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Rosenstock-Huessy: Die Bedingungen des Friedens (1918)

Wieder sind Krisentage, wieder ist der Kampf zwischen Hauptquartier und Regierung entbrannt. Es zeigt sich genau das, was mich im Juli und Oktober erfüllte, dass unser Bevollmächtigter in Brest nicht die Autorität hat, die ein Aussenminister braucht. Durch die Öffentlichkeit des aussenpolitischen Lebens sind mit einem Schlage, aber durchaus nicht vorübergehend, sondern für lange Zeit die zwischenstaatlichen Angelegenheiten das Feld geworden, auf das sich die Interessen und Aufmerksamkeit der Völker, der Volksöffentlichkeit richten. Was im 19. Jhd. die innere Politik bedeutete, wird im 20. die äussere werden, der Tummelplatz der geistigen Kämpfe.

Das ist möglich, weil der Waffengang militärischer Art durch diesen Krieg innerhalb des engeren Europas erledigt,seine Wiederkehr unmöglich ist. Daher entscheidet sich durch das Duell Kuhlmann - Ludendorff, bzw. Reichstag - Hauptquartier, ob wir Deutschen die Führung der überstaatlichen europäischen Entwicklung übernehmen werden oder nicht. Es ist, als wären wir dafür aufgespart, als sei der deutschen Demokratie ihre Betätigung im Staatsinnem deshalb vorenthalten worden durch weises Geschick, damit sie sich mit all ihren Illusionen nun auf die Europäischen Fragen stürzen könne.

Schon heut zeigt sich ja, dass Frankreich und England zu diesem Heraustreten aus der bürgerlichen Innenbetriebsamkeit nationaler Demokratie nicht fähig sind. Seit der russischen Revolution hinken sie offensichtlich politisch als reaktionäre Mächte hinter den Mittelmächten her.

Möglich wird der deutschen Demokratie dieses Hineintreten in die europäischen Aufgaben nur durch das Heerkönigtum der Hohenzollern. In den Westländem wo das Heer der bürgerlichen Regierung untersteht und deren Arm ist, kann die Regierung nicht auch noch in der Aussenpolitik in Abhängigkeit geraten. Denn sie wird ja in inneren demokratischen Kämpfen produziert zur Vertretung des Landes nach aussen, damit der Bürger seine Ruhs, das Kapital seine Zinsen hat. Hingegen kann ein Reich, das auf der Treue des Heeres zum Kaiser gründet, die demokratische Flut zur Bewässerung des eingetrockneten Gesteins Europa freilassen, nachdem im Innern die meisten Fragen, ja alle Fragen zu solchen des Fachs und der Sachkenntnis geworden sind. Die Urhebekraft aller Parteiprogramme von vor dem Krieg ist erschöpft. Sie haben auf keinen Zulauf seitens der heimkehrenden Jugend zu rechnen. Denn diese Jugend versteht die Sprache nicht, die in jenen doktrinären konservativen, liberalen oder sozialistischen Lehrzetteln geschrieben steht. Diese Jugend versteht nur die beiden Rufe: Die Nation und Europa und wird sich unter diesen beiden Bannern zum Parteikampf ordnen. Die Vaterlandspartei ist deshalb keine Seifenblase, sondern die achte Schöpfung des europäischen Krieges. Ihr gegenüber vertreten die von ihr geschmähten Internationalen der Schwarzen (Zentrum), der Roten (Sozis) und der Goldenen (Fortschritt) allerdings und durchaus die europäische Sache. Aber diese Reichstagsmehrheit ist genau so realpolitisch wie die Minderheit der Vaterlandspartei. Sie vertritt genau so reale geistige und materielle Interessen wie diese von sich behauptet. Sie ist nämlich zwar europäisch aber nicht kosmopolitisch! Von allen Parteien des Reichstags sind nur die Unabhängigen Sozialisten international schlechtweg. Nur sie verwechselt Europa und die Welt. Nur sie halten den Krieg für einen Weltkrieg, in dem Herr Wilson, Haiti und Japan mitzureden hätten. Hingegen ist die Reichstagmehrheit genau so beschränkt wie die Vaterlandspartei. Und erst dies Borniertsein macht sie lebensfähig als Partei. Denn sie ist mit nichten eine Neuauflage des deutschen Michels von 1830 mit den Veilchenaugen, der sein ubi bene ibi patria sang; sondern sie ist ganz ehrlich begrenzt auf den so klein gewordenen Erdteil Europa. Nur Europa lässt sich nicht mehr getrennt oder national regieren. Diese Einsicht spricht aus der Mehrheitsresolution. Dabei ist vorausgesetzt, dass die Einzelstaaten einen Teil ihrer Allmacht opfern, dass sich kein Schützengraben hinfort etwa an der spanisch-französischen oder der schwedisch-norwegischen Grenze mehr auftun kann, ebenso wenig an der polnisch-preussischen oder holländisch-deutschen Grenze. Was die Gegner für die Weit ausschreien, wo es unmöglich ist, das verwirklicht das Doppelkaisertum für Europa. Die Mehrheit erkennt damit an, dass neben dem Nationalstaat das überstaatliche, europäische Zweikaiserreich in die Erscheinung getreten ist und nun Träger seiner Politik auch unter den Parteien der Völker sucht. Sie ringt sich - zum ersten Male - zu einer Anerkennung Österreichs durch, d.h. sie tritt aus dem selbstmörderischen Bannkreis der Nation hinaus in eine bereits verwirklichte grössere Einheit des europäischen Zusammenlebens.

Die Abschaffung der Geheimdiplomatie ist nur die äusserliche und dem Tage angehörende Formel für eine grundsätzliche Umlagerung unserer Aufmerksamkeit auf das Leben von Volk zu Volk. Auch die Vaterlandspartei ist in diesem neuen Sinne international. Dass sie dort wo die “internationale” Mehrheit Ja sagt, inbrünstig Nein ruft, ändert nichts an ihrer Abhängigkeit vom übernationalen Problem Europa. Sie ist nicht eine Partei innerhalb des “Vaterlandes”. Und sie ist daher subjektiv nicht unehrlich, wenn sie das betont. Sie ist die Partei des Vaterlandes contra Europam. Das heisst aber, sie ist aus internationalen Beweggründen entstanden, um Deutschlands Lage in Europa willen und aus ihr heraus. Das aber ist etwas Neues in der Parteiung der europäischen Politik. Und so bekräftigt die Gründung der Vaterlandspartei nur, wie weit der Umschwung bereits gediehen ist.

Die Vaterlandsretter bei uns wie anderwärts vertreten die Staatsräson in wortwörtlichem Sinn. Sie nehmen für die Einrichtungen und den Aufbau des Staats ihres Volks das Höchstmass von Vernunft und Vollkommenheit in Anspruch, das zur Zeit auf Erden erreicht sei. Tatsächlich steht auch bei den Grossmächten jetzt allenthalben der vollkommenste Vertreter der nationalen Eigenart an der Spitze. Niemand verkörpert besser als Lloyd George die Allgewalt des englischen Premierministers, niemand besser als Ludendorff und Hindenburg die glänzenden Eigenschaften des preussischen Soldaten; aber auch Clemenceau, der Tiger, der unberechenbare, kann als eine Krönung des Parisismus, als der nicht zu überbietende Vertreter des gallischen Republikanismus angesprochen werden.

In diesen Gestalten sind sich die Reiche heute noch selbst genug. Indem diese Männer herrschen, wird die auf sich beschränkte Unübertrefflichkeit, die geistige Souveränität dieser Staatsgebilde behauptet. Sie sind die endgültige Kristallisationsform der grossen Mächte, die sich in diesem Kriege erschöpfen. Aber gerade weil sie endgültige Kristallisation der heutigen bisherigen Mächte sind, müssen sie fort und werden sie von ihren eigenen Völkern aufgeopfert. Denn die Völker werden durch Endgültiges getötet. Vielmehr sie können kein Endgültiges ertragen, weil sie nie zu Ende, weil sie unsterblich sind. Der ganze herrliche Kristallpalast der nationalen Grossmächtigkeit muss zerbrochen werden, weil er ein Ende, eine Sackgasse bedeutet. Die Völker können keiner gegenwärtigen, bereits erreichten Erstarrungsform ihrer Lebenskraft sich selbst zum Opfer (zu) bringen. Sie müssen zurückschwingen von der Selbstanbetung ihrer heut erreichten Grossmächtigkeit, von der Verherrlichung Lloyd Georges, Clémenceaus, Ludendorffs zur Freiheit des Unbewussten, wenn man will: des Unvernünftigen, im Sinne des Flüssigen und Beweglichen; nur das Unvernünftige, das Irrationale hat noch Lebenskraft, um seine erreichte Gestalt abzuwerfen und sich an Haupt und Gliedern zu erneuern. Das ist ein Vorgang, den Völkern selbst unerwartet wie ein Erdbeben.

Jeder prüfe, wie die Gestalten der Heerführer tief in seinem Herzen wurzeln. Erst dann kann er ermessen, wie tief Lloyd George im englischen Volk verwurzelt ist. Erst dann begreift er, wie widerwillig, zögernd und zaghaft sich die Verflüssigung der Nationen vollzieht. Das bisher Erreichte steht ja in sichtbarer Gestalt vor uns und bezaubert unser Bewusstsein. Nur das Unbewusste, der Lebenswille an und für sich, windet sich unter dieser bewussten Endgültigkeit und strebt darüber hinaus. Niemand lässt seinen Intellekt gern zerbrechen, wenn er dem Zeitalter von 1517 - 1914 dem Zeitalter des Intellektualismus angehört. Und der nationale Intellekt ist gesättigt mit Selbstanbetung einerseits, Hass gegen das internationale andererseits. Der auf die nationale Sprache sich festlegende, in sie verrannte Intellekt ist allein im Besitz rationaler Beweise. Kraft seines Misstrauens nach aussen, seiner Bewunderung nach innen bringt er allein es zu einer vor dem Verstand stichhaltigen Begründung politischen Verhaltens. Die Gründe der Alldeutschen, der Annexionisten, der Imperialisten sind unwiderleglich für den Verstand. Sie übertreffen daher an Schärfe und Schwungkraft den etwas matten Illusionismus der kriegsmüden Volksstimme. Aber was unwiderleglich für den Verstand scheint, zerbricht vor dem Leben. Das verurteilt alle Nationalisten zur Niederlage, dass ihre höchst verständig begründeten Forderungen dem Leben nicht Genüge tut. Denn dies Leben will eben leben und nicht sterben. D.h. es will Frieden und nicht Krieg. Und die Vaterländer die Lloyd George, Clémenceau und Ludendorff können nicht zum Frieden kommen. Sie können es ihrem innersten Wesen nach nicht. Denn ihre Gestalten sind den Völkern gegenseitig unverständlich. Man merkt es leicht wenn man Männer wie Asquith, Ribot, Bethmann gegen sie stellt. Ihre Autorität, ihr Anrecht zu regieren, ist uns eben nicht unverständlich.

Aber die magnetische Kraft, die England zwang, sich Lloyd George auszuliefem, die Allgewalt, mit der Frankreich einem Kabinett Clémenceau zutrieb, die reissende unwiderstehliche Kraft, mit der Bethmann von der militärischen Fronde verdrängt wurde, ist dem Gegner unheimlich und unbegreiflich. Dieses zur Macht kommen entbehrte eben aller formalen, rechtlichen Handhaben. Clémenceau hatte keine Mehrheit, so wenig wie Lloyd George. Beide haben vielmehr die anerkannten Mehrheitshäupter geräuschlos verdrängt. Das Militär hat keinerlei rechtliche Befugnis, die auswärtige Politik des Reichs auch nur zu beeinflussen. In Wirklichkeit schwangen diese Männer getragen von der ganzen Schwungkraft des nationalen Selbstgefühl mühelos im gegebenen Zeitpunkt in den Sattel. Das Zauberwort; Hindenburg hat es gesagt, Hindenburg will es, ist unübersetzbar. Aber den Zauber selbst kennen und ihm erliegen in ihrer Weise und ihren Führer gegenüber auch Engländer und Franzosen.

So ist der Krieg die Krise für den nationalen Intelektualismus, der sein unbegrenztes Misstrauen durch Gründe rechtfertigen, aber nicht das zum Leben Europas vorab nötige Vertrauen hergeben kann. Der Lebenswille der Völker muss die Vernünftigkeit der Staatsgebilde zerbrechen.

Das alte Europa bestand aus fest gemauerten» feuerfest betonierten Nationalstaaten. Es hätte nie aus sich heraus die Kraft gefunden, seine eigenen Triumphbauten einzureissen oder auch nur umzubauen. Der Anstoss für diesen europäischen Schmelzprozess, in dem wir seit dem 12. Dezember 1917 stehen, konnte nur von einem nicht intellektualisierten, einem noch nicht verstaatlichten und verständigten Volke ausgehen. Das ist das Geschenk der Russen an Europa, dass sie ihm den Mut zur Erneuerung in ihrem Ungestüm einflösen.

Wir sind ausgegangen von der Stellung des Aussenministers und der Reichstagsmehrheit zum Kriege. Die Reichstagsmehrheit vertritt das “unvernünftige”, das “unverständige” Volk, das erst Leben will, und erst hernach national leben. Aber die Reichstagsmehrheit herrscht bei uns nicht, sondern sie ist innerhalb des Reichsganzen Minderheit. Es herrscht die Bundesratsvormacht Preussen, verkörpert in der obersten Heeresleitung. Das seltsame Zwitterhafte unserer Aussensteurung besteht nun darin, dass sie zwischen zwei Stühlen sitzt. Sie sucht sich zwischen Militär und Reichstag als eine eigene Gewalt zu behaupten. Zu solcher Selbständigkeit ist aber ein Beamter, ob er nun Kuhlmann oder sonst wie heisst, niemals fähig. Es besteht also heut bei uns ein labiler, dauernd zu Reibungen und Zusammenstössen führender Zustand. Die Reichstagsmehrheit ist nur zaghaft, widerwillig und gleichsam mit Erschrecken vorwärts gedrängt worden.

Das entspricht der Sachlage, dass sie eben die unbewussten Kräfte des Lebenswillen, irrationalen Vertrauens, dass sie das ungestalteten Teil der Volkskraft abbildet. Aber sie steht noch nicht am Ende ihres Weges. Der Friede kann erst kommen, wenn Militarismus, Parisismus und Parlamentarismus nicht mehr die Stimmführer und Beherrscher der Einzelnen Grossmächte stellen, sondern wenn das gemeinsame europäische Volkstum, dem Rufe aus Osten in europäischer Weise entsprechend, die Wunderkristalle der nationalen Staatsräson einschmilzt, wenn die Spitzen und Symbole dieser vermeintlich endgültigen Keichsvollkommenheit der Grossmächte dem Friedenswille geopfert werden, d.h. wenn Lloyd George und seinesgleichen abtreten von der Bühne des Geschehens. Dieses Friedensopfer kommt, vermutlich erst in zwei, oder sechs Monaten, aber es kommt.

In diesem Augenblick zeigt sich der starre und der bewegliche Teil der europäischen Staatsbildung. Denn das englische Königtum und das deutsche Kaisertum werden beide diesen Schmelzprozess überdauern. Die Monarchie verkörpert das irrationale, das nicht intelektualisierbare Element im Staate. Der König ist der Anwalt des Volks, ist selbst nicht Beamter, Offizier oder gelehrter, oder Kaufmann, sondern er ist der Mann von gesundem Menschenverstand. Er soll dem Volk gerade solche unbeweisbaren, aber lebensnotwendigen Schritte ermöglichen, wie es der Friedensschluss, wie es die plötzliche Hinwendung zu übernationalem Vertrauen ist.

Die Krisen der Politik im Staat werden nicht mehr durch innere sondern durch äussere Fragen bestimmt. Auf die Aussenpolitik fällt fortan das volle Licht der Öffentlichkeit und der Teilnahme. Alles Lebenswichtige wird auf dieses Gebiet hinübergespielt werden, z.B. sogar der nervus rerum die Finanzfragen.

Die nationale Wirtschaft, in diesem Kriege zu einem Höhepunkt gediehen, wird einer europäischen Wirtschaft weichen, einfach nach dem Satz, dass wo einer sein Herz hat, er da seinen Schatz hintut. Auch die Finanzen hängen eben vom Menschen ab. Und dieser Mensch wird plötzlich eine europäische Gesamtkassa, Gemeinwirtschaft und Gemeinrechnung wichtig und notwendig finden, weil er fortan unausgesetzt über die Landesgrenzen hinauslugen wird. Daher wird das Schicksal und die Bestellungsart des Aussenministers fortan das politische Barometer für die Verfassung eines europäischen Gliedstaats bilden.


Das Manuskript von Eugen Kosenstock trägt am Haupt: ipsius 15. I. 1918, zählt 13 Seiten.
In Maschinenschrift gebracht von Lise van der Molen, Winsum. 15. 1. 1985.

„Nachträgliche Erwägungen” als PDF-Scan

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