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Rosenstock-Huessy: Die Einheit des Europäischen Geistes

Sehr verehrte Anwesende!

Heute mittag habe ich noch in Amsterdam gespeist. Dort findet sich eine Inschrift, die sehr europäisch klingt: „Ex toto orbe, in totum orbem” - aus der ganzen Welt in die ganze Welt. Sie sehen, das ist mit dem Europa gleich sehr merkwürdig. Jeder europäische Ort hat selber eine unmittelbare Verbindung in die ganze Welt hinein. Und Sie wissen, die Schweiz hat so viele Verbindungen in die ganze Welt hinein, daß sie gar nichts von der europäischen Integration wissen will. Jeder Teil Europas gehört in die ganze Welt. Von dem winzigen Positano fuhren Schiffe geradeswegs nach New York! Aber in welcher Weise blieb man trotzdem sich selber treu? Auf dem Wege von Zaandam bis Amsterdam haben einst 1800 Windmühlen gestanden. Das war die erste Industrie in Europa, und jede Windmühle hatte ihren eigenen Namen, und zwar waren es sehr schöne Namen. Auch das ist europäisch. Und ich kam von Norden nach Zaandam aus Bergen, aus der Volkshochschule, die mich eingeladen hatte, weil sie dort unter meiner Flagge seit 25 Jahren segeln, und ich wußte von dieser Gefolgschaft gar nicht: Sie haben mir das erst dort erzählt. Da blüht also etwas im Geheimen. Auch das gehört zu Europa. Man glaubt es wegen der Presse und des Radios ja gar nicht. Aber es gibt noch Geheimnisse und Überraschungen; es wächst noch etwas in der Stille. In diesem Heim, da waren fünf Leute aus Israel, und was noch wunderbarer ist, da waren Großbauern von der Seine und Landlehrer von der Loire und Leute aus Dänemark und arbeiteten zusammen. Es waren auch Deutsche da, obwohl der Bruder des Leiters von den Nazis umgebracht worden ist. Dieser reiche europäische Geist, so hatte ich gebeten, sollte das sein, über dessen Einheit ich hier in Loccum sprechen will, und nicht über europäische Kultur.

Die europäische Kultur ist nicht nur nicht einheitlich, sondern sie ist ein Ruhekissen geworden für sehr viel Mißbrauch. Kultur im deutschen Munde besonders, in unser aller Munde, ist ein polemisches Wort, und es ist heute ein durchaus schädliches Wort. Ich warne Sie vor seinem gedankenlosen Gebrauch. Daß Heine die Taufe das Entreebillet zur europäischen Kultur genannt hat, sollte uns aufschrecken. Tatsächlich ist das Wort „Kultur” erfunden worden gegen die Zivilisation am Ende des 18. Jahrhunderts im Kampf gegen die Französische Revolution. Wenn Sie die Einheit des europäischen Geistes wollen, bitte ich Sie, das Wort Kultur zu vermeiden. Der europäische Geist muß fertig werden mit der Kultur, der katholischen „civiltá” der Italiener, mit der „civilisation” der Franzosen und mit der „Kultur” der Deutschen, auch wenn es mit allem diesem zur Zeit schwach bestellt sein mag. Ich habe gebeten, von der Einheit des Geistes sprechen zu dürfen, weil man dem Geist gehorchen muß. Der Geist befiehlt, wenn er Geist ist; sonst ist er keiner. Es gibt natürlich sehr viel Geist, der sich als Geist ausgibt und der eine bloße Beschäftigung ist für die Muße. Von dem sei nicht die Rede! Wir wollen ja von den Mächten sprechen, die vielleicht zur Einigung Europas beitragen können. Diese Mächte sind stärker als unser menschlicher Wille.

Der europäische Geist, von dem ich sprechen will, ist gebieterisch. Das ist das erste. Und er hat den Völkern Europas in den letzten 900 Jahren Befehle erteilt. Sie werden nur integrieren, wenn Sie wissen, daß das nicht von Ihrem Willen abhängt. Mir selber ist dies Europa und sein Gebot zum Schicksal geworden: Ich bin, nachdem ich glaubte, sein Geheimnis erfaßt zu haben, erst bereits 1918 und dann 1933 aus ihm herausgeschleudert worden. Aber auch das hat der Geist getan, und ich habe zwei Male freiwillig gehorcht. Ich weiß also, was Gehorsam gegen geistige Vorgänge ist. Es wird so viel Mißbrauch mit diesen Dingen getrieben, daß ich das erst herausstellen muß; denn es lohnt nur, von den Mächten zu reden, die unser Leben bestimmen. Wir können uns doch nicht einbilden, daß wir dem Herrgott die Vorschriften machen. Sie werden sehen, daß trotzdem sehr viel Raum für unser eigenes Denken und Handeln da ist.

Dieser europäische Geist ist ein weltlicher Geist. Er ist ein Geist der Völker und der einzelnen, der auf die kirchliche Überlieferung des Abendlandes eine wirkungsvolle, aber eine säkularisierende Antwort erteilt hat und wahrscheinlich auch erteilen wird. Der europäische Geist ist nicht einfach christlicher Geist, er ist nicht einfach kirchliche Überlieferung; nein, nachdem die Völker Europas Christen geworden waren, schließlich sogar die Friesen oder die Isländer, hat der europäische Geist der Stimme Christi geantwortet. Er hat kurz kehrt gemacht und hat sich der Welt zugewendet, er hat eine Aufgabe übernommen, und er hat die Welt verwandelt, „ex orbe in orbem” - in den letzten hundert Jahren hat Europa die ganze Welt sich gleichgemacht, und im Augenblick wird China europäisiert. Indonesien wird europäisiert, Ägypten wird europäisiert. Es ist nicht sehr angenehm, wenn man sieht, wie das aussieht bei den andern. Aber das ist Europäisierung.

Es gibt noch einen Grund, weshalb ich gebeten hatte, mich nicht über die europäische Kultur reden zu lassen; Ich habe eine Tagung von 1931 über die Einheit der europäischen Kultur in schmerzlicher Erinnerung. Sie war damals von der Europäischen Union des Prinzen Rohan nach Heidelberg einberufen worden. Ich weiß nicht, ob wir irgend jemand sonst hier haben, der dieses Fest vor dem Untergang des alten Europa mitgemacht hat. Da haben sich die Kulturträger der verschiedenen Nationen ein Stelldichein gegeben und haben, entwicklungsmäßig, ohne Katastrophe, ohne große Kriege und Revolutionen, ohne Umsturz, geglaubt, sie könnten Europa zusammenreden, indem sie jeder sozusagen ihren eigenen Beitrag zu dieser europäischen Kultur anpriesen. Da waren Rumänen, da waren Polen, da waren Franzosen, da waren Italiener, da waren Spanier, da waren Deutsche - alle haben versucht, die anderen zu überreden und davon zu überzeugen, wie unentbehrlich ihr eigener Beitrag zur europäischen Kultur sei. Sie können sich denken, daß aus dieser Multiplikation oder Addition, aus dieser Liste von wirklich sehr ehrenwerten europäischen Leistungen wie der Stadt Paris oder dem Vatikan oder der deutschen Universität, oder dem englischen Parlament sich doch nichts, was nach Integration aussieht und was von der Einheit des europäischen Geistes hätte zeugen können, herausdestillieren ließ. Die Ohnmacht der europäischen Kultur war schreckensvoll in jenen Tagen der Arbeitslosigkeit und der Depression und des herannahenden zweiten Weltkrieges auf dieser Tagung verkörpert. Das hat mich erschreckt. Ich bin damals in großer Trostlosigkeit von dieser Tagung fortgegangen. Ich hatte da nichts verloren. Das war eine verlorene Position. Der tiefste Grund dafür ist, daß Sie von der Einheit des europäischen Geistes erfolgreich wohl nur dann Notiz nehmen werden, wenn Sie sich dazu verstehen, die Katastrophen Europas mit den zwei Weltkriegen in diese Einheit hineinzurechnen.

Um Ihnen das ganz deutlich zu machen, möchte ich Sie zurückführen in die Erdgeschichte, und zwar an ein merkwürdiges Datum, an dem ein Geologe in einer merkwürdigen Tiefenahnung den eigentlichen Charakter unseres Erdteils hier zusammengebracht hat mit den großen Erschütterungen der Erdkruste in der Erdgeschichte. Der große Wiener Geologe Eduard Süß, dem die Stadt Wien ihr Trinkwasser vom Semmering verdankt, hat im Jahre 1889 einen Vortrag in der Wiener Urania über die geologische Geschichte Europas, einfach die Krustenbildung, die Schichtenlage gehalten. Und um Ihnen die Umwelt zu zeigen, in der er sprach, bitte ich zu bedenken, daß er in dem Augenblicke sprach, als Nietzsche den Weltkrieg vorhersah und die Katastrophe Europas und darüber wahnsinnig wurde. Es war das Jahr, in dem die Marseillaise vor den Ohren des Zaren in Petersburg gespielt wurde, um das Bündnis zwischen Rußland und Frankreich zu bekräftigen, das den Weltkrieg dann auch unvermeidlich machte, und es war drittens das Jahr, in dem der Erzherzog Rudolf von Österreich ermordet wurde, der Thronfolger, der vielleicht diese Monarchie noch hätte zusammenhalten können, und so war schon im Jahre 1889 für jeden, der etwas tiefer sah, die Katastrophe Europas des 19. Jahrhunderts, des Europas der Nationalismen, mit gesetzt. Es ist unbegreiflich, daß darüber noch 25 Jahre hingingen, bis das Fazit gezogen wurde. 25 Jahre lang hatte die Österreich-ungarische Monarchie keinen wirklichen Nachfolger, und die Konkursmasse war eröffnet. Jeder, der damals Österreich besucht hat, und ich habe das, weiß, daß man sich ganz klar darüber war, daß die Ermordung oder der Selbstmord von 1889 das Ende der habsburgischen Sukzession bedeutet hat. In diesem Jahre also hielt Eduard Süß einen Vortrag und schloß mit den Worten, er habe zwar nur als Geologe gesprochen, aber er wolle doch darauf hinweisen, daß der Erdteil Europa ein sehr merkwürdiger Erdteil sei, denn er habe geologisch fünfmal seine Struktur in großen Katastrophen verloren und sie dann wieder aufgebaut.

Ich glaube immer, daß die Naturforscher seelische Ereignisse der Menschheit in ihre sogenannte Wissenschaft projizieren. Ich glaube weniger an die Millionenjahre der Geologie als an die Jahrhunderte der Geschichte, und ich glaube, daß Eduard Süß in der Weise, wie wir alle projizieren, in die Sterne und in die Erde projiziert hat, was zum Wesen der europäischen Geschichte gehört: Die Verwandlung unter Donner und Blitz.

Davon möchte ich nun zunächst etwas sagen. Ich will von solchen Verwandlungen, in denen Europa refiguriert worden ist, sprechen; denn Sie und ich, wir haben ja eine solche Verwandlung durchgemacht. Und wenn Sie an der vorbeisehen und nur Ihren menschlichen Willen fragen, glaube ich, werden Sie die Linien der Integration verfehlen, die uns bereits, auferlegt sind. Sie liegen schon in dem, was geschehen ist. Wo nämlich Menschenblut fließt und Menschen geopfert und Städte zerbombt werden, da geschieht etwas Bleibenderes: Verwandlung unter Donner und Blitz. Sehen Sie, Europa ist das Geschenk des Golfstroms. Man hat von Ägypten gesagt, es sei das Geschenk des Nils. Von Griechenland kann man sagen, daß es das Geschenk des Mittelländischen Meeres ist, diese Inselwelt, aus der unsere alte Kultur herkommt, die unserm Erdteil den griechischen Namen, Europa, verliehen hat. Ähnlich ist es aber mit Europa selber: Es ist ein einmaliges Geschenk.

Wenn man wie ich in Amerika lebt, wo es keinen Golfstrom gibt, dann lernt man das erst sehr schätzen. Die große Milde Europas, vom Nordkap und von Schottland herunter bis gegen Belgrad und bis gegen Triest, hat Europa durch den Golfstrom zu einer Einheit werden lassen, in der die Winter nicht so sind wie in Amerika. Denn in den wenigsten Ländern der Erde gibt es Frühling. Das wissen Sie gar nicht. Durch diese Mäßigung gibt es vier Jahreszeiten. In den meisten Ländern gibt es zwei oder höchstens drei; infolgedessen ist in Europa der Rhythmus sanfter in allem, auch die Übergänge von Volk zu Volk und von Provinz zu Provinz. Deswegen ist es möglich gewesen, in jedem Lande Europas alle Gegensätze des ganzen Erdteils noch einmal zu haben. Sie wissen, daß der Gegensatz von Nordfranzosen und Südfranzosen größer ist als der Gegensatz zwischen Franzosen und Deutschen. Der Gegensatz zwischen Schotten und Welschen und Leuten im Commonwealth ist größer als der Gegensatz zwischen Engländern und Iren. Das will was heißen. In jedem Lande Europas sind die Gegensätze schroffer als im Ganzen. Ich glaube, das liegt an dem Golfstrom. Dazu muß ich Sie aber einen Augenblick bitten, Ihr geographisches Weltbild umzudenken und sich vorzustellen, daß Europa beginnt, bevor diese großen Verwandlungen jedes Jahrhundert unter Donner und Blitz in eine neue europäische Situation versetzen. Ich muß Sie daher bitten, die übliche Karte vor Augen zu haben. Wir tragen alle innerliche Brillen, in der Rußland im Osten liegt und Frankreich im Westen und Schweden im Norden, also oben, muß man deutlicher sagen, und Italien, der Stiefel unten.

Wenn Sie einen Augenblick mal - es wird sehr schwer für Sie sein - sehen, daß Europa angefangen hat vor tausend Jahren, zur Zeit Karls des Großen, zur Zeit Ottos des Großen, zur Zeit Heinrichs des Heiligen; der Eindruck auf die Menschen, die damals lebten, war, daß die Achse Europas von Schottland nach Brindisi laufe. Wenn Sie dies als die Waagerechte nehmen, wenn Sie also die Karte um 90 Grad umdrehen, dann werden Sie die Merkwürdigkeit in Europa begreifen, daß um diese Achse sich nach Süden, also, ich muß ja jetzt sagen nach links und nach rechts, nach Osten und nach Westen, mehr und mehr Länder allmählich auskristallisiert haben. Im Jahre 1000 gehörte Spanien nicht zu Europa. Da waren die Araber. Portugal gehörte nicht zu Europa. Die Pilgerstraße, die von Jona in Schottland über Canterbury und London herüber nach Frankreich führte, ging durch Cluny, durch Burgund, dann ging sie über die Alpen, den Mont Cenis, und dann ging sie über Mailand nach Bologna, und von Bologna kreuzte sie wieder zurück auf die andere Seite der Halbinsel - Bologna liegt ja an der Westküste am Adriatischen Meer - und ging herunter nach Salerno. Dann lief sie entweder nach Palermo weiter oder nach Brindisi; von da konnte man ins Heilige Land auf die Pilgerfahrt gehen. Das ist wichtig, wenn Sie sich, um sich als Europäer zu fühlen, einen Augenblick dieser Anstrengung unterziehen, mit unseren Vorfahren so zu denken, daß das, was feststand als die europäische Achse, wirklich die Golfstromachse war, die Achse des warmen Klimas bei Nordschottland, wo kein Mensch es erwartet, eines gemäßigten Klimas wenigstens; sehr neblig, das wissen wir ja, aber immerhin, nicht viel Eis und nicht viel Schnee. Die Menschen, die auf dieser Pilgerstraße wanderten, hatten das Gefühl, daß an ihnen das Schicksal der römischen Überlieferung und der römischen Kirche hing. Die drei Zentren, Paris, Bologna und Salerno, das heißt die Zentren für den Gottesglauben, Paris, den Leibesglauben, die Gesundheit, Salerno, und für das Recht der weltenmenschlichen Gemeinschaften, Bologna, die hängen mehr oder weniger als Ausbuchtung an dieser Kraftlinie. Da hat sich der europäische Geist zuerst gefunden.

Um diese Achse herum haben nun die ungeheuren Zauberwirbel großer Konvulsionen und großer Verwandlungen stattgefunden. Der erste solcher Wirbel war die Zeit Heinrichs IV., des berühmten Canossagängers, gerade auch auf dieser Straße in Bologna. Bologna, die Universität, ist ja die Frucht des Investiturstreites geworden. Hier finden wir eine Verwandlung, die die Europäer in Kaiserliche und Päpstliche teilte. Nach 50 Jahren Blutvergießens über ganz Europa ging man, zum erstenmal in der Weltgeschichte, daran, von dem Gegensatz zwischen Kirche und Staat zu sprechen. Diesen Gegensatz hat es im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung nicht gegeben. Der Kaiser war selber ein Kirchenmann; er war eine kirchliche Institution. Das hatte sehr praktische Bedeutung. Trotz der ungeheuren Verwandlung, deren erste dieser Kampf zwischen Kaiser und Papst gewesen, ist seitdem eine einheitliche Aufgabenstellung den Europäern zugefallen, ein Gebot, wie sie sich weltlich in Gerechtigkeit ordnen sollten.

Die zweite Verwandlung hat Europa in Guelfen und Ghibellinen geteilt. Sie hat den Unterschied zwischen autonomer, Verwaltung, wie Sie sie noch in der Schweiz haben, kantonalen Regierungen, und den großen Territorien begründet. Die Guelfen gaben den Bauern Stadtrecht in der Stadt. Alle Toscaner, alle Bewohner der Umgebung von Florenz bekamen damals das Bürgerrecht, ebenso in Zürich und in Bern. Hingegen blieben die Bauern in Deutschland und in Schweden getrennt von den Städtern. Überreste davon erleben wir noch und leiden schwer unter ihnen. So etwas wie den gebildeten Toscanabauern gibt es bei uns nicht. Das war die zweite große Einteilung Europas in Guelfen und Ghibellinen. Auch da ging es tragisch her. Diese Befreiung des italienischen Landes hat vier bis fünf deutsche Kaiser verschlungen: Konradin ist deswegen in Neapel hingerichtet worden, und erst, als diese Hinrichtung des letzten Staufers ruhig hingenommen wurde, teilte sich die Welt für die weiteren Jahrhunderte in Guelfen und Ghibellinen, in Städter und in Landesuntertanen.

Dann gab es wieder Donner, Blitz und Verwandlung, den Bauernkrieg, die Reformation und den Dreißigjährigen Krieg. Die Welt, so nannte sich damals Europa, teilte sich in Katholiken und Protestanten. Angesichts der gegenwärtigen West-Ost-Teilung bitte ich Sie, sich zu vergegenwärtigen, daß damals der Gottesdienst getrennt zwischen Protestanten und Katholiken, durch das selbe Kirchenschiff oft, auf deutschem Boden verlaufen ist über Jahrhunderte. Das „Cuius regio eius religio” war eine fürchterliche Wahrheit. Es ist sehr notwendig, obwohl wir das natürlich nicht gerne tun, uns daran zu erinnern, daß jahrhundertelang solche Absurditäten durch fürstlichen Willen oder Willkür bestanden haben. Wenn sie in der Pfalz in dem einen Bett und in der einen Stube schliefen, wurden sie katholisch, und in der anderen Stube wurden sie protestantisch. Das alles geschah im Namen der europäischen Gerechtigkeit und der europäischen Ordnung. In dieser Reformation kommt der Name Europa ganz zu Ehren; in diesem 16. Jahrhundert erfolgte die Achsendrehung - hier in Loccum ist der Bruch zwischen Protestanten und Katholiken ja besonders deutlich zu spüren - wo wir noch einen Abt und jetzt wieder Bischof haben und doch Protestanten sind.

Obgleich Sie diese Achsendrehung jetzt alle im Kopfe tragen, bitte ich Sie dringend, sie als eine bloß relative geographische Vorstellung zu bewerten. Seit 1550 gibt es das Bild Europas in dieser Projektion. Seitdem bilden wir uns wirklich ein, daß Europa „in der Mitte” liegt zwischen Gibraltar und Ural. Das ist eine Erfindung des Reformationszeitalters. Wir müssen sie wieder loswerden. Ich warne Sie dringend vor diesem geographischen Weltbild, das eine sehr starke politische Überzeugung ausdrückt, daß nämlich Europa in der Mitte der Welt liegt; ich warne Sie, es für etwas Ewiges zu halten für etwas irgendwie mit dem Wesen Europas Verbundenes. Europa in der Mitte der Welt. So schön wie es hier ist, und so warm der Golfstrom ist, so ist Europa alles andere als die Mitte der Welt. Und in Merkators Projektion, so wie Sie es aus Ihren Schulatlanten alle gelernt haben, hat man Europa nur zwischen 1550 und 1914 gesehen. Je schneller Sie sehen, daß es ein vorübergehendes Bild ist, desto mehr werden Sie die Rolle Europas in der künftigen Welt gestalten helfen. Das ist eine Erbschaft, die heute dogmatisch schlimmer genommen wird als irgendeine religiöse Tradition. Kaufen Sie Andrees oder Stielers Handatlas - Sie finden immer dieses wunderbar überzeugende Bild, das aus der Kugel in die Fläche transponiert ist: In der Mitte ist Europa, rechts ist Asien, links ist Amerika. Der erste Mann, der diese Darstellung gab, hat sie Karl V. gewidmet. Und bei Karl V., in dessen Reich die Sonne nicht unterging, hatte das einen guten Sinn. Der herrschte in Ost und West von dieser Mitte um Augsburg herum, wo sein Drucker Merkator diese Karte erfunden hat.

Das war eine Revolution. Sie ist für uns hier in diesem Kreise, glaube ich, sehr interessant, weil das Wort Europa fortab überall verwendet wird. Erst nach Merkator gibt es das „Europäische Theater”, das war ein großes Sammelwerk, und es endet in dem „Europäischen Konzert”. Aber dazwischen liegen noch zwei große Verwandlungen unter Donner und Blitz. Die Kämpfe zwischen Bourbon und Habsburg haben die Form Europas von 1700 bis 1800 bestimmt. Diese Form Europas zwischen Bourbon und Habsburg wurde durch die Entscheidung Englands vom europäischen Gleichgewicht geschaffen. Schon Heinrich VII. hatte in seinem Schloß in Windsor den Satz „cui adhaereo, prae est” - „wem ich mich anschließe, der herrscht”, denn ich bin das Zünglein an der Waage. Das ist die Lehre vom europäischen Gleichgewicht, die damals entstanden ist und die Bourbon und Habsburg damals zu einer Art Schaukelpolitik gebracht hat, so wie sie der Kaiser und der Papst im Mittelalter geführt hatten. Wir lernen aus allen diesen Bildern wie Päpste und Kaiser, Guelfen und Ghibellinen, katholisch und protestantisch, Bourbon und Habsburg, daß die Einheit Europas immer aus Gegensätzen bestanden hat und daß nur in diesen Gegensätzen eine Befriedung möglich gewesen ist.

Wir haben dann nach den napoleonischen Katastrophen, die doch immerhin für Deutschland ungefähr 1450 souveräne Städte und Staaten beseitigt haben eine neue Form Europas seit 1815, ein Europa der Nationen, ein europäisches Konzert, mit Frankreich als der grande nation, als der Modellnation, als der Musternation, und überall je eine Hauptstadt mit Provinzen, eine Literatur und eine Nationalliteratur und wohlbestallte Professoren der nationalen Geschichtsschreibung. Das gibt es alles erst seit 1800, obwohl unsere Professoren hier der deutschen Geschichte und leider auch der amerikanischen Geschichte glauben, sie seien für die Ewigkeit bestellt. Ich glaube, daß die Professoren für deutsche Geschichte und für die amerikanische und für die englische schleunigst verschwinden sollten; denn das sind Reste der Zeit vor dem Weltkrieg.

Auch Professoren sind nicht unsterblich, oder sie sollten es wenigstens nicht für die sein, die Europa als etwas Dynamisches verstehen, das in jedem Jahrhundert neue geistige Ämter hat hervorbringen müssen.

Unsere ganze Diskussion wird ja durch niemand so verhindert wie durch die Geschichtsbücher unserer Professoren und Studienräte. Wie wollen Sie von der europäischen Integration sprechen, wenn doch alle Bilder, die diese Menschen in unsere Hirne hineinzaubern, von 1815 und 1870 stammen oder deren Verlängerung ins Ungemessene darstellen, und das, obwohl zwei Weltkriege dazu geführt haben, daß sich die ganze Welt in Europa ein Stelldichein gegeben hat? Sie sehen, mit Donner, Blitz und Verwandlung meine ich eine Anforderung an unser eigenes Denken, Schritt zu halten mit den Ereignissen. Seitdem die Gebildeten in Europa eine Partei des Nationalismus geworden sind, seit 1815 also, ist es mehr und mehr dazu gekommen, daß der Geist der europäischen Teile hinter den Forderungen des Geistes an Europa hinterhergehinkt hat. Die Gebildeten haben die Initiative verloren. Die Kirchen haben die Initiative verloren. Und Europa hat eben damit, daß es die Initiative verloren hat in diesem Weltkrieg, jetzt plötzlich eine neue Form anzunehmen, um sich wiederzufinden.

Aber wir sind nicht ohne Weisung über die Folgen des diesmaligen Donner-, Blitz-, Verwandlungsprozesses. Sie haben das alles genauso mitgemacht wie ich, und ich will Sie nur daran erinnern, daß wir den Mut haben müssen, uns zu fragen, was denn in dieser Verwandlung uns befohlen worden ist? Die Toten sind doch nicht umsonst gestorben. Weder die 6 Millionen Juden noch die 14 Millionen ausgewiesener Ostdeutscher können doch umsonst ihre Leiden getragen haben. Wollen Sie darüber zur Tagesordnung übergehen mit unseren eigenen Plänen? Das kann ich nicht. Wir können nur ausdenken, was gesagt worden ist. Es ist zu uns gesprochen worden, und wir müssen gehorchen. Was ist nun ausgesprochen worden? Was ist denn in diesen ungeheuren Verwandlungen, vom Papst und Kaiser angefangen, bis zu den Nationen Europas, zu dem europäischen Konzert und jetzt zu der Teilung Europas unter Fremdherrschaften - was ist denn da die einheitliche Note?

Es ist ein weltlicher Geist, sagte ich, den Europa repräsentiert als Antwort auf das Evangelium und auf die Kirche. Stellen Sie sich recht deutlich die zwei Partner vor; den kirchlichen Klerus, der erst missioniert hat, dann die Messe gelesen hat, das Gesangbuch gefüllt hat und den Gottesdienst, und der den Dankgottesdienst jeden Sonntag feiert. Und stellen Sie sich dann die Antwort der Völker als die europäische Antwort vor. Dann ist es gar nicht schwer einzusehen, was wir am Wochentage seit tausend Jahren exerziert haben. Was tut denn der Laie von Montag bis Sonnabend, wenn er erfolgreich in die Kirche geht? Er arbeitet doch. Und wie kann er arbeiten, wenn er nicht in Gerechtigkeit arbeitet? Der europäische Geist hat das Problem der weltlichen Gerechtigkeit zu lösen gehabt, und er hat es noch zu lösen. Die weltliche Gerechtigkeit ist der Vorgang der Rechtsprechung, der Gesetzgebung. Ich erinnere Sie noch einmal an die große Geschichte der letzten 900 Jahre, nicht an die Kulturgeschichte oder an die Kriegsgeschichte, sondern an die Anstrengungen der Menschen, gerecht zu sein, gerecht die Gesetze zu machen und recht zu handeln. Man kann von Montag bis Sonnabend nur arbeiten, wenn man zum Beispiel glaubt, den „justum praetium” für seine Arbeit zu bekommen. Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert, sagen wir. Wenn ungerechter Lohn bezahlt wird, gibt es eine marxistische Revolution. So möchte ich Sie nun in meinem zweiten Teil auffordern, mir zu erlauben, diesen Gang der Gesetzgebung durch Europa etwas ernst zu nehmen, denn daraus wird sich Ihnen zeigen, was ich zu beweisen hoffe, daß dieser Geist wirklich einheitlich am Werke gewesen ist und alle schwachen Punkte des gesetzgeberischen Prozesses, das Operieren der Gesetzgebungsmaschine, durch die Jahrhunderte immer neu geflickt hat.

Ein solches Flicken wird auch heute nötig sein, wenn Sie Europa integrieren wollen; denn Europa kann ja nicht Sache unseres Geschmacks sein oder unserer Wünsche. Es muß doch wohl ein Auftrag sein, der aus der Sendung des Menschen in die Welt hinein entspringt; die Sendung schließt die Aufgabe ein, daß wir gerecht handeln müssen, daß unsere Gesetze nicht nur weise und nützlich, sondern gerecht sein müssen. Kaiser und Papst und Fürsten und Parlamente und Wähler und heute die Sowjets, die Geringsten, die Armen, die Proleten haben Anteil an der Gerechtigkeit, wenn sie zu einem Volk gehören. Ein Volk ist nur ein Volk und hat nur eine Verfassung und Gesetzgebung, wenn es nach der Gerechtigkeit strebt. Die Gerechtigkeit führt in die Völker hinein, und gerecht ist nicht, was dem Volke nützt, sondern gerecht ist, was das Volk tun muß, ganz gleich,, ob es ihm nützt oder nicht.

Ich habe versucht, die europäischen Revolutionen als diesen Vorgang zu erzählen und Ihnen plastisch zu machen - dazu gehört Einheit. Wenn Sie recht haben wollen, muß ein Rechtskreis da sein, und den repräsentiert am Eingang der europäischen Geschichte die Tatsache des Kaiserreichs, des römischen Reiches. Das war die Einheit des Rechts für alle Christenmenschen. über den Inhalt des Rechts war damit gar nichts gesagt. Aber indem noch ein Kaiser da war, der alte Romkaiser der Überlieferung, hat dieses Europa gewußt, es sollte eigentlich ein Recht herrschen, ein römisches Recht, ein kaiserliches Recht, wie immer Sie es nennen wollen, aber jedenfalls ein Recht, ein Rechtszustand für alle Beteiligten. Heute nennen wir das abstrakt „Menschenrechte” oder Sozialrecht und ringen wieder darum. Aber das hat damals schon angehoben mit dem Hochgefühl, daß dieses ganze Gebiet nicht nur für Christus erobert sei, sondern daß es auch am Werktag unter einem Recht stehen müsse. Als dieses Romrecht Inhalt bekennen muß, öffnet sich ein neuer Zeitabschnitt: Die Geistlichen erheben ihre Stimme: „Du Krieger, Du Feldherr, Du Heerkönig, der Geist Christi muß Dich belehren, damit aus dem heidnischen Romrecht Dein christliches Reichsrecht werden kann.”

So kommt es zu der zweiten Stufe der Gesetzgebung Europas, daß dieses kanonische Recht hineinführt; wir alle leben ja von diesem kanonischen Recht, ob nun Protestanten, Juden, Heiden oder römische Katholiken, indem wir heute noch die Ehehindernisse des kanonischen Rechtes im wesentlichen respektieren: Bruder und Schwester können nicht heiraten wie die Kinder des Königs bei Homer; Sie können Ihre Mutter nicht heiraten - das steht alles im kanonischen Recht geschrieben. Vorher war das nicht so. Im weltlichen Recht der Stämme Europas war das Sippensache. Die Kinder wurden in der Wiege zusammengegeben wie Walther und schön Hildegund im Waltharilied. Erst die Kirche hat - wie Sie wissen, Sie brauchen nur die Promessi Sposi von Manzoni zu lesen - den einzelnen Menschen das Recht zur Eheschließung gegeben, das Recht, ja oder nein zu sagen. Das ist wohl die größte Tat des Investiturstreits geworden, das die Kiche die Ehgatten, auch die Frau, von der Bevormundung der Eltern emanzipiert hat. Es it also ein neues Recht in die Menschen in Europa hineingefahren. Sie wissen, die letzte solche Ehe, an der dann das Mittelalter zerbrochen ist, die Ehescheidung Heinrichs VIII. hat Epoche gemacht. Aber die Kirche hat die ganzen Jahrhunderte vorher um dasselbe Problem gerungen: Wie verleihe ich dem Mädchen, der Tochter, eine Stimme in dem Ehesakrament? Merkwürdigerweise wird heute von den römisch Katholiken gar nicht genügend hervorgehoben, daß in der Gesetzgebungsarbeit aller Gebiete Europas die Kirche eine entscheidende Stimme zur Emanzipation der Frau erhoben hat, und daß dies heute noch gilt. Sie haben jetzt in den letzten Tagen in Deutschland ein Gesetz verabschiedet, wo das ein bißchen übertrieben wurde.

Zur Gesetzgebung gehört aber auch die vollziehende Gewalt, und Sie wissen, daß die Fürsten der Reformation sich diese vollziehende Gewalt angemaßt haben, weil der Weltherrscher Karl V. viel zu weit weg war und den Bürgerkrieg in den einzelnen Provinzen seiner Herrschaft gar nicht verhindern konnte. Die Fürsten schwingen die Schwerter zur Vollstreckung; Luther nannte sie „die Henker Gottes”. Und es gibt in der Gesetzgebung nicht nur die schöne Einheit eines großen römischen Reiches auf dem Papier, und es gibt nicht nur die geistliche Belebung dieses Rechts durch große christliche Gesichtspunkte, sondern es gehört auch dazu die Schwert- und Polizeigewalt an Ort und Stelle, Land für Land. So ist es zu dem Reformationsrecht der Fürsten gekommen, zur Verwirklichung des gesetzgeberischen Prozesses. Auf dem Wormser Reichstag haben die Fürsten damals dem Kaiser gesagt: „Du magst ja diese Bannbulle des Papstes auszuführen verpflichtet sein, weil Du der Vogt der Stadt Rom bist und dem Bischof von Rom helfen mußt, aber wir kriegen den Bürgerkrieg in unserem Territorium, wenn wir den Luther ächten.” Und der Erzbischof von Mainz hat damals verweigert, das Reichssiegel auf das Wormser Edikt zu setzen, weil er verantwortlich sei für den Frieden in seinem Territorium, und er könne den Bürgerkrieg im Erzbistum Mainz nicht entfesseln. Sehr interessant. Da war ein Erzbischof als weltlicher Fürst, als Landesherr, verantwortlich für die Exekutionsgewalt, für das Durchsetzen des Rechtes. Sie wissen, wie schön das theoretisch ist. Sie brauchen nur die Parteiprogramme zu lesen. Was da alles auf dem Papier steht über die Frage des Rechts, - es ist eben auch die Frage, ob man es ohne Blutvergießen durchsetzen kann. Deshalb ist die Reformation eine grundlegende Rechtsveränderung gewesen.

In der nächsten Verwandlung des 17. Jahrhunderts ist es in Europa zum Parlamentarismus des englischen Unterhauses gekommen. Da wurde den Fürsten eine Vorberatung durch die Stände auferlegt. Der Fürst in England ist ja offiziell heute noch souverän, der als Normannenkönig sein „plaisir” über ein neues Gesetz ausdrückt. Es ist nur eine kleine Änderung eingetreten seit der Adelsrevolution: Bevor der König irgend etwas sagen kann, muß der Sprecher des Unterhauses sich in das Oberhaus begeben, niederknien und dem König sozusagen ins Ohr flüstern, was er sagen darf und was nicht. Das heißt, das christliche Volk, die Stände, die Gentry von England wurden nun im Gesetzgebungsprozeß eingeschaltet, mit einem Vorsprechrecht, und es wurde da also vor der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt eine Beratung eingelegt. Durch die merkwürdige Maschinerie des englischen Parlamentes wurde der Gesetzgebungsprozeß des sakramentalen Rechts als eines Formulars für alle auf geistlicher Grundlage stehen gelassen. Der Ton ist vorverlegt auf die Vorbesprechung am Tisch der Gemeinen, und was nicht erst auf diesen Tisch gelegt worden ist, existiert bei dem Staatsrecht gar nicht. Dadurch sind die Perücken und Trachten der Kanzler und Lords noch alle da, und doch dienen sie nur der Bemäntelung. Das ganze Gewicht des Vorganges der Gesetzgebung ist vorverlegt in das Haus der Gemeinen, in dem keiner ein Individuum ist, in dem dieses kleine enge Grüppchen, das es ursprünglich war, zusammen berät und dann mit einer Stimme hinüberzieht und dem König sagt, was Recht werden soll und darf.

Unterschätzen Sie nicht die Sehnsucht der Menschen in jedem Jahrhundert, gerecht zu sein, wenn Sie jetzt denken, ach, Parlamentarismus, das ist lange her, wir haben jetzt Adenauer. Die Verachtung der „Sprache”, und Sprache ist das deutsche Wort für Parlament (vgl. frz. parler), ist doch ein großes deutsches Unglück, und wir haben niemals diese englische Selbstverständlichkeit der Mitberatung des Volkes an der Gesetzgebung mitgemacht. Ich werde nie vergessen, wie mir der verstorbene Ministerpräsident von Württemberg, der alte Weizsäcker, der Vater des Staatssekretärs und Viktor Weizsäckers, der Großvater von Karl Friedrich von Weizsäcker, gesagt hat: „Wenn ich an das Parlament denke, wird mir speiübel.”

Die nächste Verbesserung der Gesetzgebung, die von 1789, wird oft mißdeutet. Man denkt meistens, weil wir direkt aus dem Fürstenstaat kommen, die Franzosen hätten dasselbe parlamentarische System wie die Engländer. Sie wissen aber selber bei genauerem Hinsehen, daß das gar nicht so ist. Sie brauchen ja nur Herrn Macmillan mit Herrn Mollet zu vergleichen, dann wissen Sie, daß erst in Frankreich zu den Abgeordneten der einzelne Wähler als „die Gallerie” hinzugekommen ist. Im englischen Unterhaus war bis vor kurzem die Wählerschaft, der einzelne Wähler, ganz einflußlos. Die Partei hat die Kandidaten ernannt, ernennt sie auch heute noch. Der Führer der Partei bestimmt, wer kandidiert, und schickt den Mann in die Wahlkreise hinein - und Torries und Whigs haben als Adelscliquen regiert. In Frankreich ist es nicht so: dort hat jeder Kandidat eine besondere Beziehung zu seinen Wählern und repräsentiert ihre Interessen und ist ganz unabhängig von seiner Partei, weil er nach Hause geht und dort auf seine Wähler hört. Wer sind die Wähler in Frankreich? Das sind die Besitzenden, das sind die Leute, die Interessen vertreten. Und so ist die Nation des 19. Jahrhunderts hineinverlegt in die Interessen der Wähler, und sie sagen, was gerecht ist. Das wird Gesetz. Und wieder bitte ich Sie, diesen ungeheuren Prozeß zu würdigen, der ja darin besteht, daß wir römisches Recht, christliche Grundsätze, Exekutivgewalt, Vorberatung durch die lokalen Gewalten (die sind nämlich der Adel), Berücksichtigung der Wählerwünsche, in einem großen Gesetzgebungsvorgang vor uns sehen. Immer hat jedes Gesetz alle diese Interessen zu berücksichtigen gehabt. Aber Jahrhundert um Jahrhundert hat man den Akzent auf etwas anderes gelegt und hat noch tiefer in das Werden der Gerechtigkeit auf Erden hineingegriffen. Als man auch auf den Wähler Rücksicht nahm in Frankreich, änderte sich wieder das System der Regierung - aus einem Adelsregiment wurde ein bürgerliches Regiment, und wir bekamen ein bürgerliches Recht.

Wie ist es nun heute? Was ist heute der europäische Gesetzgebungsauftrag? Heute fragen wir nach den stummen Opfern der Gerechtigkeit, nach denen, die nicht sagen können, was sie leiden, die unter dem Gesetz verkümmern. Das ist die Idee des Betriebsrats in der Fabrik. Wo immer heute unser Verwirken der Lebensaussichten durch und als die Folge unseres Wirkens Beachtung findet, da haben wir eine veränderte Stufe der Gerechtigkeit und der Gesetzwerdung in der Welt. Wir dürfen dem nicht ausweichen, weil die Russen das „Sowjet” nennen. Denn es ist ein weltweiter Vorgang; es ist Schwierigkeit, daß „Sowjet” ein russischer Name ist. Mein College in Amerika ist ein sehr gutes Beispiel. Da können Sie heute noch, weil es eine bürgerliche Institution ist, alles gegen den Präsidenten der Vereinigten Staaten sagen. Das gehört zum guten Ton. Die Kritik an der politischen Zentralgewalt ist in Amerika heute noch vollkommen frei. Es wird sogar erwartet, daß man darüber schimpft oder kritisiert und auch zustimmt. Es wird ja nicht sehr viel räsonniert in den Vereinigten Staaten. Man ist sehr optimistisch. Also, die bürgerliche Wählerfreiheit ist da. Im Interesse meiner eigenen Eigentumsrechte, steuerlichen Wünsche usw. kann ich auf die Regierung schimpfen. Sie können aber in dem College, in dem ich unterrichte, niemals etwas gegen die Verwaltung dieses College sagen. Da gilt strengstens: „Wes Brot ich esse, des Lied ich sing’.” Sie können den Präsidenten des College nicht öffentlich kritisieren. Das geht nicht. Genau so ist es bei uns. Die Partei kann den Bundespräsidenten oder den Bundeskanzler kritisieren. Jeder Arbeiter kann sagen: Die Regierung in Bonn ist miserabel. Aber es ist ein weiter Weg, zu sagen (laut und öffentlich): „Mein Betriebsleiter ist miserabel”, das will niemand hören. Das ist in der ganzen bürgerlichen Welt noch heute so, daß die Beschwerde an Ort und Stelle noch nicht anerkannt wird. Aber das Beschwerderecht über die Großen, in Bonn oder in Berlin, hat die Französische Revolution glücklich erfunden. Es ist offenbar, daß der Weg der Rechtfindung und der Gesetzgebung nicht zur Ruhe kommen kann; immer müssen alle Punkte des gesetzgeberischen Prozesses durchleuchtet und erfaßt werden.

Ich nenne Ihnen drei ganz kleine Punkte, wo ich sehe, daß in Ost und West in Europa dieser Prozeß der Verlegung des Accentes auf eine Stufe vor den endgültigen Formulierungen des Rechtes belebt wird. So, wie diese „Vorverlegung” beim Wormser Edikt in Gang gesetzt worden ist, so wie sie bei dem Parlamentarismus in England geschehen ist. Der Kaiser hat auf die Geistlichen hören müssen. Die Fürsten haben auf die Stände hören müssen. Die örtlichen Stände haben auf die Standpunkte der interessierten Wähler hören müssen. Heute müssen die Wähler auf die Opfer ihrer Interessen hören lernen, auch dann, wenn dies Opfer selber seine Verkümmerung nicht artikuliert. Manchmal ist es ja ihre eigene Tochter. Welcher Industrieller kann daran vorbeisehen, daß seine eigene Tochter Sekretärin, vielleicht in einem anderen Werk, sein muß? Dann findet er plötzlich Verständnis für die andere Seite der Medaille. Keiner von uns ist heute Herr über das Schicksal seiner Kinder. Und weil er das nicht ist, betont er plötzlich ein sehr geschärftes Gewissen für die andere Seite. Der Wähler kann abstimmen; aber der verkümmerte Mensch bleibt unartikuliert. Niemand von uns kann seine eigene Frau, seinen Sohn, seine Tochter über zehn Jahre hinaus sichern. Darum müssen wir wollen, daß sie eine gerechte Ordnung vorfinden, in der ihre Verkümmerung geheilt werden kann.

Um Sie aber zu ermutigen und zu zeigen, daß das ein großer weltweiter Vorgang ist, der meiner Ansicht nach durch die Weltkriege und nicht durch die angebliche Russische Revolution verursacht worden ist, dieser Beschwerde des gemeinen Mannes stattzugeben, will ich Ihnen drei kirchliche Beispiele nennen, wo ich glaube, daß sogar die Kirche sowjetisiert werden muß und schon sowjetisiert wird. Sie erlauben, daß ich das Wort „Sowjet” hier absichtlich gebrauche, um Sie zu schockieren. Es ist ein Vorgang, den Sie im Betriebsrat ja schon vor sich sehen. Also wird das russische Wort nur gebraucht, damit es die Beschneidung der Privatinteressen verkündet, das Ihnen also zeigt, daß wir jetzt noch immer um die Gerechtigkeit besorgt sein müssen. Ich besuchte eine Landschule, ein berühmtes Landschulheim. Es wird geleitet von einem Herrnhuter, aber es ist eine konfessionslose Schule. Der Leiter hat sehr wie er eine Andacht gestalten soll. Es sieht nun auf der Oberfläche so aus, als ob das doch nichts mit Gerechtigkeit zu tun hätte. Sie werden sich wundern. Am Montag wird ein Bibelspruch gelesen und nichts weiter dazu gesagt, er wird nicht kommentiert. Es sind aber 300 Kinder, und man hat das Gefühl, die Lesung ist doch zu tot. Am Donnerstag jeder Woche hat der Leiter daher eine Besprechung mit denen, die dazu kommen wollen, Katholiken oder Protestanten oder Dissidenten, etwa 30. Nun wird der Spruch, der am Montag gelesen werden soll, durchgesprochen. Jeder versucht, ihn zu verstehen. Der Leiter sagte mir: „Das Resultat ist oft, daß alle sagen: wir verstehen es nicht, das ist zu schwer”. Mag sein, daß sie es nicht verstehen. Aber diese Vorberatung am Donnerstag, sagt er, elektrisiert das Lesen am Montag, weil man da vorher, bevor es zur Formulierung kommt, sich zusammengesetzt und beraten hat. Deshalb ist da eine tragende Gruppe in der Mitte dieses Andachtsvorganges am Montag. Die ganze Schule spürt das und hört wirklich zu, weil sie weiß, daß einige sich das vorher haben sauer werden lassen. Das ist wie ein Ateliervorgang, das sogenannte „Avant-la-lettre”, bevor das Bild nach draußen kommt, daß man das Werden dieses Entschlusses, diesen Spruch zu lesen, wirklich mal bekanntmacht, eine Vorverlegung in die Abgründe des noch Ungeformten, des noch nicht Fertigen, der Skizze.

Ich kenne eine Mutter, die wollte ihrem Sohn das Beten beibringen. Sie war aber zu gewissenhaft, um ihn einfach ins Gebet zu nehmen. Sie nahm also das Kind eines Tages in die Küche, und sie buken zusammen einen wunderbaren Kuchen. Infolge der außerordentlichen Anstrengung der beiden zusammen begriff das Kind ohne weiteres, daß man seinem Schöpfer ausdrücklich danken müsse. So sprach es sein erstes Tischgebet aus dieser eigenen Freude heraus. Ferner kenne ich einen Arbeiterpfarrer; der predigt am Sonntag, und am Freitag sagt er zu den Arbeitern, mit denen er arbeitet: „Ihr müßt mir helfen.” Dann sagen sie, wörtlich hat sich das so abgespielt: „Wir helfen dir doch. Du bist ungeschickt genug. Wir haben dir immer deine Sandsäcke mit tragen geholfen.” Da sagte er: „Das meine ich nicht. Ich muß meine Predigt machen. Könnt ihr mir nicht helfen?” Und dann haben sie ihm geholfen. Jetzt wird also die Predigt am Freitag aus den Fragen und Zweifeln der Arbeiter auf die Kanzel heraufgehoben, bevor er sie dann am Sonntag von der Kanzel hält. Das ist die bessere Predigt. Und das nenne ich eine Vorverlegung des Aktes der Entstehung der Predigt in die Seelen der Hörer, die unter ihr werden leiden müssen. Das ist also die neue Gerechtigkeit für die Leute unter der Kanzel!

Ich habe Ihnen mit diesen Beispielen erleichtern wollen zu begreifen, daß der Auftrag eines weltlichen Europas immer noch, wie am Anfang und wie in der Mitte seiner Geschichte, die Gerechtigkeit sein muß. Dieser große Akt der Rechtwerdung unter uns Menschen ist der einzige Grund, weswegen wir überhaupt zusammen sprechen und zusammenkommen als wirkliche Träger einer wirkenden Verantwortung. In der Arbeitszeit, wo wir bloß stumm zu arbeiten scheinen, leben wir uns auseinander und verwirken unser Heil. In der Gesetzgebung und in der Rechtsprechung müssen wir uns immer wieder gegen dies Verwirken zusammenfinden. Deshalb nenne ich den Geist einen Prozeß. So nennt ihn nämlich auch das Credo, nach dem der Geist procedit ex patre filioque. Im Zeitalter geistiger Überheblichkeit der Intelligenz, der Professoren und aller, zu denen ich selber zähle, ist das vergessen worden. Wir haben den Geist gepachtet gehabt, wir haben uns Gebildete genannt, doch haben wir vergessen, daß der Geist ein Prozeß ist, der auch über die Gebildeten hinwegschreitet, wenn sie ihn nicht prozedieren lassen, wenn er nicht operativ werden kann in ihrem Tun. Der Geist ist gar nichts Abstraktes oder Intellektuelles, der Geist ist fruchtbar. Er versucht sich heute mehr und mehr aus den Leiden der Menschen zu nähren. Und die Leiden der Leidenden, ob das nun Kinder sind, die durch die Routine der Eltern zum Plappern von Gebeten veranlaßt werden sollen, oder ob es die leidenden Hausfrauen sind, oder die Leiden der Lehrer, der Studenten, der Schüler - diese Leiden verlangen heute Gehör zur rechten Zeit, nicht nachdem das Gesetz entstanden ist, sondern vorher.

Alle Reformen der europäischen Integration, alle Begegnungen, müssen diesen Charakter haben, daß die Menschen ihre Klagen über Ungerechtigkeit frei aussprechen können. Nicht das Schöne ist heute der Gegenstand der Erörterung wie im 19. Jahrhundert, wo man sich an Kunst und Wissenschaft gemeinsam vergnügte und nach Bayreuth pilgerte. Mit Bayreuth werden Sie Europa nicht integrieren können nach diesen großen Tragödien. Sie müssen heute fragen: Wo sind die Enterbten? Wo sind die Erniedrigten? Wo sind die Beleidigten? Und wir werden um so schneller mit dem russischen Weltbild und dem russischen Unrecht, das da geschieht, fertig, je gründlicher wir die von den Brüdern Karamasow her uns allen ja so wohlbekannten Entdeckungen der Untergründe der menschlichen Leiden und der menschlichen Seele aufnehmen und ernst nehmen und uns an ihrer Lösung beteiligen. Die Katastrophen gehören zum europäischen Geist, das Gerechtwerden gehört zum europäischen Geist. Die Einheit des Prozesses durch diese ganze Landmasse wird verbürgt durch die seltsame Privilegierung des Klimas, die Sie in keinem anderen Erdteil finden. Europa ist immer noch das große Experimentierfeld der übrigen Welt. Es ist unglaublich, wie die übrige Welt immer noch bereit ist, auf Europa zu hören. Aber Sie müssen anfangen, eine Sprache der Gerechtigkeit zu sprechen, nicht eine Sprache des Exportierens der Mona Lisa oder sogar der sixtinischen Kapelle als Kulturgut. Das nützt nichts. Damit können sie die europäische Kraft nicht mobilisieren. Die übrigen großen Völker haben nicht diese große Geschichte der Gerechtigkeit hinter sich. Wenn Sie mehr von der Leistung Europas hinsichtlich der Gerechtigkeit, des Gesetzes, der Ordnung sprechen und ihr nachsinnen, dann wird sich auch für das industrielle Problem heute und für die Kraftwirtschaft, die Europa braucht, eine menschliche Sprache finden lassen.

Die Montanunion ist nötig, aber sie beflügelt nicht die Phantasie. Die Phantasie der Menschen wird nur beflügelt, wenn sie von dem Leiden sprechen, unter dem der einzelne leidet. Dann können Sie auch die Montanunion prägen. Sie können sogar die Postunion prägen. Ich habe darunter gelitten, daß ich in drei Tagen immer andere Briefmarken kaufen mußte zwischen Deutschland und Holland. Wann bekommen wir denn die einheitliche Briefmarke oder wenigstens den einheitlichen Stempel oder irgend etwas, daß ich eine deutsche Briefmarke auch in Amsterdam auf einen Brief kleben darf? Ich glaube, wir bekommen das erst, wenn wir von der Gerechtigkeit reden und nicht von der Ungerechtigkeit ausgehen, als ob sie einfach weitergehen dürfte. Es ist nicht genug, so scheint es, es ist nicht genug davon die Rede, daß heute die Leiden, die ausgesprochen werden, die Menschen verbinden. Sie müssen ausgesprochen werden, das ist das erste, und dann werden sie auch ihren Weg finden zu ihrer Ordnung. Lassen Sie mich mit einer kleinen Geschichte schließen, die ich auf mich anwenden möchte. Es hat einmal in Deutschland einen Sparkommissar gegeben, ich glaube, er hieß Sämisch, und das ist lange her. Da hatten wir Inflation gehabt. Es war eine große Aufblühung des bürokratischen Apparates erfolgt, und dieser Reichssparkommissar hatte dann den Auftrag, alle überflüssigen Ämter abzuschaffen. Das hat er auch getan, und er hat es sehr gut gemacht. Zum Schluß mußte er natürlich auch das Amt des Reichssparkommissars abschaffen, und das hat er auch getan.

Wenn es mir gelungen ist, den Weg Europas vor Ihren Augen so zu vereinfachen, von den Katastrophen, die Eduard Süß in der Erdgeschichte beschrieben hat, bis zu dem augenblicklichen Schrei der Soldaten nach Gerechtigkeit in Europa, dann will ich mich gerne selber wie der Reichssparkommissar damals abgeschafft sehen. Denn dann werden wir die Wichtigtuerei ablegen, die heute dem Organisieren anhaftet, die Übertreibung der Pässe, Papiere, Unterschriften und Bescheinigungen. Es gibt heute einen hohen Richter, der gleichzeitig deutscher und englischer Staatsbürger ist. Er hat zwei Pässe. Und das Britische Home Office hat es ausgesprochen, daß es sich nur geehrt fühle durch dies doppelte Indigenat. Wie wäre es, wenn die in Westdeutschland hausenden Schlesier einen westdeutschen und einen polnischen Paß bekämen? Dann wäre die ostzonale Tyrannei aus dem Sattel gehoben. Dann hätte der Geist Europas einen neuen Prozeß eingeleitet, und das von den verrückt gewordenen Siegerstaaten begangene Unrecht wäre in seine Sühne eingetreten - und die Völker Europas in ihre Versöhnung. Denn Sühne und Versöhnung sind ein und dasselbe, nun werden Sie mir vielleicht nicht gram sein, daß ich das Fetischwort „Kultur” aus dem Europagespräch draußen ließ. Dies Wort nämlich läßt seinerseits draußen, woraus allein Europa aufhören könnte, ein geographischer Begriff zu sein: die seelische Aussöhnung seiner Bewohner.

aus: Das Geheimnis der Universität, Stuttgart 1958, S. 70–85

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