Rosenstock-Huessy: Der Datierungszwang und Guiseppe Ferrari (1812 - 1876)
Das Hervortreten neuer Diener des Worts, neuer Gesichter, die einander ansehen, vollzieht sich in Epochen. Um den Begriff der Epoche tobt der Kampf zwischen den gelehrten Anmerkungen und dem Text der menschlichen Geschichte. Viele Fußnotenhistoriker leugnen zwingende Epochen. Sie halten alle Periodisierung für Ergebnisse ihrer Forschung. Wir sagen: sie liegen aller Forschung zugrunde und sind das Gemeingut unseres Geschlechts.
Als ich studierte, galt jeder Glaube an objektive Epochen als unwissenschaftlich. Die christliche Zeitrechnung galt seit Overbeck für wissenschaftlich wertlos. Nun gar bestimmte Zeitlängen für die einzelnen Epochen waren als Zahlenmystik verpönt. Aberglauben hieß jeder Versuch, für die Lebenskraft unseres politischen Atems Fristen und Spannen anzusetzen. Ich selbst war nie an solchen Zeitraumrechnungen sonderlich interessiert und teilte daher den allgemeinen Abscheu gegen „Zahlenmystik”. Alles, was ich im folgenden über Epochen mitteile, ist ohne jeden besonderen Eifer und gegen meine Absicht zur Steuer der Wahrheit mir klar geworden. Im Jahre 1919 stellte sich mir das Gesetz der je vier bis fünf Generationenspannen in der deutschen Rechtsgeschichte unwidersprechlich entgegen. Ich erkannte es in einem Essay („Neubau der deutschen Rechtsgeschichte”) an, ohne weitere Schlüsse zu ziehen. Gleichzeitig fand ich im europäischen Rahmen eine ganze Serie von Zeitrhythmen für das Auf und Ab jeder Totalrevolution und teilte sie - selber erstaunt - später in den „Europäischen Revolutionen” mit. Josef Wittig und ich ordneten die Kirchengeschichte in vier Spannweiten von je 500 Jahren in unserem „Alter der Kirche”. Ich sah ferner, daß die sogenannten Genealogien des Neuen Testaments in Wahrheit Epochen des Geistes zu sein beanspruchten. In der „Werkstattaussiedlung” - 1922 - fand ich die Periodisierung der industriellen Gesellschaft.
Spengler hatte inzwischen die zyklische Berechnung der Epochen populär gemacht, und der Leser mag selber Goethes Periodisierung - auf der Spengler fußt - aufsuchen. Erst am Ende, 1946, entdeckte ich den tiefsten Denker dieser Frage, den genialen Giuseppe Ferrari, den die liberale Schule der Meineckes und Benedetto Croces nach Kräften totgeschwiegen hat. Friedrich Meinecke in seiner schwächlichen Art hat Ferraris „Staatsraison” ausgeschrieben, aber in einer einzigen Anmerkung auf S. 83 erwähnt er herablassend den turmhoch überlegenen Schöpfer seines Themas. Der Evolutionist Gentile hat Ferrari sogar für einen Historiker erklärt, den es nicht hätte geben dürfen! Ferrari hatte keine Schüler und keine Schule. Und die beiden Schulhäupter Meinecke und Croce konnten daher das Lebenswerk dieses Mannes ungefähr so totschweigen, wie die klassische Ökonomie Karl Marx- und wie die Kathederphilosophen Schopenhauer totgeschwiegen haben. Es erfüllt mich mit Ehrfurcht, daß diese Großen ihr Lebenswerk trotz der liberalen Intoleranz vollbracht haben. Es ist meine eigene Erfahrung, daß die Liberalen sich an Intoleranz, Plagiat, Totschweigen mit jeder anderen Götzendienergruppe messen können.
Ferrari hat für Italien, für Europa und für China die Epochengliederung immer neu untersucht. Mein Suchen zwischen 1919 - 1946 auf den verschiedensten Gebieten hat mir jedesmal die Antworten eingetragen, die ich 1946 schon bei dem von 1840 - 1876 schreibenden Ferrari fand. Ferrari wußte 1870, daß um 1917 die ökonomische Revolution ausbrechen würde und daß um 2000 die Welt entweder untergegangen oder aber eines einheitlichen neuen Glaubens und Verkehrs sein werde. Zwei Gruppen von Erkenntnissen verdanken wir Ferrari: 1. Die menschliche Geschichte erneuert ihre Zählung in den Herzen der Gläubigen alle 120 bis 150 Jahre. 2. Jedes dieser Großjahrhunderte verläuft in einem erkennbaren Rhythmus. Die Epochen kann jeder sofort nachprüfen, der „vor dem Weltkrieg” oder „nach dem Weltkrieg” heute sagt. Es mag Weltkrieg Nummer I oder Weltkrieg Nummer II sein, den er so zur Zeitbestimmung benutzt, auch mag er „vor 1914” oder „vor 1939” sagen - Tatsache bleibt auch in der Maskerade der bloßen Jahreszahlen, daß die Weltkriege in sein Urteil einschneiden.
Die Dinge vor- und nachher müssen verschieden beurteilt werden. Sie stehen in einem anderen Zusammenhang. Man kann nicht ebenso sagen: vor 1927 und nach 1927. Epochen werden nämlich durch erschütternde Tatsachen in uns hervorgebracht, Jahreszahlen aber durch unerschütterliche Forschung. Ohne Erschütterung keine Epoche. Daher hat der Gelehrte als Gelehrter keine Einsicht in Epochen.
Epochen sind erschütternde Ereignisse. Nur wer von ihnen erschüttert werden kann, versteht menschliche Geschichte. Sie gehören daher nicht in die unerschütterte Räumesoziologie, sondern in die Zeitenkunde, in der wir erschrecken dürfen. Daraus erklärt sich das Abklingen jeder Epoche und die allmähliche Abstumpfung der Völker gegen eine alte Epoche. Eine neue Epoche erneuert dann die Erschütterung. Erschütterung ist eben das Bindeglied und der Mörtel jeder geschichtlichen Gruppe. Mithin stehen Gruppenbildung und Erschütterung in Wechselwirkung. Eine geschichtliche Gruppe ist der Kreis, dem sich eine Erschütterung mitteilt. Eine Epoche ist die Zeit, während der diese Gruppe „schwingt” wie das Wasser, wenn ein Stein hineingeworfen wird. Da in jedem von uns auch leiblich die Quadrigeniinafalten Empfangsorgane phylogenetischer Erschütterung darstellen, so erklärt sich diese Hineinbildung der Erschütterung in jedes Gruppenglied. Sind die Schwingungen der Erschütterung vorüber, so löst sich die Gruppe auf, es sei denn, sie erneuere die Anfangserregung. Zum Beispiel haben die Napoleonischen Kriege England neu erschüttert und damit die Reformgesetzgebung hervorgerufen. Dank dieser Reform gewann England ein anderes Jahrhundert Zeit.
Eine solche Erschütterung wird jedesmal durch ein neues „Vor” und ein neues „Nach” bezeichnet: „Vor” dem Weltkrieg oder „nach” der Glorious Revolution oder „nach” der Französischen Revolution. Es gibt einen Datierungszwang. Die Wichtigkeit des Datierungszwanges zeigt sich in dem leidenschaftlichen Bemühen der epochalen Gegner, eben diese Neudatierung zu beeinflussen. Beispiele: „Zehn Tage, die die Welt erschütterten”, behaupteten die Russen von ihrer Bolschewistischen Revolution, als diese Welterschütterung noch längst nicht Tatsache war. Umgekehrt wollten die Reaktionäre „return to normalcy”, wie man in Amerika sagte, das heißt zu 1914 zurück. Hindenburg wollte 1931, als sei kein Weltkrieg verloren, Wilhelm II. zurück haben. Als die Banditen den General Schleicher 1934 ermordeten, rief der alte Makkensen aus: „Meine Herren, und so etwas geschieht in Preußen.” Daß das königslose Preußen eine Leiche war, war ihm unfaßbar, er hieß doch noch preußischer Generalfeldmarschall. Die englische Umwälzung des 17. Jahrhunderts liefert ein großes, aber verschollenes Beispiel dieses Datierungszwanges. Die Puritaner, die Karl I. 1649 hinrichteten, datierten von diesem Ereignis das erste Jahr der Restaurierung der Volksfreiheit. „First year of Freedom Restored” stand auf dem Staatssiegel. Als Karl II. zurückkehrte, galt es, Cromwells Neudatierung der Zeit ungeschehen zu machen. Also sprachen Karl und sein Minister Lord Clarendon 1660 von der Restauration der wahren Ordnung. Indem sie das Wort „Restauration” also den Revolutionären entwanden, bekämpften sie erfolgreich deren „Epoche”. So kam es zu dem seltsamen Ergebnis, daß die Stuart-Restauration die „Restauration” der Magna Charta seitens der Gentry in Vergessenheit gestürzt hat. 1815 dachte niemand an Cromwell bei dem Wort „restauration”. Nach dem Wiener Kongreß wurde Europa mit der Fürstenrestauration einseitig abgefunden. Auch wir gebrauchen „Restauratio”, um statt von einer Revolution wie Cromwell von einer Reaktion zu sprechen. Cromwells Jahrzehnte von 1641 bis 1660 sind namenlos geblieben. Eine Revolution wird offiziell erst auf 1688 in englischen Büchern datiert. Denn 1688, in der Glorious Revolution, wurde der endgültige Name „Revolution” zum ersten Male gebraucht. Der erfolgreiche Diebstahl des Wortes „Restauration” seitens der Königspartei gegen die „Restauration der Freiheit” erzwang die Einsetzung des neuen Namens „Revolution”. In meiner Abhandlung „Revolution als staatsrechtlicher Begriff der Neuzeit” stehen die Belege für diese langsame Erhebung des Revolutionsnamens. Heute ist das in Europa total vergessen. Eine Restauration klingt in modernen Ohren immer nur wie eine konservative Herstellung der alten Mächte. Der Leser wird es kaum glauben können, daß Cromwell den Namen Restoration als Feldgeschrei der Befreiung ausrief! 1815 schon wurde die Rückkehr der Bourbonen mit der der Stuarts von 1660 verglichen. Und 1688 gab es einen neuen Namen, Revolution, für das, was 1649 Restoration hieß. Das machte es viel schwerer, die „Epoche” zu erfassen. Will aber ernsthaft jemand bezweifeln, daß die Glorious Revolution von 1688 die endliche Durchsetzung des Britischen Commonwealth von 1649 ist? Cromwells ,Restoration of Freedom’ dröhnte so laut und taufte die Epoche wie die Reformation Luthers, die Epoche des Protests getauft hat.
Ferrari hat erkannt, daß die Epochen unerbittlich laufen, ganz gleich, wie sich die Zeitgenossen um sie herumdrücken möchten. 1641 - 1688, 1789 - 1830 sind also absolute Korrespondenzen oder Konsonanzen. Entsprechend habe ich meinerseits gezeigt, daß in der Weltkriegsrevolution 1904/05 der Russisch-Japanische Krieg ein Auftakt zu 1914 und 1939 ist. Auch hier gilt es also, die Epochenbildung 1904 - 1945 anzuerkennen, obwohl wir diesmal bloß „erste” Revolution und „zweite” Revolution, „erster” Weltkrieg und „zweiter” Weltkrieg sagen. Sogar die Restauration und die Reaktion sind diesmal von den Revolutionären in eigene Regie übernommen worden. Stalin ist sein eigener Konterrevolutionär geworden, wie sein Film „Iwan der Schreckliche” allein schon beweist. Und Stalins Rolle erläutert, wie umgekehrt König Karl II. von England sein eigener Restaurator zu sein wünschte. Beide, Karl II. und Stalin, habe diese Rolle ihres Gegenteils tatsächlich meisterhaft gespielt.
Weshalb denn dieser unbegreifliche Eiertanz und Schleiertanz? Wegen der Macht der Zeiten. Epochen lassen nicht mit sich spaßen. Ferrari hat wunderbare Sätze über diese Gewalt der Epoche, Menschen der Vergessenheit zu übergeben. Das hat gar nichts mit ihrer physischen Leistungsfähigkeit zu tun. Die Zeit kann sich in ihnen nicht erkennen. Wir können uns „nichts unter ihnen vorstellen”, sagt die Sprache, wenigstens nicht das, was uns voranhelfen würde, um die neue Epoche zu meistern.
Aus dem Auf und Ab der die Epoche zu hastig ergreifenden oder zu träge nicht begreifenden Parteien entsteht der innere Rhythmus innerhalb jeder Epoche, der mindestens eine vorbereitende Generation mit umfaßt. Hier ist noch unendlich viel zu lernen. Ferrari ging aus von solchen Tatsachen wie der Erschaffung der Enzyklopädistenpartei in Frankreich zwischen 1751 und 1789. Ich habe viel mehr auf das erregende Moment geachtet und fand ein volles Jahrhundert in unterirdischem Feuer: Bei den Russen ist es klar, daß der Geburtstag der Revolutionsgruppe auf 1825 und die Dekabristen fällt. Aber Huss’ Verbrennung 1415 hatte dieselbe Bedeutung für die lutherische Ketzerei; im Jahre 1685 wurde in Frankreich der Sturm von 1789 unausweichlich durch die Aufhebung der Hugenottenfreiheiten; 1535 haben Heinrich VIII. und sein „Hammer der Mönche”, Thomas Cromwell, das Kommen des Oliver Cromwell heraufbeschworen. Denn 1535 wurde das mittelalterliche Gewissen des Fürsten, wurde der Kanzler hingerichtet - Thomas Morus war der Kanzler, den das traf -, und von 1535 bis 1649 war also England ohne organisiertes Volksgewissen gegen seine Könige. Das schrie nach Rache. Wie gesagt, ein viel ausführlicheres Studium dieser „Schwingungszahlen” ist möglich. Und es ist möglich, daß von Jahrhundert zu Jahrhundert die Schwingungszahlen, die Zwischenräume durch den Bewußtseinsgrad kürzer werden. Henry Adams hat das geglaubt; Daniel Halevy hat das neuerdings untersucht. Bewiesen ist es noch nicht. Doch braucht der Leser sich nur die Frage vorzulegen: ist Revolution nicht heute schon eine abgegriffene Münze? Spielen die Menschen nicht damit wie mit etwas Alltäglichem? Um zu begreifen, daß sich sogar Revolutionen abnutzen. Dann aber können sie nicht mehr Epochen machen! Das ist m. E. heute bereits der Fall. Stalins Gegenrevolution und finsterste Reaktion nennt sich noch Revolution. Damit ist das Wort bedeutungslos geworden. Ich bin seiner überdrüssig. Es kann alles und nichts beweisen. Nennt sich einer Revolutionär, so kann er der finsterste, abergläubischste, rückständigste Knecht sein. Dieser Titel scheidet die Geister nicht mehr.
Die andere große Entdeckung Ferraris ist die von den großen Epochen von 400 - 500 Jahren. Sie entspricht der Behauptung des Matthäus, daß alle vierzehn Generationen ein neuer Atemzug Gottes einsetze. 400 Jahre verstreichen zwischen Joseph und Moses, von David bis zur Babylonischen Gefangenschaft.
Ich will an den vier Epochen der Kirche zeigen, wie zwingend, wie unentbehrlich und zugleich wie begrenzt der Wert dieser Großepochen ist. Die Kirche geht von Seelenkirche bis 525 zu Kulturkirche bis 1054, zu Geisteskirche bis 1517, zu Naturkirche bis heute oder noch ein wenig länger.
I. Von der Kreuzigung bis 525 ist die Kirche Seelentempel; denn erst 525 ist sie voll sichtbar, die Seele ist aber unser unsichtbarer Teil. Wie beweise ich das? Erst im Jahre 525 nach Christi Geburt wurde die christliche Zeitrechnung eingeführt. Von Christi Geburt bis zu Justinian zählten auch die Christen die Zeiten der Welt nach den Konsuln Roms. Also stand die Kirche selbst in einer zweiten Wirklichkeit nur der Seelen, zuerst 300 Jahre lang sogar außerhalb der sichtbaren Welt und bis zum Sieg der Germanen noch überglänzt von den Cäsaren. Jeder vor 525 verstand darum, daß sich die Auferstehung nur glauben lasse. Die Auferstehung konnte sich nicht sehen lassen! In der eigenen christlichen Zeitrechnung aber wurde der neue Maßstab der Welt für sichtbar erklärt. Auch die Weltkinder konnten sie sehen und betasten. In den Gebeinen der Heiligen lag die Seelenkirche nun imponierend vor den Augen der Volker; auf den Altären, vor denen Römer und Barbaren knieten.
II. Die Kirche bei den Germanen war durchaus nicht die über das Römische Reich vorprellende künftige Seelenmacht, sondern sie wurde umgekehrt zur treuen Schatzmeisterin der „romanischen” Zeit von Justinian zu den Kreuzzügen. Die Kirche lehrte nun, schrieb Handschriften ab, brachte Glas, Wein, Ziegel, Ackerbau und Viehzucht, Vertrag und Urkunde zu den Barbaren. So wurde die romanische Kirche zur Kulturträgerin in den Augen dieser Barbaren. Aus der Herausforderin Roms wurde seine Erbin, die Kulturkirche. Die Kirche war „gebildeter” als ihre gläubigen Volker.
III. Mit den Kreuzzügen aber beginnt die „Renovatio”, diese geistige Wiedergeburt des kirchlichen Altertums. Jerusalem soll zurückgewonnen, „rekuperiert” werden; 19 Päpste nannten sich im 11. und 12. Jahrhundert nach je einem Papste des ersten Jahrtausends die „zweiten”, wie Sylvester II., Lucius II., Clemens II. usw. Diese geistige Erinnerung und Verinnerlichung haben wir im „Alter der Kirche” kurzab „Innerung” genannt. Sie umfaßt die Scholastik, die Schule innen und die revolutionären Ausbrüche der Kreuzzüge außen. Noch Amerikas Christoph Columbus hielt sich für einen Kreuzritter. Die Schlacht von Lepanto von 1570 war das letzte Aufzucken dieser Kreuzzugskirche des Nachdenkens.
IV. Von Columbus an, also seit 1492, heißt die Zeit die Neuzeit oder mit ebenso großem Recht das Zeitalter der Entdeckungen. Die Kirche tritt in diesem Zeitalter als Organisation unter andere Organisationen, sie nennt sich eine „vollkommene Gesellschaft”, was sie leider mit allen anderen Gesellschaften vergleichbar macht. Alles Vergleichbare wird eben damit natürlich. Du bist unvergleichlich. Solange und soweit du unvergleichlich bist, bist du göttlich. Alles Natürliche ist vergleichbar und eben deshalb vergänglich. Die Kirchenrechtler der Neuzeit haben aus der Kirche eine Anstalt, einen Verein, eine Korporation, eine juristische Person „gemacht”. Rudolf Sohm hat dies 300jährige Trachten der „Ulrich Stutze”1 niedriger gehängt, und die Naturrechtler und Aufklärer haben ihm das mit unauslöschlichem Haß und Totschweigen vergolten. Naturgemäß. Denn die Kirche und Rudolf Sohm waren und sind nicht von dieser Welt. Die Aufklärer aber wollten und wollen die Kirche in die Natur der Dinge hinunterzerren. Sie unterhalten Gesandtschaften beim Vatikan, weil das für die Staaten „klug” ist; Mussolini gab dem Papst die Vatikanstadt, aus Macchiavellismus. Im vierten Aspekt ist also das Papsttum Macht unter Mächten. Das ist die Natur der Kirche, ihre alle Verständigen zum Einhalten zwingende Eigenschaft. Natur ist Raumding.
Und doch ist es nur die Ansicht der Welt von der Kirche, die wir hier haben sich wandeln sehen. Das wird gerade an der ersten Epoche der Kirche durchsichtig: Von Christi Geburt bis zur Zeitrechnung einer christlichen Ära „sehen” nur die Gläubigen die Kirche; die Welt sieht die Kirche noch gar nicht, oder später sieht sie etwas anderes in sie hinein.
Die Kirche gibt also in 2000 Jahren vier verschiedene „Aspekte”. Die Erschütterung der Neuzeit von 1517 oder der Romanischen Zeit um 500 war echt. Wenn lieber das Ende Westroms 476 oder die Zerstörung Konstantinopels 1453 von unseren Welthistorikern zur Epochenbildung benutzt wird, so ist das jene Sprachensperre gegen die Kirche, von der die Fußnotenhistorie befallen ist. Die Kirche tritt buchstäblich vier Mal in ein neues Licht:
0 | Stiftung | |
500 | Seele | noch nicht sichtbar: die Urkirche |
1000 | Kultur | meist Sichtbares lehrend: die romanische Kirche |
1500 | Geist | einsehbar: die Scholastik |
2000 | Natur | schon ganz sichtbar: die heutigen Kirchen |
Nun aber käme die Einschränkung: Es gilt nämlich, diese Lichter zwar aufzusetzen, aber alle gleich wichtig zu machen. Das haben die Weltepochler unterlassen. Das Jahr 1000 haben sie eingeebnet. Rudolf Sohm zuerst hat den Kirchenmännern, Houston Stewart Chamberlain hat den Weltmännern ihre Pflicht gegen das Jahr 1059 neu eingeschärft2. Der Leser begreift, daß mein ganzes Geschichtsdenken, seitdem ich 1913 „Königshaus und Stämme in Deutschland von 911 - 1250” schrieb, eben innerhalb eines neuen Respekts für den Rhythmus der Jahrtausende operiert. Das hat schwerwiegende Folgen. Der Ausdruck „Mittelalter” fällt. Karl der Große gehört zur Kulturkirche, „Allerheiligen” eröffnet die Geistkirche. Epochen sind nicht Atome, aus denen sich die Geschichte zusammensetzt. Sie sind vielmehr Leitersprossen, auf denen der Heilige Geist in die Welt hinuntersteigt. Die Epochen kann niemand begreifen, der einer einzelnen Epoche naht. Alle Zeit ist vielmehr eine, vom ersten bis zum jüngsten Tag. Nur wenn alle Zeiten eine sind, läßt sich die schöne Epochengliederung des Zeitkörpers überhaupt wahrnehmen. Wer mit der Zeitung und dem Aktenstück sein Geschichtsdenken anhebt, hat einen anderen Geist als wir. Die großen und die kleinen Epochen, in denen Gott uns anatmet und den lebendigen Odem in unsere Nasen bläst, und deine und meine Lebenszeiten sind ja dasselbe Geschehen. Nimmst du dich tödlich ernst, so wie du heute bist, und suchst du nur dein Selbst vorwärts durch Wachsen und rückwärts durch Kritik zu verlängern, dann gibt es keine Epochen. Von uns selber, als dem Maß aller Dinge, kommen wir nur zu toten Dingen, Konstruktionen, -ismen, mechanischen Mächten.
Der Atem des Schöpfers aber bläst selber in unsere selbstischen Scherben mit Macht seines Wortes, und so ist nichts sicherer, als daß seit Christi Geburt eine neue Ära beginnt, nichts so unsicher, als ob du und ich mehr als Gespenster der Vergangenheit sind. Die großen Zeiten sind felsenfester gewiß als die kleinen. Es ist absolut sicher, daß die großen Ereignisse die großen Ereignisse sind: Kain, Noah, Abraham, Pharao, Moses, Christus, Kreuzzug, Weltrevolution sind besser bekannt und besser verständlich als die „Ursachen” für die Schlacht bei Tannenberg oder für die „Verheiratung” Eva Brauns.
Das Mikroskop ist in der Geschichte der schlechtere Helfer gegenüber dem Teleskop des Glaubens an die Einheit aller Zeiten. Denn während wir im Raum aus Teilen das Ganze zusammenbauen und es da ein synthetisches Kleistern und Konstruieren, Bauen und Bahnen gibt, gliedert sich in der Zeit ein Ganzes aus. Und es tut das, indem es in uns als in seine Zweige und Blätter hineintritt. Uns betritt der Geist, wenn es Zeit ist, und insofern wird ihm unsere Selbstzeit abgetreten. Er macht uns zum Schemel seiner Füße, wenn die Zeit da ist, einen neuen Tritt zu tun. Dann werden wir Stunden des Gottes, der Mensch geworden ist.
Ferrari war sich klar, daß nur der den Zeitmaßen der Geschichte sein Ohr öffne, der erst einmal seinen kurzfristigen Lebenszielen den Laufpaß gebe. Er verlangte ein „Epochendenken”; dies solle die Nachfolge der Propheten und der Päpste antreten. Jesaias und Papst Benedikt XIV., sagte er, konnten noch prophezeien, weil sie kommendes Unglück in ihre Prophetie einschlössen und über die nächste Katastrophe hinaussehen konnten. Ähnlich hat Nietzsche 1889 den Krieg aller gegen Deutschland vorweggenommen und seine eigene Stellung auf die Epoche nach dieser Katastrophe beziehen können. Sie wurden wissend, weil sie ihrer Zeit entsagten.
Der Beitrag, den der Zeitmaß-Schläger zum Rhythmus der Epochen liefere, meinte Ferrari, bestehe darin, daß er sich von der Geschichte selber ernannt wisse. Er mache sich nicht selbst. Er glaube mithin an die Macht des Amtes echter Prophetie. Der Preis bestehe in einem absoluten Verzicht auf den Erfolg. Und heroisch hat er selber diesen Preis erlegt. Dank Ferraris Verzicht ist er heute unverbraucht, inmitten des Bankrotts aller erfolganbetenden „liberalen” Geschichtsschreibung.
Der Vorwurf der Zahlenmystik trifft eben nur die, welche ihre Geschichtszahlen theoretisch errechnen. Nach Ferrari hingegen macht den Zeitmesser der absolute Gehorsam; kraft dieses Gehorsams tritt er als Gattungswesen, mit allen seinen Trieben des Herzens, des Geschlechts, des Hungers und des Verstandes erst selber in die Rhythmen ein, bevor er sie vernehmen kann. Denn - und nun füge ich das Argument gegen die Theoretiker hinzu, das unsere Sprachlehre uns liefert - jeder Epochen-Rhythmus ist einmal von Brüdern unserer selbst gestiftet worden! Sind die Rhythmen der 120 bis 150 Jahre, der 500 Jahre, der Jahrtausende und der ganzen Geschichte willkürliche Theorien? Weshalb sind sie es nicht? Sie sind eben nicht nur da erkannt, nein sie sind als Atemzüge außerdem eines Tages geschaffen worden. Wer Epochen studiert, muß also zweierlei: 1. „der ewigen Brüderschaft im Schaffen der Sprachen lauschen”, 2. ihre Anwesenheit auffinden, wo immer sie sich geltend machen. Ohne 1 ist 2 unmöglich. Wer von 1789 - 1917, von der nationalen zur Weltrevolution, einen Rhythmus wahrnehmen will, kann es nur, wenn oder sobald ihn nach 1917 selber das nunmehr anhebende Zeitmaß erschüttert! Das Leben im Rhythmus, das Vernehmen, geht dem Verstehen des Rhythmus voraus. Wir nehmen hier wahr, wie Vernehmen einatmen, Verstehen ausatmen heißen dürften. Die bleibende Tat Ferraris sollte Zeitmaßforschung sein. An ihr gebricht es völlig. Wie lange kann ein Staat bestehen? Wie lange soll er bestehen? Die Fragen der besten Lebenszeit politischer Formen ist eine notwendige Frage; auch die Frage nach der Zeitdauer für meine Arbeitsplätze ist damit verwandt. Als ich 1922 in der „Werkstattaussiedlung” zuerst nach den Optima von Arbeitszeit und Arbeitsraum fragte und ihre Relationen zeichnete, blieb ich sogar mit der Frage noch auf Jahrzehnte allein. Sobald wir die Zeit als Rhythmus und Widerhall der Ereignisse in Herzen studieren, werden die beiden Antworten, welche der Frage nach den Epochen bisher gegeben werden, ungehörig.
Die Geschichtsepoche gilt als eine Naturtatsache oder als eine Mystifikation. Sie ist aber wie alle Geschichte Erfüllung einer Naturlücke durch menschliche Tat. Das wird zur praktischen Einsicht: Die Weltrevolution von 1917 ist die letzte einheitliche Zeiterneuerung, ist die letzte Totalrevolution der Welt, weil von nun an viele Rhythmen gleichzeitig den einen Weltraum durchsingen werden. Die menschliche Gesellschaft ist durch Umwälzungen endlich in den einheitlichen Weltraum hineingehoben. Um diesem leblosen Raum nicht zu erliegen, müssen fortan viele uns gehörende Rhythmen, also der Rhythmus der christlichen Ära, die Kalender des Jahrtausends, des Halbjahrtausends, der Großjahrhunderte, der Generation, des Sonnenjahres, des Tages, gleichzeitig in uns eintreten und durch uns hindurchschwingen. Die uns zukommenden Zeitmaße, geschaffen von uns, aber auch natürlich für uns, fordern allesamt Gehör und Befolgung. Der Mensch ist das Wesen, das neue Rhythmen schafft und befolgt. Wie heißt es in den „Meistersingern”? „Wie fang ich nach der Regel an?” „Ihr setzt sie selbst und folgt ihr dann.” Denn diese Zeitmaße sind die Rhythmen des Atems, die Luftstoß-Optima des Geistes, vermöge dessen wir fähig sind, in einem toten Weltraum lebendig zu bleiben. Geist erlaubt den Lebendigen, friedlich zu hochzeiten und zu werkzeiten. Der Heilige Geist ist Rhythmus der Rhythmen, Zeitmaß der Zeitmaße, Atem der Atemzüge. Und alle Geister, das heißt alle Lebenstakte, schlagen nur in der Symphonie seines gesamten und ewigen Rhythmus.
Getreu seinen Grundsätzen hat Giuseppe Ferrari die Erschaffung seiner Lehre durch absoluten Verzicht erkauft. Er hinterließ keinen einzigen Schüler. Die Titel seiner Hauptwerke müssen also für ihn sprechen: Histoire des Revolutions d’Italie (4 vols.), Histoire de la Raison d’Etat, La Chine et l’Europe, Sur le principe et les Limites de la Philosophie de l’Histoire, Theoria dei periodi politici, L’arithmetica della Storia. Im Jahrhundert des wütenden Nationalismus wurde er als „italienischer Historiker” miß deutet. Dabei schrieb dieser Mann 1867: „Die akuten Gefahren Europas kommen von Rußland und Amerika. Beide sind von solcher Mächtigkeit, daß sie das Milieu unserer Staaten in unerwarteten Umwälzungen verändern werden. Von 1875-2000 wird sich unsere Zivilisation zwischen diesen beiden Extremen ihren Weg bahnen müssen.” Ferraris erste Tat war eine Ausgabe von Vicos Geschichtsphilosophie. Möge ihn selber auch nach 100 Jahren unsere Notzeit als einen ihrer künftigen Ahnen entdecken.
aus: Das Geheimnis der Universität, Stuttgart 1958, S. 35–43
„Der Datierungszwang und Guiseppe Ferrari (1812 - 1876)” ist Teil des PDF-Scan
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Stutz war Professor des Kirchenrechts in Bonn und Berlin. Er pflegte den Psalmvers „sub aus tuis protege nos” auf den preußischen Adler zu beziehen. ↩
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Wolfram von den Steinen hat den Bruch zwischen Cluny und Gregor VII., den Bruch zwischen Kirchengeschichte und Weltgeschichte, in seiner Schrift „Canossa” 1957 kurz und bündig dargestellt. ↩