dienstwillig, und wie mache ich den Soldaten, eingedenk seines Eingebettetseins in Vergangenheit und Zukunft und in künftiger Brüderschaft mit seinen Feinden, friedenswillig wie wird der Krieg so tapfer durchgefochten, dass der Kriegsausgang nachher es erlaubt, Frieden zu schliessen mit dem Anderen, mit dem man gekämpft hat?

Auf der Seite der Vermenschlichung des Kriegerdaseins steht ein Problem, das Sie alle wahrscheinlich innerlich beschäftigt hat. Es ist nicht mein eigenes Anliegen, aber, als ich mich besann auf das, was ich Ihnen hier sagen sollte, stieg es doch vor mir auf, als eine klare Ergänzung meiner eigenen Sorgen. Das ist der Kriegsdienstverweigerer! Wir mögen über den Kriegsdienstverweigerer im Augenblick unserer eigenen leidenschaftlichen Hingabe an die kriegerische Aufgabe verächtlich denken, aber ich glaube, wir müssen doch froh sein, dass es ihn gibt. Und zwar, weil die Kriege so wahnsinnig schnell ablaufen, dass sie den Menschen bloss zum Zerstören für den Augenblick reizen und ihn nicht einbetten in die Schmerzen des Rechts und in die Anliegen der Enkel, ist im Kriegsdienstverweigerer heute aufgepflanzt - es ist also kein Zufall, dass es in Deutschland. heute akut wird als Rechtsproblem - die Notwendigkeit, dass ein künftiger Zustand und ein vergangener, nämlich der Friede, durch eine bestimmte Gruppe von Menschen dauernd repräsentiert wird. Wenn Sie sich unsere eigene menschliche Gesellschaft ansehen, so ist es so, dass jeder von uns alles kann, aber einer muss es immer tun, was wir nur ab und zu tun. Jeder von Ihnen kann mal kochen und mal heiraten und so weiter. Es muss aber immer auf allen Stationen des Lebens eine kleine Bemannung, eine »Skelettbemannung« geben, die uns ermöglicht, auf diese Stationen hinaufzufinden und durch sie durchzugehen. Wenn Sie heiraten, dann wollen Sie doch natürlich irgendwo ein Blumengeschäft haben, wo Sie das Hochzeitbouquet kaufen können, d.h. das muss immer da sein. Sie kaufen dann nur einmal. Und so ist es auch mit dem Kriegsdienstver- weigerer heute, weil die Kriege so rasant und blitzschnell ablaufen, dass wir nicht an Väter und Enkel und Söhne viel zu denken Gelegenheit haben. Was sind 41/2’ Jahre für einen Weltkrieg oder 5 Jahre? Es ist ja lächerlich, viel zu wenig, ich meine das ganz ernsthaft, zu wenig um moralisch verkraftet zu werden! Da muss in der Kriegsdienstverweigerergruppe dieses Menetekel da sein: »Rührt mich nicht an«, sagt der Kriegsdienstverweigerer, »ich gefalle Euch nicht, Ihr könnt mich ja anspucken, ich lasse mich anspucken, damit Ihr eingedenk bieibt, dass Ihr eines Tages froh sein werdet, dass einer gesagt hat, es wird wieder Frieden.« So sehe ich persönlich den Kriegsdienstverweigerer und es kommt meiner Ansicht nach sehr wenig darauf an, was sich der Kriegsdienstverweigerer selber dabei denkt. Die Funktion des Mannes ist, glaube ich, viel wichtiger, als die sehr verschiedenen Ideologien, die der Mann entwickelt, um sich dafür zu stärken. Sie werden ja auch einen Soldaten, der Alkohol trinkt, bevor er aus dem Graben aufsteht, nicht deswegen für einen Trinker erklären, weil er Alkohol brauchte. Ich glaube, daß die vielen Ideologien der Kriegsdienstverweigerer für eine Armee oder überhaupt für die Volksordnung von sehr geringem Betracht sind. Es kommt nicht darauf an, was sich der Kriegsdienstverweigerer selber denkt, damit wir ihn in Ruhe lassen. Wir brauchen ihn, das scheint mir die entscheidende Sicht der Sache zu sein. Ich sage das etwas von fern, weil ich ein anderes Anliegen habe für die industriegesellschaft.

Ich glaube, daß wir in der Industrie die Menschen erst einbetten müssen in eine Dienstwilligkeit, bevor das neue Heer in Deutschland populär werden kann, bevor es empfunden wird wie die Haut um diesen Wirtschaftskörper, und bevor Sie das nicht erreichen, nützt Ihnen kein Gesetz, nützt Ihnen kein Geld, nützen Ihnen. keine Zahlen! Es muß — und zwar hängt das wieder gar nicht am Willen — organisch so sein, daß die Menschen fühlen, daß das ihr Heer ist. Das kann man nicht kommandieren, das kann man nicht von oben diktieren! Woran liegt das also? Lassen Sie mich von meinem Dorfe in Amerika ausgehen, um Ihnen diesen Brückenschlag als notwendig glaubhaft zu machen. Mehr kann ich heute nicht erreichen! Ich möchte erreichen, daß Sie eine Balance, ein Gleichgewicht sehen zwischen der Entmenschung des arbeitenden Menschen im Frieden und der Entmenschlichung des Krieges. Denn ich bin überzeugt, daß Krieg und Frieden sehr einfache Vorgänge sind, mit sehr viel Papier zugedeckt, und daß, bevor wir nicht Krieg und Frieden wieder wie Einatmen und Ausatmen begreifen lernen, beide Ordnungen nicht genesen können. Sie werden niemals ein reines Kriegsheer richtig entwickeln, wenn Sie bloß an den Krieg denken, und die Wirtschaftsleute und die Nationalökonomen, die Marxisten oder die Kommunisten werden’ niemals eine Gesellschaft aufbauen können, wenn sie nicht verstehen, was ein Krieg ist. Und in Rußland ist es ja umgekippt! Da regiert der Herr General Schukow jetzt, weil man zunächst gesagt hat, nur die Nationalökonomen oder die Pläne regieren. Es kommt immer das Gegenteil davon heraus, wenn man etwas übertreibt!

In meinem Dorf — als wir vor 20 Jahren einzogen — gab es noch 230 Bauernstellen, jetzt gibt es 30, 200 sind verfallen. In den letzten 5 Jahren sind in Amerika 2 1/2 Millionen Bauernstellen niedergelegt worden. Es sind immerhin 12 Millionen Menschen, die vernünftig gelebt haben, verschwunden, wenn Sie 5 Köpfe auf einen Bauernhof rechnen. Das geht so in der ganzen Welt! Aber bei uns habe ich es nun am eigenen Leibe erfahren, was das bedeutet. Unser Dorf ist 1769 gegründet worden, von Connectitut her, vom Süden. Unser Staat heißt Vermont — die grünen Berge. Er wurde, das wird Sie als Soldaten vielleicht interessieren, wirklich erst Staat, als die Militärgrenze zwischen England und Frankreich in Amerika verschwand. Wir waren nämlich diese Militärgrenze. Sie bestand aus Wald. Niemand siedelte sich in diesem Wald von beiden Seiten an, damit Land zwischen den französischen und englischen Kolonien blieb, weil man sich nicht vertrug. Als nun die Franzosen aus Kanada 1763 mit Hilfe Friedrich des Großen und des siebenjährigen Krieges herausgeworfen wurden, da wurde Vermont als Waldgrenze überflüssig, denn es saßen nördlich Engländer und südlich Engländer, und so sind wir also besiedelt worden. Wie sind wir besiedelt worden? Wir sind besiedelt worden durch eine ungeheure Klärarbeit des Bodens, da dort, wie beim Meister Hämmerlein in Hebels »Schatzkästlein«, Tausende von Steinen lagen, die alle beseitigt werden mußten. Diese Mauern durchziehen den ganzen Staat. Sie sind das große Erbe dieser heroischen Generation, die gemeinsam auf Steinschlitten Billionen und Billionen von Feldsteinen zusammengetragen und das Land in Weideplätze eingeteilt hat. Diese Mauern dienen natürlich jetzt auch zur Weidetrift, zum Weidewechsel. Das war alles gemeinsame Arbeit und bevor diese gemeinsame Arbeit erledigt war, konnte man überhaupt selber an seinen eigenen Bauernhof nicht denken. Dann wurden die Straßen gebaut. In meiner eigenen Dorfgemarkung sind 96 Meilen, das sind also 140 km Straßen vorhanden und die sind auch nur aus gemeinsamer Arbeit der Siedler hervorgegangen. Sie waren nicht viele, vielleicht 50 Familien. Diese 50 Familien haben die Kirche gebaut und das Gemeindehaus, den Friedhof angelegt, die Gerberei und die Schmiede, die Müllerei und was sonst alles noch nötig war, vor allen Dingen die Brücken über die reißenden Bäche. Ein Zehntel der Jahresarbeit der ersten Generation ging auf eigene Rechnung des Landwirts, 9 Zehntel waren Dienste der Gemeinschaft. Das war normal! Niemand hat von diesen Diensten für die Gemeinschaft viel gesprochen. Interessiert hat auch damals die Leute der eigene Profit, vergessen Sie das nicht, aber es war ein sehr kleiner Bereich, aus dem dieser eigene Profit herausgewirtschaftet werden konnte. Soviel mußte man dem Nachbarn noch helfen. Wer von Ihnen das Land kennt, weiß, wieviele solcher Dienste noch in Spuren übrig sind. Aber im großen und ganzen ist es doch nur noch die Freiwillige Feuerwehr, die davon Zeugnis ablegt, daß in der Not die Gemeinde erst existieren muß als Gemeinde, bevor überhaupt ein Einzelner dieses Selbtbewußtsein entwickelt, mit dem er an seinen eigenen Vorteil denkt. Nun ist es doch mindestens so, daß heute gezwungenermaßen 9 Zehntel der Zeit eines heute im Wirtschaftsleben stehenden Menschen - es ist ja gar nicht seine Schuld - auf dieses Selbstbewußtsein, seine Karriere, sein Sichdurchsetzen, seine Interessenpolitik, seine Interessenverbände sich sammelt und daß er gelegentlich vielleicht in der Wohltätigkeit oder sonstigen Lastern frönend, irgendetwas für die Allgemeinheit tut. Diese Veränderung wird aber heute nicht ernst genommen, ich glaube aber, daß hier die Quantität in die Qualität umschlägt. Heute leben in meinem Dorf, wie ich Ihnen sagte, 1500 Menschen mit 20 Bauernhöfen, spielt aber keine Rolle. Ich bilde mir ein, ich bin Nr. 21, aber die Einheimischen denken nicht so. Ich habe nur Weidewirtschaft und produziere Heu und habe Pferde und man muß Kühe haben in Vermont, um mitzuzählen. Es ist aber mehr als ein Scherz, wenn ich Sie auf diese Veränderung jetzt hinweise, daß jeder von uns im Dorf aus einer anderen Quelle verdient. Und daß meine Einnahmen und meines Nachbarn Einnahmen und des dritten Mannes Einnahmen so verschieden liegen, daß wir einander undurchdringlich geworden sind. Unsere Selbstinteressen in unserem Dorfe wurzeln nämlich weit außerhalb des Dorfes. Ich werde von jenseits d e s Flusses Connectitut bezahlt. Der Arzt wird vom Krankenhaus bezahlt. Wir haben einen Pole Poppenspäler. Mein nächster Nachbar, ein geflohener Weißrusse aus Sibirien, zieht durch das ganze Land mit seinen Puppenspielen, um seine Familie zu ernähren. So ist das ganze Dorf keine Einheit mehr, sondern es ist, wie ich das nennen möchte, entortet.

Die Menschen, die bei uns zusammenzuwohnen scheinen, sind in ihrem innersten Gefüge nicht mehr in einem Klima, in einem Wetter, in einer Konjunktur, sondern jeder ist für sich. Denken Sie sich das einmal durch für die Menschen, die’ Sie ins Heer bekommen. Sie werden sofort sehen, daß diese Menschen, die gemeinsam im Dorf feiern, nur noch scheinbar gemeinsam feiern. Man kann am Sonntag auch nicht gemeinsam zur Kirche gehen, wenn man in der Woche gar keine gemeinsamen Interessen hat. In den Vororten unserer grossen Städte, auch in Deutschland, ist das ja schon so säuberlich eingerichtet, daß die Vorortmenschen nach Einkommensklassen getrennt zur Kirche gehen, weil sie eben in verschiedenen Vororten wohnen. Und die Vororte sind ja aus solchen Gründen sehr säuberlich aufgeteilt. Schon nach dem 1. Weltkrieg fiel es mir auf, daß man in Sachsen in einer kleinen Vorstadt von Leipzig für 289 Postbeamtenfamilien Wohnungen baute. Die müßten ja verrückt werden. Sie wurden also abgesondert von der übrigen Menschheit. Das züchtet ein übertriebenes Selbstbewußtsein. Wenn Sie meinen, daß der einzelne Mensch heute gar nicht so selbstbewußt auftrete, so möchte ich daran erinnern, daß jeder von uns, der einem Interessenverband angehört, den Interessenverband dafür bezahlt, um sein Selbstbewußtsein zu kultivieren. Ich kultiviere es gar nicht, aber mein Syndikus tut es, mein Verbandsvertreter und d a s ist noch schlimmer! Der ist noch unbelehrbarer, noch unbekehrbarer, der hat nämlich gar nichts anderes zu tun, als mir dauernd den Spiegel meiner Schönheit vorzuhalten und zu sagen: »Du bist zu schlecht bezahlt, Du bist noch wichtiger«!

Also diese Wichtigtuerei der Interessenverbände zerstört die Dienstwilligkeit seiner Mitglieder auch sehr erheblich. Ich bin also darauf gekommen, den Kriegsdienstverweigerer einen Friedensdienstsucher, wie ich es mal nennen möchte, gegenüberzustellen, der Dienste sucht, in denen das Gemeinschaftsleben gelernt wird. Was ich erst in der Armee und dann im Frieden mit dem freiwilligen Dienst zu tun versucht habe, ist doch ein Lernen des gemeinschaftlichen Lebens! Und es wird ganz eingesehen von einsichtigen Menschen in allen Ländern, daß die Industrie solche Gemeinschaftsordnung braucht, um ein Gegengewicht zu bilden, gegen die Vereinzelung des Menschen bei seiner entlohnenden Arbeit. Damit es ihm natürlich wird, sich irgendwo hinzugeben, und damit er erfährt, daß wenn man sich hingibt, die Arbeit und das Essen und der Tanz und die Kunst und die Politik und das Denken nicht zersplittern, wie wir heute überall in reine Willkürsachen zersplittert sind, sondern, daß alles eines aus dem anderen hervorwächst, daß man nicht, weil man zu müde von der Arbeit ist, sich dann berauscht, sondern weil man gearbeitet hat, über das nachdenkt, was nun zu tun ist z.B.. daß also der Platz für die Muße nicht darin besteht, die Arbeit zu vergessen, sondern aus der Arbeit neue Fragen zu entwickeln und die zu erörtern.

Jede dieser Gemeinschaftsordnungen leidet heute unter der Tatsache, daß sie verkitscht und verfälscht worden sind. Es gibt viele dergleichen. Sie haben alle von Arbeitslagern gehört und Arbeitsdiensten! Sie denken entweder an Hitlers Arbeitsdienst oder vielleicht ist Ihnen bekannt, daß die Quaker, die kriegsdienstverweigernde Sekte, solche Lager überall in der Welt aufgebaut hat, in Frankreich, in Deutschland, in Uruguay, in Brasilien, in Mexiko unter der Ägide von UNESCO. In Afrika hat es solche Ansätze gegeben. Ich sage, sie sind verkitscht, weil sie gewöhnlich ein paar Wochen dauern, weil sie eine Art Ferienbeschäftigung sind, weil sie keinen Einsatz des Menschen erfordern, der ihn wirklich aus seiner Routine herausbringt. Es ist zu billig. Das meine ich mit »verkitscht«, Und der Hitlersche Arbeitsdienst war, glaube ich, zu teuer, d.h. er war zu roh, er war zu brutal, er war im Schatten des Militärdienstes gedacht, man sollte sich auf die Armee freuen, also sollte der Arbeitsdienst abscheulich sein.

In dieser Friedensdienstsuche - ich brauche dieses Wort, um es dem Kriegsdienstverweigerer parallel zu schalten - sehe ich die Vermenschlichung der Industrie, wenn sie die Menschen mit der Erfahrung begabt, daß sie in ein Dorf kommen. Ich habe das alles selbst erfahren, meine Herren. Ich bin 6 Jahre Soldat und dann etwa 6 Jahre Arbeitsdienstler gewesen. Ich habe Narben aus beiden Erfahrungen. Die Gemeinschaftsdienste, die ich die Ehre gehabt mitzumachen und mitzutragen, hatten immer zum Ziel, diese Jugendgruppe oder diese Gruppe Männer und Frauen einzubinden in unsere verfallenden Gemeinschaftskörper, um sie anzufeuern und zum Leben zu bringen. Ein Zusatz von jungen, neuen, begeisterten Leben in eine alte Ordnung tut Wunder. Sogar Politiker benehmen sich besser, wenn ihre Söhne ihnen auf die Finger sehen.

Wir schicken heute, wie Sie wissen, unsere Jugend in Schulen. Sie ist nicht anwesend, wenn die Väter Politik treiben. Von 15-25 ist der junge Mensch heute seinem Vater nicht gegenwärtig und der Vater ihm nicht. Das ist sehr schädlich! Die Väter würden sich nämlich viel besser benehmen! In unserer Gemeindeversammlung — das ist alles wirklich wahr haben wir nur Wahlbeamte. Jedes Jahr wird alles neu gewählt. Da sitzen die Schulkinder mit. Das haben wir durchgesetzt. Infolgedessen ist das ganze Leben in dieser Gemeindeversammlung auf einem erheblich höherem Niveau, weil die Leute sich vor ihren Kindern genieren. Wie ist es aber bei uns? Von 14-25 ist der Junge und das Mädchen heute aus dem Dorf auf Schulen und mindestens weg. Infolgedessen ist da ein Leerlauf, eine Lücke in der Ordnung der Gesellschaft. Bei uns in Amerika ist das fürchterlich. Da geht man vom 2. Lebensjahr an bis zum 30. in Schulen. Die Gemeinden laufen leer, denn dieser Glaube der Jugend und die Redlichkeit der Älteren kommen nicht ins Spiel. Die Alten sind unter sich und machen ihren Kuhhandel allein. Ich meine also, daß die Gemeinde durch anstrengende Dienste wieder zur Erfahrung werden muß. Wo es brennt, muß die Feuerwehr hin.

Ich glaube, wir müssen recht einfach und ungebildet auf das Einfache sehen, was wir wirklich durch unser ganzes Leben lang wissen, ehe wir das Notwendigste heute tun können. Das Besondere dieser Friedens- oder Dienstsuche sehe ich im folgenden:

Weil mein Dorf aufgebrochen ist und weil die Interessen in meinem Dorf nicht mehr zusammenstehen, muß ich den Punkt suchen, der aus den Gründen unseres industriellen, technischen, wissenschaftlichen, forschenden, erdweiten und weltumspannenden Daseins kommt, der mich gebieterisch fragen läßt: »Wer ist der Träger solchen Dienstes aus der Natur der Lebensbedingungen, unter denen wir leben?« Es ist nicht die Gemeinde, deren Entortung da ist. Ich kann wohl künstlich die Leute zum Bonbonlutschen in meiner Gemeinde zusammenladen, aber gemeinsame Sorgen und Anliegen haben sie deswegen noch lange nicht. Ich darf sie nicht auf der Nationsebene zusammennehmen, wie das der Hitlersche Arbeitsdienst getan hat. Denn die Arbeit ist nun einmal heute technisch und die Technik spottet der Landesgrenzen. Sie ist entweder kleiner als die Landesgrenze, sie ist vielleicht württembergische Industrie, oder sie ist viel größer. Ich erinnere Sie daran, daß Deutschland in diesem Augenblick bereits Elektrizität aus der Schweiz und aus Norwegen bezieht. Nun ist die Elektrizität doch kein Luxus, denn das Tageslicht, die Arbeit hängt ja davon ab und das Licht in Ihren Wohnstuben. Infolgedessen sind wir schon wirtschaftlich in einer, sagen wir vorsichtig, überall der nationalen Grenzen spottenden Ordnung. Diesen Spott müssen wir ernst nehmen! Wir können nicht den Arbeitsdienst national ordnen. Hier kommt nun mein Anliegen, glaube ich, im Interesse der Bundeswehr, im Interesse der Welt. Es ist der Beitrag der Deutschen zur moralischen Gesundung des Westens. Sie, meine Herren, haben hier angefangen, weil der Westen von Deutschland einen Wehrbeitrag verlangt. Sie sind aber ein Sonderkontingent in der langen Friedenszeit, die ganz offenbar nach so zwei Riesenexplosionen bevorsteht. Ich bin die letzten 10 Jahre von allen Leuten ausgelacht worden, weil ich gesagt habe, es gibt keinen dritten Weltkrieg. Aber ein bißchen habe ich mich’ auch mit solchen Dingen beschäftigt in meinem Leben, sogar fachlich. Es gibt eben keinen dritten Weltkrieg vielleicht vor 1970, einfach aus Gründen der Erschöpfung, des Verlustes. Die Seelen können nicht wegen der Länge der Seelen- achse und der Kürze der technischen Zeit. Es ist so ungefähr das Gleiche, wie wenn man 1815 gesagt hätte, die napoleonischen Kriege würden wegen der sächsischen Frage erneuert werden. Wie Sie wissen, hat sich Preußen und Ruß- land beinahe wegen Sachsen zum Kriege entschlossen, aber sie haben sich eben nicht zum Kriege entschlossen. Und der König von Sächsen ist bestehen geblieben. Es war immer noch billiger, als die napoleonischen Kriege weiterzu- führen. So ganz ähnlich wie die sächsische von 1815, ist die Korea-Geschichte gewesen.

Was ich sagen möchte, ist, daß nach dieser Weltkatastrophe, nach der Verrohung der Friedenswirtschaft, die die Menschlichkeit im Heer und im Betrieb bedroht, die die Dienstwilligkeit der Leute, die Sie zum Soldaten machen sollen, anfrißt und ankränkelt, die die Bundeswehr heute unpopulär macht, weil es den Leuten vom Dorfe nicht mehr selbstverständlich ist, zu einer Miliz zu gehören oder ähnlichen Dienstordnungen, diese heutige industrielle Welt nur auf einer weltweiten Basis die Dienstwilligkeit neu erzeugen kann. Alles andere ist romantische Sentimentalität. Die Industrie ist weltweit, also muß auch der in sie eingebaute Dienst die Gemeindegrenzen und die Landesgrenzen überspringen. Wie wäre es denn nun, wenn Sie wünschen hülfen, daß zu Ihrer Entlastung die deutsche Regierung den Amerikanern z.B. sagen würde: »Liebe Leute, wir müssen im Frieden irgendwo gemeinsam sichtbar werden, wir können nicht nur ein uniformiertes Kontingent sein für den Kriegsfall. Wir haben uns die Gleichberechtigung so lange streitig gemacht, die moralische mindestens, wir müssen irgendwo in der Welt als gemeinsam dienend sichtbar werden, wir müssen in Afrika oder in Indien, in diesen unentwickelten Gebieten, gemeinsamen Dienst tun. Die Welt muß sehen, daß es schon so etwas wie eine NATO gibt. Das wird sie nicht bloß sehen, weil es Offiziere gibt, die nach Washington kommandiert werden. Das sieht das Volk nicht und das macht gar keinen Eindruck. Aber als moralische Leistung ist es notwendig, daß ein solcher Dienst in den nächsten 20 Friedensjahren der Menschheit in Fleisch und Blut übergeht, um die Gleichberechtigung und Einheit und die Solidarität der in der Industrie schon miteinander verbundenen Völker sichtbar zu machen. «

Nun, Sie begreifen, daß ich diesen Programmpunkt vor Ihnen nicht weiter verfol gen will, ich wollte Ihnen nur deutlich machen, was mein Anliegen an dieser Sache ist. Ich bin also ganz egoistisch: Ich will etwas. Das darf man ja angeblich heute nicht, wenn man spricht. Man sollte immer so tun, als ob man absolut objektiv wissenschaftlich ist. Aber ich finde das nicht richtig. Ich habe es auch nie versucht zu sein. In dem Anliegen des eigenen Lebens, der eigenen Generation, seiner eigenen Enkel und seiner eigenen Vorfahren, ist kein Mensch objektiv. Aber, wo er dient, werden ihm die Augen geöffnet für das, was wahr ist, und für das, was notwendig ist. Eine Wahrheit wird erfahren und erlitten in langen Jahren. Wenn ich mich sehr wundere, daß ich hier vor Ihnen habe sprechen dürfen, so ist es natürlich deswegen, weil ja eine lange Zeit vergangen ist, seitdem ich zum deutschen Heere gehört habe und weil ich jetzt amerikanischer Staatsbürger bin, weil ich den ersten Weltkrieg geistig zu verarbeiten getrachtet habe, und weil es nun ihre Not ist, den zweiten zu verkraften. Die Not kann fruchtbar sein, meine verehrten Herren, wenn Sie sich überlegen, daß wir beide von einer Welle der Unmenschlichkeit hinweggespült zu werden drohen, wenn wir nicht die Menschlichkeit in beiden Ordnungen »Frieden« und »Krieg« mit wiederaufbauen helfen.

Wann ist der Mensch natürlich menschlich in beiden Ordnungen? Er ist im Betriebe menschlich, wenn er sein eigenes Leben nicht an die Woche, die Stunde und das Vergnügen am Sonnabend vergeudet, sondern wenn er eine Ehe schlieBen kann, Kinder erziehen oder ein Haus gründen kann und sich aus allen Einzearbeiten seelisch gesund wieder herausziehen kann, und sich nicht besäuft, sondern die geschehene Arbeit bedenkt und aus dem Bedenken bessere Arbeit morgen tut. Dieses Bedenken wird heute den Menschen in der Industrie verweigert, weil solche Erfahrungsbereiche, wie es solche Gemeindedienste sind, fehlen. Das muß geschaffen werden!

Ihr Heer hängt in der Luft, weil diese Dienste in Deutschland heute nicht bestehen, wir haben eine totgearbeitete Menschheit, eine überhetzte Menschheit, eine vom Lohn und vom Einkommen und von der Steuerhinterziehung lebende Menschheit, mit der können Sie keinen Staat aufbauen. Wir haben also ein gemeinsames Anliegen. Das Menschliche im Menschen ist, daß alle Feindschaft nur vorübergehend ist und alle Arbeit nur vorübergehend ist. Überleben müssen die Freundschaften, das Bedürfnis der Menschen, Frieden zu schließen: Frieden in der Wirtschaft und Frieden im Kriege. Und ich danke Ihnen, daß Sie mich angehört haben und daß ich Ihnen mein Anliegen in dieser Hinsicht habe vortragen dürfen.

Eugen Rosenstock

aus: Eugen Rosenstock-Huessy: Friedensbedingungen einer Weltwirtschaft, Zur Ökonomie der Zeit, Haag + Herchen, Frankfurt am Main, 1988, p.191-209