Logo Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft Unterwegs zu einer planetarischen Solidarität Menü

Rosenstock-Huessy: Dich und Mich (1954)

Dich und Mich1

Lehre oder Mode?

Von Eugen Rosenstock-Huessy

Seit Simon Magnus, der Gnostiker, vor Kaiser Nero in Gegenwart des Apostels Petrus zu fliegen versuchte, wird jede wahre Lehre von ihrer Karikatur begleitet, und wie Kräuter das Unkraut, so überschattet diese Karikatur die wirklichen Entdeckungen der Wahrheit. Die wirklichen Entdeckungen sind ebenso langsam wie alle Heilkräuter. Es sind perennierende Pflanzen. Das Unkraut schießt als Jahresstaude rasend schnell in die Höhe. Und ihm gleich schießt die geistige Mode auf. Nur entspricht dem einjährigen Unkraut des Feldes im Rhythmus der Gedanken die gnostische Mode einer geistigen Generation. Und solche Gedankengeneration — wie neuerdings die Existentialisten zeigen — hat ihr Monopol etwa zehn bis fünfzehn Jahre inne. 1952 begruben übermütige Pariser Studenten die Leiche des Existentialismus.

Ich will heute die bleibende Entdeckung, die ich selber in der Grammatik des menschlichen Geschlechts vor vierzig Jahren gemacht habe, gegen das Unkraut der Gnosis verteidigen. Ich bin also Partei. Aber da ich mit dieser Polemik fast vierzig Jahre gewartet, so habe ich — auch wenn der Leser es mir nicht glaubt — das gute Gewissen, daß in diesem Falle Nichtkämpfen elende Faulheit wäre. Doch bin ich mir auch darüber klar, daß wirkliche Entdeckungen ihre Zeit brauchen, und an dieser Zeit wird auch die Ungeduld des Entdeckers nichts ändern.

Ich sage also nur dies:

Die wirkliche Lehre vom Du wird heut überschattet von gnostischer Irrlehre. Die Irrlehre ist populär, weil ihre Aneignung nichts kostet. Wie wohl auch sonst die Ketzerei, kann man sie, abgerissen („häretisch“ heißt ja, „herausreißend“ ) vom Ganzen der Wahrheit, als modisches Abzeichen sich anhängen. Die volle Wahrheit der Lehre vom Du und Dich hingegen verlangt eine perennierende Aneignung. Und dieser perpetuierliche Durchgriff gelingt erst dem, bei dem sie nicht aufgelegte Schminke bleibt, sondern dem sie jeden seiner übrigen Gedanken durchwirkt und umwandelt. Um es gelehrt auszudrücken: Die Irrlehre bleibt ein Begriff, der wirkliche Fortschritt wirkt als Methode.

Da die Irrlehre bequemer zu handhaben ist als der wirkliche Fund, so will ich den Leser erst an sie erinnern.

Darnach bedarf jedes Ich auch eines Du, und Gott ist das oder ein solches Du des Menschen, dank dessen dieser sich selber erst ganz empfängt. Im Du also wird das Ich von seiner Einsamkeit erlöst. Du ist die zweite Person, die zur ersten Person hinzutritt, um des Menschen Zwiegespräch mit seiner Geliebten, mit den Menschen, mit Gott zu ermöglichen; das „Du“ ist also ein Zusatz zu dem Subjekt-Objekt-Verhalten des Verstandes. Im Verstande steht ein Ich - ein transzendentales oder empirisches Ich, das bleibe hier dahingestellt— dem Gegenstand gegen-//643// über. Aber im Ich-Du durchschlingen sich zwei Wesen, ohne daß der eine je Gegenstand des anderen werden kann. Dies also ist der Fortschritt aus einer Welt der Etwasse und der Egos: Es gibt nun ein Drittes: Das Du.

Die Häresie dieser Lehre zeigt sich darin, daß sie an der Subjekt-Objekt-Dimension der Herren „Ich“ nichts ändert. Ich-Es wird nunmehr ergänzt durch Ich-Du. Martin Buber ist der Begründer dieser Zusatzlehre zum akademischen Denken. Er hat dort, im akademischen Bereich, auch geringen Widerstand erfahren. Denn beide Welten, Ich-Es und Ich-Du, lassen sich gegenseitig abgrenzen und bleiben nebeneinander begreifbar.

Für äußerlich nebeneinander gestellt gelten diese beiden Denkweisen bis heut. 1953 schrieb ein wohlmeinender Mann, die Ich-Du-Lehre der zwanziger Jahre sei 1933 durch die Wir-Lehre abgelöst worden. Wenn man so hin- und hertanzen könnte, dann handelte es sich allerdings um keine Entdeckungen, sondern um fürchterliche Moden, um willkürliche Betonungen, und wir wirbelten nach wie vor „jählings ins Bodenlose hinab“.

Die durchgreifende Entdeckung der zweiten Person sieht anders aus; in ihr entspringt eine neue Stufe der Wissenschaft; dieser Ursprung ist so ursprünglich wie die Entdeckung der Infinitesimalrechnung für die neuzeitlichen Akademien oder die der Abailardschen Logik des Sic et Non als Grundlage der paradoxen Logik der mittelalterlichen Universität.

Der durchgreifende Charakter der neuen Tiefengrammatik besteht darin, daß sie ein Novum organum der Sozialwissenschaften liefert, eine Methode. Diese Methode setzt alle Erkenntnisse auf dem Gebiet der menschlichen Gemeinschaften gegen alle Naturerkenntnis ab. Soziologen, Ökonomen oder Historiker, denen diese neue Methode abgeht, gleichen also den Scholastikern, als diese am Ende des Mittelalters der Natur, statt mit Mathematik, mit Logik beikommen wollten. Heut gibt es keinen „Hexenhammer“ mehr, in dem Logik über Empirie siegte. Es gibt aber heut dafür diese Naturforscher auf allen Denkfeldern über die menschlichen Verbände, also in Medizin, Politik, Theologie, Philosophie, Psychologie, Soziologie. Diese Naturforscher lassen die Methodengrenzen, welche Natur und Gesellschaft trennen müssen oder trennen werden, bestenfalls im Dunkel. Oft sagen sie offen, daß wir eines Tages es alles mathematisch wissen werden. Sie setzen also die mathematische Form naiv an die Spitze ihrer Wissensweisen. Sie haben über eine etwaige Selbständigkeit anderer Methoden nie nachgedacht. Diesen Forschern scheint die Pyramide des Wissens von der Physik als Basis getragen zu werden. Darüber folgen Chemie, Biologie, Psychologie, Soziologie. Diese Forscher mögen das Ich-Du sogar selber sentimental im Munde führen. Indessen ist die Mathematik ihres Subjekt-Objekt-, Ich-und-der-Gegenstand-Denkens ihnen so tief in vierhundert Jahren akademischer Überlieferung eingebrannt, daß sie dies Denken für „natürlich“ aufgeben, hingegen dem Ich-Du bestenfalls Zusatzwert beimessen, schlimmstenfalls aber „mystische“ Torheit zuschreiben. Der fürchterliche Sprachgebrauch der Wortungetüme „Das Ich“ und //644// „Das Du“ kennzeichnet diese Kompromißler. Wer „das Du“ oder „das Ich“ sagt, ist alte Schule.

Die Helle eines neuen Geschichtstages im Leben der Wissenschaft darf nichts von Mystik an sich tragen. Die Lehre vom Ich und Du mag gnostisch, modisch, mystisch, zusätzlich klingen. Sie vermag die älteren Betriebsformen der Geschichte, Philologie, Theologie, Psychologie usw. ungeschoren zu lassen. Die Lehre um „Dich“ und „Mich“ ist hingegen eine anmaßende Sache: Sie maßt sich nämlich an, einen Maßstab zu liefern, der mit dem Naturbegriff aufräumt, und die verstümmelte Wirklichkeit, die es zu erkennen gilt, von den Vorurteilen der Naturforscher reinigt.

Denn diese neue Lehre hat keinen Gegenstand wie die objektive Naturwissenschaft, sondern sie vollendet die Gegenwart der vergänglichen Wesen, die sie sich vergegenwärtigt und eben damit zu „perennierenden“ macht. (In der Revolution in Permanenz des Karl Marx ist dieser Charakter angetönt, viel klarer aber ist er bei Goethe und Saint Simon vorzufinden: „Mag wohl sein; ich aber weile längst auf einer andren Spur“.)

Diese tiefere Grammatik maßt sich an, die höhere Mathematik und dies Objekt-Subjekt-Dogma aus der Schlüsselstellung zu verdrängen, welche ihr die Akademiker — selbst die, denen das selbst unbewußt blieb — mehr und mehr eingeräumt haben. Nieder mit dem Menschen als Gegenstand! Nieder mit der Lästerfrage: „Was ist der Mensch?“ Nieder mit den Wortungeheuern „Das Ich“ und „Das Du“ und das Superego.

Die tiefere Grammatik befragt Dich und mich und sich selber und uns alle nach ihrem Auftreten zu bestimmten Zeiten des Lebens. Die tiefere Grammatik gibt auch den Subjekten und den Objekten ihr Recht. Aber Objekte, Gegenstände, und Subjekte, Weltenrichter, sind beides Krankheitserscheinungen des Menschen. Nur weil andere uns bitten, werden wir auf Stühlchen gesetzt, um zu richten; nur weil andere uns mißhandeln, werden wir zu toten Objekten. Beidemal fallen und stürzen wir in den bloßen Raum ab.

Der normale Mensch geht aus der Vergangenheit in die Zukunft. Er kommt aus einer Überlieferung und geht in eine Wiedergeburt. Er ist also ein Trajekt der Geschichte, eine „Fähre“ voller Erfahrung, die über den Acheron der Vergessenheit gesetzt hat, und er ist ein Entwurf, ein Präjekt des künftigen Weges des Geschlechts. Trajekt und Präjekt sind nicht nur richtiger als Subjekt oder Objekt, weil die Richter und Gegenstände dem Raum verfallen sind. Sie sind auch in der Sprache als Gebilde immer anerkannt worden. Die Sprache, jede Sprache stellt alle, Sprecher, Hörer und Besprochene, in einen Zeitpunkt, in dem sie, die Objekte oder die Subjekte, sich als die Leichen Deiner, Meiner, Unser Lebendigkeit allerdings herauspräparieren lassen.

Die tiefere Grammatik verbietet die Häresie, entweder vom Es oder vom Du zu reden; denn die Dus, Ese, Iche, Wire sind mit dem ersten Satz menschlicher Sprache alle mitgesetzt. //645// Die tiefere Grammatik gebietet, die Reihenfolge aller Personen so ernst zu nehmen, wie von der Mathematik die Reihe aller Zahlen ernst genommen werden mußte, ehe es zur Höheren Mathematik kommen konnte. In der neuen Sozialgrammatik sind alle sprachlichen Formen aus dem Ganzen der Sprache herausgesetzte Einzelsätze. Man öffne ein kleines Einmaleins, oder man öffne eine heutige Grammatik, und was findet sich? 2X2 = 4, 5X5 = 25; Zeitworte: ich gehe, du gehst, er geht — gegangen; Hauptworte: Der Gang. Der Fußgänger; Eigenschaftsworte: draufgängerisch usw. Man öffne die höhere Mathematik. Die Summe aller Zahlen zwischen 0 und 1 oder die Summe aller Zahlen zwischen 1 und ∞ bilden da die Grundlage des Nachdenkens.

Die tiefere Grammatik wird entsprechend verfahren müssen. Es wird also nicht von uns gesprochen, um „ich gehe“ sagen zu können. Sondern es wird gesprochen, damit ein Vorfall von allen Augenblicken her und von allen Seiten her placiert werden kann. Sprechen heißt also die umfassendste Operation des Gesamtgeistes, des Logos, kraft der wir den Grad und den Moment der Lebendigkeit oder der „Totigkeit“ irgendeines Vorgangs der Schöpfung bestimmen. Wir sprechen, um die Geschöpfe zum Leben oder zum Tode hin, zum Vergehen oder zum Werden hin zu bestimmen. Da wir einander in einem Universum begegnen, so entscheiden wir unablässig, wer ins Leben zu rufen, was zum Vergehen bestimmt sei.

Die tiefere Grammatik greift durch und leugnet, daß je ein einzelner Satz der Ursprung der Sprache gewesen sei und habe sein können. Sondern wir sprechen, jeder Indianer, jeder Engländer, jeder Russe, seit Anfang der Welt, weil wir, jeder von uns, gewiß sind, der ganzen Sprachkraft innezusein und sie auf den Einzelfall zeugungskräftig anzuwenden. Der Mann von den zweihundert Worten und der Shakespeare von fast vierzigtausend: beide haben dies selbe urspringende Vermögen zu sprechen und beide tun dasselbe, der eine grob, der andere subtil: beide fällen Todesurteile und ernennen Würdenträger. Beide machen Liebeserklärungen und geben Kriegserklärungen ab. Beide, Barbar und Kunstdichter, anerkennen das Lebendige und aberkennen dem Toten seinen Anspruch, für lebendig zu gelten. Beide beziehen alle Sätze, die je galten oder gelten werden, auf ein lebendiges All. Beide leben nicht in der Natur oder als Natur. Denn Natur wäre oder ist die Welt abzüglich der Sätze, die in ihr laut werden. Wirklichkeit aber ist ohne Abzug die Welt, in der alles Wort wird und Wort werden kann und Wort werden muß. Sprache besteht also weder aus Worten noch aus Lauten noch aus Sätzen. Sondern Sprache ist Deklination und Konjugation des auf seine Symphonie harrenden Alls.

An der besonderen Lehre über Dich und Mich sei nun die neue Grundwissenschaft von ihrer Irrlehre, dem Ich und Du, abgehoben. Der Schritt, zu dem ich auffordere, kann von zwei Seiten her getan werden, vom Tiere her oder vom Selbstbewußtsein der Herren Egos her. Denn zwischen //646// Tier und Selbstbewußtsein liegt das Land der Urgrammatik und der ersten sprachlichen Erfahrung, dies Land, das wie ein Ophir heut neu aus den Fluten steigen muß, sollen wir die beiden akademischen Irrlehren von Natur und Geist, Es und Ich, Körper und Geist loswerden.

Treten wir die Entdeckungsreise zuerst einmal von den Säugetieren heran. Adolf Portmann hat 1944 diese Wegesrichtung vorgeschlagen. Ein Fohlen durchläuft viele Stufen im Schoß der trächtigen Stute, die der menschliche Säugling in den zwei ersten Jahren nach der Geburt zurücklegen muß. Am ersten Tage nach dem Wurf springt so ein Fohlen lustig auf seinen vier Beinen herum. Das Menschenkind hingegen lernt Gehen, Essen, Trinken, Verdauen, ja man kann sogar sagen, Atmen, außerhalb des Mutterschoßes. Diese Akte dienen der nacktesten Selbsterhaltung. Trotzdem werden sie publik und im Namen der schützenden Gemeinschaft erworben. Daraus ergibt sich, daß sogar das Essen nicht als rein selbstisches Tun erworben wird. Sogar das Essen ist wortgewordenes, ins Leben gerufenes Tun. Denn es findet in das Kind Eingang kraft der zwei Stufen alles Ansprechens: Das Kind wird bei seinem Namen gerufen, und es erwidert auf den Anruf. Und es wird ihm gesagt, was es tun soll. Es wird also in einen Lebensvorgang hineingesprochen, und es entspricht ihm.

Im Sprachgebrauch dieses Zeitwortes „entsprechen“ wird diese Überschichtung von Spruch und Akt gut ausgedrückt. Wenn wir sagen, etwas Entsprechendes sei geschehen, oder dies entspreche jenem, so denken wir in erster Linie, daß sich A zu B in ihrer „Natur“ und dinglich so und so zueinander verhielten. Behext vom Naturbegriff, dieser Fiktion einer sprachlosen, nicht zum Lautwerden bestimmten Welt, streichen wir aus dem Worte „entsprechen“ gerade die Hauptsache, das Sprechen, und hören oberflächlich nur das stumme Verhalten der analogen Tatsachen heraus.

Aber die Sprache hat den Säugling und uns und die symphonisierbare Wirklichkeit richtig taxiert: Sie alle suchen einander zu entsprechen! Der Säugling frißt daher nicht wie das Tier. Er ißt. Er säugt nicht, er trinkt. Er scheißt nicht, sondern er hat Stuhlgang. Überall macht man den Säugling zum Untier, wo man ihm den Mantel der Sprache verweigert. Aber dieser Mantel ist nicht die Schöpfung des Säuglings. Mit diesem Mantel umkleidet ihn die Gemeinschaft. Die Muttersprache ist also ein zweiter Mutterschoß. Die Muttersprache ist nicht etwa als „Sprache der Mutter“ mißzuverstehen. Dann würde sie wie im ganzen vorchristlichen Völkerleben „Vätersprache“ zu heißen haben. Nein, Muttersprache heißt die Sprache, insofern sie als Schoß den „zwei Jahre zu früh“ verlassenen Schoß der leiblichen Mütter ersetzt. Als Geschenk der Gemeinschaft erfährt jeder vom Weibe Geborene das Wegekreuz der Deklinationen und Konjugationen, und sie deuten ihm jeden Akt, den er lernt, und jeden Weg durch die Welt, den er sich aneignet. So verläßt also der menschliche Embryo die sogenannte „Natur“ lange bevor er im Sinne der Säuglingsnatur geboren ist. //647//

Treten wir nun auf die entgegengesetzte Seite. Statt vom Tier her wollen wir nun vom selbstbewußten Menschen her an unser erstes Wesen herantreten. Das kleine Wesen ist nicht selbstbewußt. Daher sagt es nicht ich. Ebensowenig aber findet sich in seinem Munde das Wörtlein „Es“.

Dem Säugling öffnet sich die wirkliche und wirkende und lebende Welt als eine Ordnung von Namen. In der Mitte dieser Namen steht nicht Er selber als Ich. Sondern im kosmischen Tanz der Namen „Papa“, „Mama“, „Schwester Klara“ und „Bruder Paul“ steht auch des Säuglings eigener Name, als Hänschen oder wie immer. Und dieser Name ist wie alle anderen Namen ein lebendiger Name, und daher zappelt er wie alles Lebendige in unaufhörlicher Deklination und Konjugation. Absichtlich sage ich: Nicht etwa nur in Deklination, sondern auch in Konjugation. Dieser Punkt kann freilich hier nicht ausgeführt werden; der Leser mag mir gütig glauben, daß ich den angeblichen Unterschied zwischen Deklination der Hauptworte und Konjugation der Zeitworte kenne. In der tieferen Grammatik aber erreichen wir eine Stufe, in der auch Hauptworte als Zeitworte durchschaubar werden. Wir halten also fest, daß sich kein lebendiger Mensch als Fixstern erlebt, sondern als herumgewirbelter Tänzer im Namensorchester der gesprächigen Gemeinschaft. Hänschens Puppe und das Stück Kuchen, das ich dir, Hänschen, gebe, treten vorübergehend in dieselbe Mitte, in der gelegentlich Hänschen selber, ein andermal aber Papa oder Mama, treten. Sprechen heißt also, immerfort jemand anderen in die Mitte treten lassen! Alle Mitglieder der Tanzgruppe, Sprechgruppe, Familie, Gemeinschaft, die abwechselnd in die Mitte als Träger eines Satzes in der ersten Person treten, haben als dauernde Eigenschaft nicht die, „ein Ich“ zu sein. Wer mitspielt und mitsingt mitspricht und mittut, ist ein Geschwister und wird daher mit seinem Namen im Vokativ, auf deutsch im Vor-Fall, angerufen. Die Erfahrung jedes Säuglings von sich selber beginnt mit dem Vokativ. Wir Menschen sind Vor-Fälle. Aus dem Vokativ heraus werden wir dann zu allen Abwandlungen fähig, wir können darnach in den Nominativ, in den Dativ oder Akkusativ fallen, wir können uns in den Gesprächsvorgang als „Ich“, „Wir“, „Er“ einschalten oder eingeschaltet werden.

Aber der Vokativ, der sich an mich wendet, ist meine erste Erfahrung. Und der Vokativ meines Namens wird in dem Fürwort „Du“ abgekürzt. „Du“ wie jedes andere Fürwort steht für ein volles Wort. Das Pronomen gibt es nur, weil das Nomen ersetzt werden soll. „Du“ ist kein Wort ersten Ranges. Es ist Namensersatz, genau wie „Ich“ an Stelle meines Namens steht. Im Parlament, vor Gericht, haben früher die Sprecher ihren Namen genannt, statt „Ich“ zu sagen. Der Maler, der signiert, schreibt: „Michelangelo pinxit.“ „Pinxi“ ist eine pronominale Abkürzung des vollen Satzes.

Der Embryo erfährt sich als Vorfall, als zweite Person, in der Anrede aller, die sich über ihn beugen und ihn für den Eintritt in die Bewegungen der Gemeinschaft geschickt machen. Sie machen ihn geschickt, d. h. sie machen ihn ent- //648// sendbar. Die zweite Person der Schulgrammatik ist die Kategorie der Entsendbarkeit, entsendbar in die Welt wird das Kind. Wir prägen hier nur den Ausdruck „entsprechen“, von dem vorhin die Rede war, noch einmal: Das Kind muß nicht bloß sprechen lernen, nein, es muß entsprechen lernen. Auf jedem Wege des Lebens gilt es ja, anders zu sprechen. Im Vokativ sammelt sich unseres Lebens wichtigste Kraft, wie wenn sie aufgestaut werden sollte, um allen wechselnden Lagen des Lebens entsprechen zu können.

Und so ist es in der Tat. Als Vorfall werde ich frei zu allen guten Dingen und allen notwendenden Wendungen. Denn mein Name wird als Ermutigung in mich hineingerufen: Er ermächtigt mich. Wen auch nur einmal die Liebe beim Namen gerufen hat, vergißt das nie wieder. Dieser eine Ruf bewährt ihn vor dem Selbstmord; mit andern Worten: der Vokativ ruft den in der Muttersprache ruhenden Säugling aus diesem zweiten Schoß heraus ins Leben. Die Sprache der Menschen darf nie bloß Muttersprache bleiben. Wer „Ich“ sagen lernt, der wird aus dem Sprachenschoß abgenabelt: In „Der sprachlose Jacob Grimm“ wird dieser Schritt aus dem Muttersprachenschoß heraus an Grimm selber demonstriert!

Aber wir verweilen erst einmal bei unserem Brückenschlag zwischen tierischer Natur und selbstbewußter Person. Der Vorfall der zweiten Person ist weder Natur noch Geist. Er ist aber wirklicher als beide. Denn in ihm finden wir die benannte und die verwandlungsfähige Wirklichkeit, die weder stumme Natur noch unwandelbares Prinzip ist.

Die „Natur“ ist die Welt, die nicht ins Leben gerufen wird. Das „Ich“ ist das Bewußtsein, das sich nicht wandeln kann. Das „Ich“ sehnt sich nach der Natur, denn ich sehe wohl, wie die Natur sich zu wandeln vermag. Die Natur sehnt sich, seufzend, nach dem Bewußtsein, denn sie ahnt, daß der Geist dauert.

Nun, die Wort gewordene Schöpfung behält ihre freie Wandelbarkeit, und sie erwirbt dazu ihr stetes Bewußtsein.

Dem Säugling wird’s selig wohl, weil und wenn ihn der namentliche Anruf ins Leben ruft. Und kein Mensch bis zum Todestage kann aufhören, ein Vorfall, ein Vokativ, ein „Dich meine ich“ zu bleiben, bei Verlust seiner Seligkeit. Das Fürwort „Du“ steht also fürwörtlich für die Aussöhnung von Natur und Geist, Wandel und Dauer, im namentlichen Anruf der Liebe. Die zweite Person ist also ein ganzer Weltaspekt. Sie ist so umfassend, wie die Welten des Willens als Ich und des Todes als Es.

Vor die objektive und die subjektive Welt tritt also die präjektive Welt, in der das Wortwerden vor sich geht. Das Ich redet über die Welt und macht Worte über sie, um sie zu begreifen. Das Es ist die stumme Welt, unbegreiflich, unbegriffen. Die präjektive Welt wird durchgreifend ins Leben gerufen und antwortet entsprechend. //649//

Das Präjekt, der ins Leben gerufene Säugling, ist weder Ich noch Es. Er ist Du und Dich. Diese deklinierbare zweite Person verlangt noch eine Erläuterung. Unter den Quäkern — oder wie sie von sich selber reden: in der „Society of Friends“ — hat sich in der spröden englischen Umwelt das Duzen erhalten. Bis heute duzen sich die Brüder und Schwestern oder, wie man in Goethes Jugend auch in Deutschland sagen konnte: die christlichen Freunde. In allen anderen angelsächsischen Kehlen hingegen ist das Du heute auf Gott allein eingeschränkt. Der Brite oder Amerikaner duzt Gott, aber „sie-zt“ seine Nächsten! Denn sein geistiges Erwachen fällt in die Zeit Newtons und der neuen Naturmathematik, 1650 bis 1700. Mit dem Aussterben des Du damals fiel zusammen die Neutralisierung aller Dinge als „it“, d. h. als tot. Nur das Schiff blieb ein Lebendiges, blieb „she“, sie; hingegen sogar die Natur, bei Shakespeare noch ein lebendiger „Er“, wurde 1650 zum „das“, zum „Etwas“ und „it“. Da nun der Brite die ganze Welt als reinen Gegenstand entseelte, haben die Quäker es nicht leicht gehabt, auch nur den Vorgang des Singens auszudrücken. Indem wir fragen, wie läßt sich denn für einen „Friend“ dem Duzen Ausdruck geben, dringen wir vielleicht hinter den ja bei uns nicht gerade schönen Namen des Duzens in die Infinitesimalsprache der Seele ein.

Die Friends sagen, daß es bei ihnen üblich sei, „to Thou and to Thee“. To Thou und to Thee ist also die Wendung für Duzen. Da tritt also derselbe Aggregatzustand Deiner selbst in zwei Formen auf. Du und Dich werden beide heraufbeschworen, um die einheitliche Welt, in der wir miteinander zusammengehören, gegen die stumme „Natur“, diese „Welt minus Sprache“ der Herren Rousseau und Kant, abzuheben.

Den Wert dieser Doppelwendung — statt unseres „Duzens“ — erblicke ich darin, daß wir hier darauf gestoßen werden, was alle Philologie übersehen möchte: Den Einzelsatz gibt es gar nicht. Die Sprache besteht mitnichten aus Lauten, die Worte; aus Worten, die Sätze; aus Sätzen, die Absätze; aus Absätzen, die Kapitel oder Reden; aus Kapiteln, die Bücher oder Gesetze bilden.

Nein, duzen kann nur der, der einen Satz mit Du und einen andern mit Dich bildet! Alle Sätze zusammen bilden den Inbegriff, innerhalb dessen erst die Kapitel, die Absätze, die Sätze, die Worte, die Laute Sinn haben.

Die unsterbliche Lächerlichkeit der Naturphilologen hat erst vor zehn Jahren einen katholischen Priester dazu verleitet, alle Sprache aus den Schmatzlauten der saugenden Säuglinge abzuleiten. So steht’s in den Berichten der Akademie der Wissenschaften in Amsterdam. Das ist der Naturbegriff, die Welt ohne Sprache, bis ans bittere Ende durchgeführt.

Aber wir duzen einander, sogar der Säugling ist nie in der sprachlosen Natur. Ihn umweben die sämtlichen Sätze der Sprache, bald als Du, bald als Dich, bald als Deiner, bald als Dir, bald als Wir, bald als Es, bald als Uns, bald als Er. //650// Diesem Wechselstrom aller Formen der Grammatik erliegt das Kind, bevor es ihm mit dem Responsorium der eigenen Antwort entspricht.

So erfährt also die geliebte, normale Seele eines nichtverwaisten, nichtungeliebten, nichtverstümmelten oder verfinsterten Menschenkindes, sich selber in der zweiten Person, längst bevor es sich diesem Wechselströme entreißt und Ich zu sagen wagt. Weil wir Dus gewesen sind, bevor wir je Iche waren, deshalb, sind Ich und Du nicht zweierlei. Nur ein Du kann zum Ich heraufdienen. Wer zuerst Ich sagt, bevor sein Dich vernommen worden ist, ist der Teufel. Hitler hatte eine solch freudlose Jugend.

Aus Dir wird jemand, der auch Ich sagen darf. Und hernach wird Ich heiraten und wird „Wir“ sagen wollen und dürfen. Am Ende wird dies Du-Ich-Wir-Gebilde auch zum Er, weil er abwesend und tot sein wird. Das Luder wird sogar am Ende der Leichnam Es und das Ding Etwas. Aber „es“ bleibt dennoch der Vokativ, die Person und das Mitglied von einst auf ewig. Du, Ich, Wir, Er sind also Zeitpunkte, Zeiträume wirklichen Lebens. Wer mich mit Du anredet, der faßt vor mein bloßes Ichbewußtsein, er vertieft mich und greift an den Ursprung, bevor ich noch dem Mutterschoß der Ansprache entrissen wurde. Jede Ansprache macht uns jung. Hingegen „Es“ oder „Er“ greifen hinter mich und bedrohen mein freies Willensleben mit dem begrifflichen Ende.

Ich und Wir treten zwischen Ursprung und Verfall im Laufe des Lebens. Vokativ ruft ins Leben, Objektsfall legt mich fest bis zum Erstarren. So leben und sterben wir zahllose Geburten und Tode, weil wir durch zahllose Vorgänge hindurch konjugiert werden. Von „Geh“ bis „er ist gegangen“ dehnt sich ein Lebensprozeß aus Geburt und Tod. Sooft uns ein Befehl ereilt, werden wir Figuren der Grammatik, unter der Bedingung, daß wir zeitweilig und in der rechten Reihenfolge jede einzige dieser Figuren durchwandeln. Die Tragweite dieser Regel beruht darauf, daß alle Sätze an diesen vier Personen ansitzen. „Geh“, „Ich möchte“, „Wir sind besiegt“, „Es ist vorbei“ sind Sätze, welche aus den Aggregatzuständen „Du“, „Ich“, „Wir“, „Es“ sich zwanglos ergeben. Die grammatische Figur ist also nie das nackte Fürwort Ich oder Du, sondern sie umgreift die Befehle, Wünsche, Berichte und Analysen der Verbalformen mit, und sie gilt meinem vollen Namen. Auf Namen und auf den Verbalformen erheben sich die Stilformen des Dramas, der Lyrik, des Epos und der Prosa. Und in diesen Stilformen spricht sich die Welt aus, nicht wie sie Gegenstand der Naturforscher ist, sondern wie sie als gegenwärtiges Leben und Sterben auf uns wirkt und uns abwandelt.

Dies mag hier genügen. Mein Schrifttum hat diese Grundlehre nach vielen Seiten entfaltet. Die Grundlage ist aber so trächtig, wie es 1650 die höhere Mathematik war, und gilt daher unabhängig von meiner Person.

Jahrhunderte werden’ diese Lehre ausbauen. Mit einer Mode, bei der sich zwischen Ich und Du oder Wir, je nach politischer Brunst, abwechseln ließe, hat diese Erkenntnis nichts zu tun. Sie setzt vielmehr den bloßen Kenntnissen der //651//. Naturwissenschaft eine ganz neue und andere Lehre vom Nennen entgegen. Menschen erkennen wir nur, wenn wir sie und sie uns erkennen. Die Lehre von Dir und Mir beruht auf gegenseitiger Anerkennung. Die Lehre vom Ich und Du ist schlecht formuliert, weil sie das Duzen nicht wie die Quäker zum Strömen aus Dir in Du, aus Du in Dich, zwingt.

Die Herrlichkeit der Sprache ist ihre Totalität, ihre Ganzheit. Der Ärmste mit seinem geringen „Wortschatz“ spricht mit nicht geringerer Überzeugungskraft als Rainer Maria Rilke. An der Vielzahl der Wörter liegt es nicht, ob wir kräftig sprechen. Aber wer gehorcht und befiehlt, wer schwört und vertraut, wer sich selber öffnet und objektiv erklärt werden kann, wer zu erzählen weiß und von jedem erzählt werden kann, der gehört in die wirkliche menschliche Gesellschaft. Wer aus allen Tiefen der Grammatik heraus zu Wort und Namen, Verheißung und Begriff wird, dem kann die Statistik, die Kurve, das Mikroskop und das Kardiogramm nur seinen Kadaver analysieren. Der Naturwissenschaft gehört alles an uns, was nicht mehr wandelbar ist.

Aber Dir, der Du mir noch gegenwärtig bist, darf ich lauschen, solange ich „Du, Deiner, Dir, Dich“ sagen darf. Denn solange haben wir uns noch etwas Neues in immer neuen Wendungen zu sagen.

Diese Lehre also, in perpetuierlicher, perennierender Arbeit, muß der Historie, der Soziologie, der Theologie, einverleibt werden. Wer noch in neuen Wendungen uns anspricht, lebt; denn er wirft uns in die Stunde einer neuen Geburt, vor unser Selbstbewußtsein zurück. Diese Theologen, die von der Unsterblichkeit gegen die Schrift reden, sollten lieber einsehen, daß alle die Seelen im Himmel sind, die uns noch etwas Neues zu sagen haben. Die Soziologen sollten anerkennen, daß ihre Gesetze niemals für ihre Leser gelten müssen, denn diese können sich noch wandeln, und nur deshalb dürfen soziologische Bücher geschrieben und gelesen werden. Die Historiker müssen anerkennen, daß und weshalb die Geschichte für jedes Geschlecht neu geschrieben werden muß. Denn so wie die Heiligen die sind, die uns noch etwas zu sagen haben, sind die Geschichtsbücher von den Leichen zu entlasten, die uns nichts mehr zu sagen haben.

Wir leben nämlich, den Laboratorien zum Trotz, in einer ins Leben gerufenen und dementsprechend laut werdenden Schöpfung, und die Iche und die Ese gehen vorüber. Aber die Vollmacht empfängt jeder vom Weib Geborene, als noch nie dagewesener Vorfall im Vokativ geliebt und geheißen zu werden. Wenn er dann antwortet: „Hier hin ich“, dann ist „das Ich“ aus seiner heidnischen Stelle in unserer alexandrinischen Schulgrammatik entthront. „Das Ich“ ist nicht die erste Person; denn im Leben erfährt niemand sich selber als Ich, es sei denn in der Antwort auf seinen Namen. Weil Ich hinterher aus dem ewig bleibenden Du erwächst, deshalb ist die Lehre vom Ich und Du eine Irrlehre, ein bloßer Begriff. Aber von Dir kannst Du Dich dann befreien, wenn Du Dir eingestehst, daß jemand Deiner eingedenk war, bevor Du es dachtest. Und so ist es, solange wir atmen. Der Geist greift weiter als unser eigener Atem. //652//

Dich und Ich2

Was folgt aus der empirischen Grammatik?

Von Eugen Rosenstock-Huessy

Der Mensch ist weder Natur - noch Kulturwesen3. Denn er greift auf Mächte zurück und vorwärts, die weder in seiner Natur noch in seiner Kultur sich finden. Er hat das Vermögen dazu eingeräumt erhalten, das Nietzsches Willen zur Macht weit hinter sich läßt, das aber auch den Verächtern der Macht das Konzept verdirbt. Wir sind weder blonde Bestien noch Idealisten, weder Bellizisten noch Pazifisten, wenn wir uns dem Wandlungsprozeß von der Geburt an so anvertrauen. Er fordert von uns, zu tun, was wir vermögen, um unserer selber und der Welt mächtig zu werden!

Die Portmannsche Beobachtung von der „verfrühten“ Geburt und unsere Erkenntnis der grammatischen Struktur der Seele vereinigen sich, um zwischen Natur und Kultur den Lebensvorgang des Geschöpfes, das Schöpfer werden soll, freizulegen.

Dies Terrain ist Neuland. Denn der moderne Naturbegriff so gut wie sein Gegenstück „Kultur“ sind zwar beide zu Tode gehetzt, aber wahrer sind sie davon beide nicht geworden. Auf uns Menschen sind sie beide zwar nicht unanwendbar. Aber sie lassen sich nur so verwenden wie die Garderobe, die wir uns Fastnacht ausleihen. Wir tragen diese Garderobe. Aber sind wir das vielleicht? Mitnichten. „Natur“: die Schielaugen, der Hängebauch, die X-Beine, die blauen Augen, du lieber Gott: „So kann man blondes Haar und blaue Augen haben und doch so falsch sein wie ein Punier.“ Und die Kultur? Der Nobelpreisträger Curt von Ossietzki wurde zur Strafe dafür als Nr. 562 zu Tode getreten. Weshalb versagen Natur und Kultur angesichts des benannten Menschen beide?

Dies muß so sein. Sie müssen versagen, weil ihr Ansatz falsch ist. Die Humanisten haben mich immer gerührt, weil sie mit diesen ihren falschen Ansätzen alles Unheil erst angerichtet haben und nun mit noch mehr Humanismus, d. h. noch mehr Kultur und noch mehr Natur, dies selbe Unheil auszuräumen gedenken. Sie werden die Krankheit nur vermehren. Denn Natur und Kultur sind beide sprachleer und sprachlos. Natur ist die Welt ohne Wort. Kultur aber ist das bewußte Leben. Sehen wir näher zu.

Die Welt als Natur ist deshalb ohne Wort, weil das Objekt dem denkenden Subjekt nicht ins Wort fallen kann. „Natürlich“ kann ein Akademiker sogar Worte studieren. Aber das sind tote Worte. Das nur verdient den Namen des lebenden Wortes, das dem Sprecher in diesem Augenblick entgegengerufen wird. //719// Die Welt der Objekte, die Natur, bleibt daher das, was sie ohne ihr eigenes nächstes Wort bereits jetzt ist. Das befreiende Wort bleibt ihr mithin versagt.

Dies Verfahren — denn es ist dies eine Methode, alles zu objektivieren — verarmt auch die denkenden Subjekte. Und da der Inbegriff der humanistischen Subjekte zum Kulturbegriff der „Gebildeten Welt “ gehört hat, so können wir hier gut sehen, was für armselige Worte „Kultur“, „Zivilisation“, „Gesellschaftsformen“ usw. sind. Denn „Kultur“ umschließt nur die bewußten geprägten Subjekte, die Kulturträger, abzüglich ihres zukünftigen Gehorsams, ihres Kultus. Kultur ist ja Kultusersatz. In Württemberg heißt der Herr Minister zwar noch Kultminister. Aber allenthalben gibt’s nur noch Kultusminister. Und weil die Objekte den Subjekten nicht ins Wort fallen dürfen, bleibt von den Herren Subjekten ihr künftiger Gehorsam ausgeschlossen. Aber der dringendste Gehorsam jedes bewußten Kulturträgers bestünde doch allemal darin, das Selbstbewußtsein zum Teufel zu jagen und der Kultur den Laufpaß zu geben: Im Kultus wird diese Notwendigkeit mir vor Augen gestellt und mir vernehmlich gepredigt. Läßt man mit dem säkularisierten Wörtlein Kultur diese leidige Gehorsamspflicht weg, dann bleibt das festgeprägte Kulturbewußtsein übrig, ohne Zukunft, ohne Bekehrung, ohne eine Chance der Neuschöpfung. Aus dem Hörer auf den künftigen Anruf Gottes wird das festgelegte, auf das eigene Bewußtsein festgelegte, pensionsberechtigte Wesen des Beamten, des Spezialisten, des Fachmanns, des „überzeugungsbüchenen Charakterkopfes“, den Carl Spitteler ausgelacht hat. Das Allerweltswort „Kultur“ ist eigens dazu erfunden worden, den Menschen mit dem Donnerwort der Ewigkeit zu verschonen. Vor dem Donnerwort des kommenden Aeon vergeht nämlich jede Kultur. Aber diese säkularisierten Herrlichkeiten benehmen sich immer so, als sei der Geist Gottes nicht mehr zu erwarten.

Offenbar könnten sich die Franzosen nur retten, wenn sie aufhörten, auf ihr Französisch-sein zu pochen, auf die Kultur von Paris. Das Geschöpf „Mensch“ ist vor beiden Irrtümern zu schützen. Ihm ist weder in der Natur noch in der Kultur beizukommen. Der wirkliche Mensch ist ansprechbar; daher ist er nicht natürlich. Er ist gläubig und liebenswert. Daher ist er nicht selbstbewußt. Also paßt weder der Natur - noch der Kulturbegriff auf ihn. Das Geschöpf Mensch öffnet sich der geschaffenen Welt und dem Schöpfer dieser Welt, beiden, bei seiner Geburt.

Die Welt, diese ewig wandelbare Umwelt, wandelt jeder Generation Neues zu. Jeder Wurf Katzen verlangt eine fast identische Umwelt. Sonst sterben die Katzen aus. Aber der Entwurf „Mensch“ nimmt es mit jeder Umwelt auf. Darin besteht seine Vernunft.

Aus dem Entwurf muß die vernünftige Vollendung herausgebildet werden. Dazu tritt der Geist aller Zeiten an das Neugeborene heran durch die Sprache. //720// Das Kind ist kein Katzenwurf, denn statt der Katzenmutter nimmt die Mutter das Kind und hebt es seinem Vater entgegen. Dadurch, daß der Vater es gesetzlich, ehelich aufnimmt als auch sein Kind, durch den Vaternamen nämlich, wird dies Neugeborene zum Geschöpf der gesamten Vatersprache, „wo ein Wort tausend Verbindungen schlägt“. Die Sprache zaubert mit ihren Sätzen in jedem Augenblick die entferntesten Zeiten und Räume herbei. Die Sprache entbindet alle Mächte der Geschichte. Die Sprache beschwört den längst gestorbenen Heros herauf. Einem Macaulay, der mit zwei Jahren die fünf Bücher Mosis auswendig konnte, sind Abraham und Joseph genauso gegenwärtige Zeitgenossen gewesen wie die englischen Könige seiner Zeit, Georg III. oder Georg IV. Die Philologen und die Theologen haben sich nie dazu aufgerafft, zu erklären, daß Sprache heraufbeschwört. Aber genau das tut sie, damit wir nicht wie Katze und Hund „Individuen“ zu bleiben haben. Sprache ist also ein Gegenzauber. Verzaubert sind wir in unser bloßes Selbst hinein, so wie Goethe es einmal vom Schlänglein dem Doktor Falk darlegte: „Wie gern möchte dies Tier aus seiner Haut fahren“, sagte er.

Sprache ist Gegenzauber, Entzauberung. Im Wort wird die Verzauberung unseres Schöpfungsanteils aufgehoben, und wir werden unserer selbst mächtig. Denn wir können uns dank des Sprachenschosses dem leiblichen Mutterschoß gegenüberstellen wie kein anderes Wesen. Waisen haben in der überraschendsten Weise Mutter- und Elternlosigkeit „kompensiert“ oder „sublimiert“. Die Schwäche dieser beiden Ausdrücke ist nicht, daß sie falsch sind. Die Schwäche dieser Lehre des Kompensierens und Sublimierens lag vielmehr darin, daß der Psychologe diese Termini wie aus der Luft herbeizauberte. Er wies der leiblichen Zurüstung des Kompensierenden und Sublimierenden keine Rolle an, aus der sich diese Akte als selbstverständlich erklären ließen. So wirkten diese Ausdrücke wie eine Hieroglyphe oder ein Taschenspielertrick.

Wir erlösen aber diese Vorgänge nun aus ihrer Isolierung. Denn alles Sprechen, Hören, Denken, Vernehmen ist gar nichts anderes als Sublimieren und Kompensieren. Wir lernen sprechen, um nicht von den baufälligen Wänden unseres leiblichen Milieus erschlagen zu werden. Jedes Wort ist in gewissem Sinne lebensrettend. Denn wer nur eine leibliche Mutter oder Heimat hätte, ohne die Namen „Mutter“ und „Heimat“, dem könnten sie nie aus einer erweiterten oder erneuerten Welt wiedergeschenkt werden! Aber das Kind, das von seiner Mutter bei seinem besonderen Namen gerufen worden ist, gehört nun in den weiteren Sprachmantel, in die Matrix der Muttersprache, und so wird unter dem Kreuz der Mutter ein neuer Sohn geschenkt, um nur ja die volle Ernennungskraft des Logos, der Sprache, allen nach dieser Stunde Lebenden mitzuteilen. So kann also jedes Menschenkind sich seines bloß angeborenen Selbst bemächtigen, sobald es sich auf den Gott der Nennkraft und des Ernennungsvermögens einläßt und in seinen Schoß aus dem Mutterleib hinüberwechselt. Anders als den //721// Tieren wird uns diese Einlassung durch die Verfrühung der leiblichen Geburt auf gezwungen. Oft hat es Staunen erregt, daß jeder Mensch sich selber gegenübertreten könne. Ich habe mit eigenen Ohren den Affenpsychologen Wolfgang Köhler den heißen Wunsch äußern hören, die Zeit zu erleben, wo der Denker seine eigene Gehirnoperation bewußt beobachten könnte. So ganz will der Gelehrte das Objekt-werden und zugleich Subjekt-bleiben voll auskosten. Der Köhlersche Wunsch ist absurd. Aber an diesem Grenzfall eines durchaus nicht wünschenswerten Wunsches wird der Einlassungszwang des Säuglings auf den Sprachenschoß deutlich. Nur dieser Schoß ermächtigt uns, mit unserer leiblichen Geburt „fertig zu werden“. Denn er wirft uns vor unsere Geburt in alle schon gesprochene Sprache. Das gilt von jedem Menschen, jedem Adamskind. Dazu tritt seit dem zweiten Adam eine polare Sprachkraft der Neubenennung. Als bloße Schoßkinder der Sprache könnten wir nur wiederholen. Aber seit 1954 Jahren beanspruchen wir auch selber, Tod und Leben über unsere Umwelt zu verhängen. Wir urteilen und wir erschaffen die nächste und die nächste Umwelt mit dem guten Gewissen des um seine endgültige Bestimmung wissenden Geschöpfs. Den Neugeborenen empfängt also durchaus nicht nur die Hülle eines vergangenen Erbes oder eines heutigen Zeitgeistes. Nein, er wird auch durch den Namen der christlichen Zeitrechnung über sein leibliches Ende hinausgeworfen: er kann auch vom Ende aller Zeiten her sein heutiges Dasein umstimmen. Der erste Schöpfungstag und das Ende der Zeit sind beide zu seiner Verfügung gestellt, weil der Logos nicht nur vom Schöpfer der Welt ererbt wird, sondern auch und ebenso dem erst noch kommenden Gott, dem Heiligen Geist, entspringt.

Denn die Sprache ist sogar für die selbstbewußtesten Heiden von heut, die Jünger, Heidegger, Rilke - ob wir das wissen oder leugnen oder zugeben, macht da nur wenig aus — , die Sprache ist auch für den modernen Atheisten seine Befreiungskraft geworden, dank deren er die Matrix „Muttersprache“ und das Geheiß seiner Väter durch die Sprache der Töchter des Zeus, der Musen, und das Vollwort der Söhne Gottes, der Brüder Christi ergänzt. Künste und Politiken sind Tochtersprachen und Sohnessprachen, die mit dem ersten Wort bereits in die Neugeborenen hineinschallen. Was ist der Sinn der Taufe, der Namengebung, der Erziehung? Erziehen ist nicht ein Kneten oder eine Massage des „Individuums“; Erziehung macht das Kind seiner selber mächtig. Seiner selber mächtig wird es, wenn es sich vom ersten und vom letzten Tag der Schöpfung her sehen und zurechtrücken kann. Erziehen gibt Verfügungsmacht über das vor mir Getane und das nach mir zu Tuende! Sie hebt das Kind auf die Zeitebene, die ein bloß der eigenen Zeit Verfallener nie erreichen kann. Denn diese Zeitebene streicht über seine Fußsohlenebene als Scheitellinie. Dort, wo unser Sprachsinn sich ausbildet, werden wir auf die Geschichtsebene der Erziehung heraufgehoben. Damit erleuchtet sich das fremdartige Wort „sublimieren“ erst ganz. Die Schwelle des Wortes muß überschritten werden, das inartikulierte Dasein muß durch die ausdrückliche sprachliche Erfassung überwältigt worden sein; dann überwinden //722// wir die Gefahren des stummen Schmerzes. „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide“, gilt für alle und nicht nur für den Einen.

Also, die Sprache wartet auf den Neugeborenen, um neu das Weltgeheimnis in seine Umwelt hinein auszusprechen. Wortsohn, nicht Muttersöhnchen, ist der geheilte Mann. Wortbraut, nicht Kätchen oder Gretchen oder Lieschen, ist die heile Frau. Denn in der ungeheuren Weite des Sprechens von Adam und Eva her und auf den Jüngsten Tag hin wird jedes Kind darauf angewiesen, Sohn und Braut ins Gespräch zu bringen.

Hier erhellt sich ein letzter grober Unfug der Herren Rousseau und Kant: Sie meinen ja, der selbstbewußte und der natürliche Mensch sei die Einheit Mensch. Aber seltsam banal ist die Wahrheit; sprechen läßt sich nur zu zweien. Niemand „hat“ Sprache. Auch Goethes Vers vom „Sagen, was ich leide“ wurde mit des Deutschen Bundes allerhöchsten Privilegien gedruckt und gelesen. Wir können nur miteinander des Mutterschoßes Sprache mächtig werden! Der Embryo entwickelt sich „allein“. Und der ganze Entwicklungsgötzendienst rührt von dieser Betonung der „eigenen“ Entwicklung her. Aber der Säugling lernt nur zu zweien sprechen. Und er hat sich der Sprache erst dann bemächtigt, wenn am Ende seiner geistigen Geburt ihm jemand zuhört, ihn anhört und ihn erhört. Vorher ist sein Wort unbewährt. Seine Wahrheit steht also noch aus. Brautwort haben wir daher vorhin die Erörterungssprache genannt, an der sich Sohneswort bewährt haben muß, um zukunftsträchtig zu sein.

Der Logos, der Wortsohn des Johannesevangeliums, bewährt sich in der bräutlichen Erhörung seiner apostolischen Kirche. Sonst wäre Jesus von Nazareth der von Goethe für die Kreuzigung empfohlene Schwärmer im dreißigsten Jahre geblieben. Aber aus Wortsohn und Wortbraut wird unsere Zeitrechnung jedesmal, wenn Affenliebe unserer Eltern und die Kinderfeigheit unserer selber durch die befreiende Macht der Sprache überwunden werden.

Diese wechselnden Verhältnisse zum Sprachgut erlauben uns, klar Stufen oder Lebensalter zu unterscheiden.

Erst muß dank der Vater - und Muttersprache, in Staat und Kirche, jeder Neu -geborne seiner selber mächtig werden; essen statt fressen, trinken statt saufen, sprechen statt schreien, beten statt seufzen, zieht das Kind in die Freiheit von sich selber und seiner angeborenen Natur. Sobald die Jugend verblüht, wird derselbe Mensch ohnmächtig vor Todesfurcht und Angst, es sei denn, er werde an die Sprache vom Ende her angeseilt. Geschieht diese neue, endgültige Ansehung, und hält die Sprache seines ersten Adam ihn von der Geburt her, so //723// lebt er gestrafft: Er hängt im Seil. Er ist eingekreuzt in den Sprachenschoß, in dem zukünftige Verheißung und gestrige Überlieferung zugleich wirken.

Daß er selber dieses eingekreuzte Geschöpf ist, das auf seinen Namen hört und sich einen Namen macht, das weiß jeder, der geliebt hat und geliebt worden ist. Denn dieser Einkreuzung verdankt er alle seine Macht über sich selber und seine Umwelt.

Nämlich der ganzen Welt, der ganzen Schöpfung, wird der mächtig, der mit Überzeugung das Tote bespricht, die Lebenden anspricht. Der ist so geliebt worden, daß er nun selber dem Leben Liebe, neues Leben also einhaucht.

Das Lebensalter der Weltherrschaft des Menschen ist also das Alter. Das Lebensalter, in dem ich mich erst einmal meiner selber bemächtige, ist die Jugend. Dazwischen nun, nachdem ich compos mentis, Herr meiner selber bin, und bevor ich mich der Welt bemächtige, bin ich Jüngling, Student, Grieche, Philosoph oder, abgekürzt, „selbstbewußt“.

Die vorübergehende Erscheinung des betonten „Selbstbewußtseins“ zwischen Jugend und Alter wird seit über zweitausend Jahren von den Parmenidessen, den Sokratessen, den Tübinger Stiftlern, den Homo-sexuellen, durch André Gide zur Normalzeit des Lebens gestempelt. Ist die akademische, platonische, kritische, idealistische Haltung so „normal“? Wir alle durchlaufen eine Zeit des Selbstbewußtseins, nachdem unsere Eltern sich an uns zu Ende geliebt haben, und bevor wir uns der Welt zu bemächtigen vermögen und das Brautwort sich mit unserer Sohneswerbung gekreuzt hat. Da wird der arme Kerl, Herz - Kopf -Lebensrute, Nieren - Arme - Beine, nicht mehr mit sich selber fertig und hat doch noch weder Weib noch Welt. Das Selbstbewußtsein tritt da in die Lücke. Es ist ein Ausnahmezustand. Da steht allerdings ein auf sich selbst zurückgeworfenes Selbst der ganzen Welt gegenüber: Das Selbst ist für diesen unseligen Moment das Subjekt-Ich, die Welt ist für diesen gefährlichen Nullpunkt das Nicht-Ich, das Objekt.

Schelling hat sich selber in dieser Lage als „Hans Widerborst“ besungen. Dies. mit gesträubtem Haar aller Vorwelt entlaufene, dies mit Trotz alle Nachwelt herausfordernde Selbstbewußtsein ist der Kern des deutschen Idealismus der deutschen Pfarrerssöhne, es ist aber auch der Lockes und der Descartes. Denn bewußt, zweifelnd, kritisch, individuell ist dieser Ich sagende Menschenjüngling, der auf seine Selbständigkeit pocht. Von Hans Widerborst, von Schelling wurde das große Weltgedicht erwartet. Aber das Weltgedicht wurde nie geschrieben, und Schelling blieb nicht Hans Widerborst. Heut wissen es sogar die Philosophieprofessoren — 1914 war das noch unbekannt —, daß der alte Schelling der eigentliche Schelling gewesen ist. Seine „Weltalter“ sind weiser als sein Weltgedicht. Denn er hatte in der Liebe Karolines erfahren, daß die Widerborstigkeit am Polterabend ihr Ende nimmt. Da wird das Selbstbewußtsein als Wahn entlarvt, als der notwendige Wahn des Freiers, bevor sein Wort erhört wird. //724//

Die Jünglingswende bleibt uns geehrt als die Einkehr in das eigene Selbst kraft Selbstbewußtseins. Aber ohnmächtig ist dies Selbstbewußtsein, und es ist vorübergehend. Es muß vorübergehen; denn sonst könnte sich kein Mensch der Welt ehrenhaft bemächtigen. Wir sollen aber die Welt beherrschen! Macht predigt uns die wirkliche Erschaffung der Menschen als ihre Verheißung und ihre Bestimmung!

„Anfänglich unserer selber mächtig werdend, am Ende weltüberwindend, dazwischen selbstbewußt“, so lauten die drei entscheidenden Züge unseres Lebensverlaufes. Nacheinander (beileibe nicht alle!).

Sobald wir mündig werden, stutzen wir. Daran zeigt sich, daß wir ausgelernt haben. Nun, selbstbewußt, suchen wir, ob wir nicht selber auch etwas zu sagen haben. Erst nachdem „Du“ deiner selber in sprachoffenem Gehorsam mächtig geworden bist, erst nachdem „ich“ selbstbewußt und zweifelnd der bisherigen Sprachwelt entsagt habe, können wir die Welt neu schaffen, in unserer Stunde. Nun aber tritt eine vierte Stufe des Beerdigens hervor. Denn wenn diese Stunde der uns eingeräumten Wiedergeburt und Neuschaffung der Welt ausgeschlagen hat, dann ist es Zeit, diesen einzelnen Aeon Gottes, aus Du, Ich, Wir gebildet, ad acta zu legen. Denn Gott ist derselbe in jedem Aeon. Un d es gibt viele Aeonen! Die falschen Übersetzungen des „eis aiones ton aionon“, der Zyklen der Zeiten, in der englischen, französischen und lutherischen Bibel, während der Zeit von Luther bis Goodspee, verraten die falsche Logoslehre dieser vierhundert Jahre. Von 1500 bis 1900 hat sich ein armes Lichtstümpfchen, „Ich“ genannt, kraft Selbstbewußtseins durch die Welt bewegen sollen. Das mußte in Weltkriegen enden. Denn diese selbstbewußten Individuen mußten notwendig verlernen, Frieden zu schließen. Man predigte ihnen nicht umsonst ein natürliches Leben. Leider ist der Friede nie natürlich. Denn er beruht auf Friedensschluß. Es gibt nur ausdrücklichen Frieden! Die Natur kennt den Frieden nicht. Aber der Mensch tritt bei seiner leiblichen Geburt in den Zeitenschoß der gesamten Sprache und empfängt in ihm die zweite Geburt. Der aus dem Mutterleib in die Muttersprache hinüberwechselnde Säugling erfährt in Zuchtwahl den universalen Frieden — „die Eintracht und den Frieden der göttlichen Natur “ hat Hölderlin dies goldene Zeitalter des Säuglings exakt beschrieben. Die Darwinsche „natürliche Zuchtwahl“ ist ja ein Märchen. Aber die geschöpfliche Zuchtwahl der Kinder des Logos ist kein Märchen; sie ist nüchterne, bei jedem Gebornen wieder eintretende Friedensschöpfung und Friedenserfahrung. Hitler hatte diese Friedenswunder seines Dich nie erfahren. So konnte er nie Frieden schließen.

Die nächste Folgerung hieraus ist, daß die Lehren von der Prälogik der Primitiven und Kinder nun ihren echten und bleibenden Platz im Bilde der Menschenfamilie erhalten. „Prä-logisch“ ist ja wie „unterbewußt“, „international“ //725// oder „asozial“ eine kraftlose Denkfigur. Diese Worte versagen sich das Recht, jene innere Notwendigkeit auszusprechen, die dem Prälogischen, Unterbewußten, Internationalen und Asozialen innewohnt. Sie gehen beflissen von Logik, Bewußtsein, national, sozial aus, um sie als Normen zu überwerten und ihnen nur eine Konzession zuzumuten. Gewisse Voraussetzungen sollen sie halb-widerwillig anerkennen. Das Kind ist aber nicht „prälogisch“. Du hast kein „Unterbewußtsein“, die Kirche ist nicht „international“, der Künstler ist nicht „asozial“.

Das Kind, Du selber, die Mutter Kirche und der Künstler repräsentieren eine Form in der Grammatik der Geschöpfe, dank derer diese ihrer selber mächtig werden! Die Dichform ist die Ermächtigungsform des Lebens, ohne die niemandes Logik, niemandes Bewußtsein, niemandes Nationalismus und niemandes Werke etwas taugen. Hitler hatte keine Kindheit, Descartes nur Verachtung für sein Unterbewußtsein, Clemenceau keine Kirche und Friedrich Wilhelm III. keinen Funken künstlerischen Sinnes. Deshalb war Hitler sinnlos konsequent in seiner Logik, das Prälogische war verkümmert. Descartes verwechselte Bewußtsein und Seele. Clemenceau verwechselte Frankreich, die Nation, mit dem menschlichen Geschlechte. Friedrich Wilhelm III. wagte es, eigenmächtig eine neue Liturgie seinen Untertanen aufzuzwingen.

Alle diese mißbildeten Geschöpfe übten verbotene Eigenmacht. Sie waren eines vollen Selbst nicht wirksam mächtig geworden. Ihr mißbildetes Selbstbewußtsein trotzte daher als Ich der Welt, statt erst einmal liebend zu vernehmen, was diese ihnen mitzuteilen hatte und dann aus der vernommenen Ewigkeit die nächste Ewigkeit heraufzubeschwören. Was passiert denn, wo Du prälogisch, Kunst asozial, Kirche international, Seele Unterbewußtsein benannt werden? Prälogik: Aus 4000 Jahren, die Hitler 1934 am 1. Mai beschwör, werden bei Fehlen des Gehorsams die grauenvollen zwölf Jahre 1933 bis 1945. Unterbewußtsein: Aus den Kreisen der lebendigen Aeonen wird bei Descartes die Zeit zu einer sinnlos und unaufhörlich wiederholten „Sekunde“. International: Aus der Völkerfamilie wird bei Clemenceau eine Verhöhnung der Solidarität mit den Besiegten. „Asozial“: Der Dichter Verlaine ermordet seinen Schwiegervater, um — wie mir ein Aesthet versichert hat — „um“ ein schönes Gedicht darüber zu schreiben.

Das ist aber im Privaten dasselbe, was Friedrich Wilhelm III. 1825 tat: Er kriegte seine „schöne“ Liturgie, aber tötete die lebende Gemeinde. Die wurde „altlutherisch“!

Eine weitere Folgerung erklärt das Problem der Macht. Die Frage der Macht tritt nun in ein neues Licht, weil wir jetzt die nach außen wirkende Macht mit der Eigenen Macht zusammensehen können. Die Diskussionen und Bücher über „Macht“, „Machtergreifung“, „Machtmißbrauch“ behandeln die Macht als einen Zusatz zu uns selber. Hier steht der Mensch: dort gelüstet’s ihn nach Macht. //726// Die biblische Grammatik widerlegt diesen Unsinn. Wir werden geboren, um unserer mächtig zu werden. In diesem Satz wird der Umfang unserer Macht genau beschrieben. Alles dessen, was zu unserem Selbst gehört, sollen wir mächtig werden. In jeder Generation wechselt der Weltanteil des Selbst. „Selbst“ ist ja unsere Weltteilhaftigkeit. Das Kind lernt Sauberkeit, es lernt das elektrische Licht andrehen. Es lernt radfahren: es bemächtigt sich der Welt. Die Wasserspülung, das Kraftwerk, das Fahrrad werden entsprechend von selbstbewußten Erfindern erfunden, von weltmächtigen Industriellen produziert und von politischen Machthabern durchgesetzt.

Das Vermögen des Geschöpfes und die Macht über sich selber und die Welt sind also von vorneherein drei Seiten derselben Ermächtigung und Vollmacht.

So aber wie heut über die Macht geredet und geschrieben wird, ist sie ihr Widersinn, nämlich bloße Eigenmacht, also Abfall von der Ermächtigung, des Seiner-selber-mächtig-werdens und der Vollmachten.

So wie den Freud, Darwin, Marx und Nietzsche „der“ Mensch unter den Händen zerronnen ist, weil sie das anfangende Dich durch den Naturbegriff eines einzelnen Menschen ersetzten, so zerrinnt dem bloßen Machthaber und Machtergreifer die Macht, weil wir nur das vermögen, wozu wir ermächtigt werden.

„Macht“ kommt nicht vom „Können“! Man „kann“ 6 Millionen Juden töten, man kann die Welt erobern, man kann sich selber zum Christus ernennen. Aber man „ver-mag“ es nicht. Denn die Vollmacht des Logos empfängt den Neugeborenen auf der Schwelle des Lebens und beruft Dich erst zum Geschöpf des Vaters und dann zum Wiedererschaffer seiner Welt.

Die angeblich zweite Form der Schulgrammatik, „Du, Deiner, Dir, Dich“, ist in Wahrheit die Erste Person der Grammatik der Erfahrung. Und als Grammatik der Erfahrung, als empirische Grammatik, vermag uns die neue Lehre gegen alle Zeitmoden zu schützen. //727//

„Dich und Mich (Teil 1)” als PDF-Scan
„Dich und Mich (Teil 2)” als PDF-Scan

zum Seitenbeginn

  1. In „Neues Abendland“, 9.Jgg. Nov.1954, Heft 11 

  2. In „Neues Abendland“ Dez.1954,9.Jgg. Heft 12,/USA Archiv 461/ 

  3. Der Autor stellt im Folgenden die Fragen und zieht die Folgerungen, die aus seinem im letzten Heft veröffentlichten Aufsatz „Dich und Mich — Lehre o d e r Mode“ (NA Nov. 54, S. 643 ff.) erwachsen.