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Rosenstock-Huessy: Das Gespräch vor Zeugen (1917)

hds. Widmung: Seinem lieben Erwin im herzlichen Gedenken an den Streik. 3. Jan. 1919 Eugen

Rosenstock, Eugen, Das Gespräch vor Zeugen, Privatdruck, Würzburg: Verlagsdruckerei 1919 (DVD Reel 1.061)

Die großen Streiks des Demobilmachungsfiebers legten in vielen großen Städten die Elektrizitäts- und Gaswerke still. Wie nun die alten Kerzen auf den Tischen der Wirtshäuser erschienen, in den Wohnungen die Karbidlampen, die Kinos aber sogar geschlossen blieben, da tauchte plötzlich der einzelne Mensch aus dem zerfetzten Halbdunkel der einsamen Lämpchen um so charakteristischer und selbständiger empor. Zum eigenen Erstaunen empfand jeder Bürger es als eine Wohltat, das der künstliche Lichtozean, der ihn um die Beruhigung des Abends, um die Vereinzelung der Nacht betrogen hatte, jetzt zerfiel. Gas und elektrisches Licht haben uns leiblich zu überbelichteten Platten verdorben, auf denen kein Eindruck haftet, sondern schattenlos wie im Kino ein Bild des andere überhastet.

Die Leibliche Überlichtung ist nur ein Spiegelbild unseres geistigen Lebens. Darum droht uns heut ein Generalstreik des Geistes! Der Gebildete – und wer ist heut nicht gebildet oder doch „aufgeklärt“? - ertrinkt in einem geistigen Lichtozean, der alle scharfen persönlichen, seelischen Konturen des einzelnen mehr und mehr verwischt hat. Zeitung, Buch, Vorlesung, Vortrag werfen wie Scheinwerfer ihr für die unpersönliche Öffentlichkeit berechnetes Licht auf den einzelnen, der damit zur bloßen Leinwand, zur lichtempfindlichen Platte, heruntersinkt. Der Geist wird heut an die anonymen, die bloß ein Eintrittsgeld oder einen Abonnementsbeitrag zahlenden Menschenexemplare zu Spottpreisen ausgeschänkt.

Die Seele des Hörers bleibt darum aus der Verbindung zwischen Geistgeber und Geistnehmer ebenso draußen, wie im Brötchenautomat oder der Stehbierhalle. Ja, je mehr der Geistgeber sein Bestes hergibt, sich ausgibt, entleert, oder wie die schönen Ausdrücke lauten, desto scheuer drückt sich die Seele des überbelasteten Hörers, der für sein Billet wohl seinen Verstand, aber beileibe nicht sein Wesen dem Licht zu exponieren gewillt ist. Kurz wir haben vergessen, daß nicht nur der Sprecher, sondern auch der Hörer etwas beisteuern muß zum geistigen Leben, nämlich einen ausgeruhten, empfänglichen Menschen. Und so haben wir heut eine Hörkrisis in Kirche wie Universität, in Schule wie Vortragssaal. Die Karikatur dieses Zustandes, selbst die an noch Unbefleckten vergiftend, war ja draußen im Felde die vaterländische Aufklärung. Ohne jede Bereitung des Ackerbodens, in bloße Uniformen hinein und aus bloßen Uniformen heraus, wurde dort tagaus tagein Geist in abstracto verschenkt und vertan. Dort ist die Hörkrisis des Geistes akut geworden, wie ja der Krieg in allem uns die Gebrechen des Friedens offenbar und handgreiflich gemacht hat.

Diese Hörkrisis droht alle geistigen Gesundheitskräfte, die heut Gemeinschaft, Überzeugung, Begeisterung verbreiten möchten, lahmzulegen. Denn sie wird durch die Güte der Darbietung immer nur gesteigert. Immer mehr duckt sich die überlichtete Seele des Körpers, immer öder wird der Begriff des „Publikums“.

Der Generalstreik der Spartakusse in den Fabriken hatte zwar den Lichtozean beseitigt. Aber die Wohltat des echten und stillen Lichtes ist uns erst hernach in Gestalt der einzelnen Stearinkerze oder Lampe zuteil geworden. Hier saßen wir dann wie befreite, individualisierte, in unserer behaglichen Ichheit wiederhergestellte Personen um den Tisch herum, ohne daß unsere Gemeinschaft darunter gelitten hätte. Im Gegenteil, in dem zerstückelten Halbdunkel gliederte sich das Gasthaus-“Publikum“ plötzlich zur charaktervollen Gesellschaft ausgeprägter Einzelgestalten. Leuten, denen wirs nicht angesehen hatten, gewannen in diesen scharfen Schatten plötzlich ein eigenes Gesicht.

So kann auch das Generalmißtrauen des Geistes, die Apathie des Publikums, uns der Anstoß sein, um eine individuelle, persönliche Einstellung der Hörer, die Umwandlung des Publikums in eine gegliederte Gesellschaft von Charakterfiguren herbeizuführen.

Was ist der heutige Fehler öffentlicher Geistesproduktion? Daß er alle Teile des Publikums gleich nah, gleich innig erfassen will, daß er allen etwas zu bieten, aus der kahlen Gerechtigkeit des Entreebillets im Zeitalter des Sozialismus heraus allen das gleiche liefern möchte und allen dasselbe liefernd niemandem nichts geben kann.

Denn jedem von uns fehlt etwas anderes. Jeder braucht eine andere Ergänzung seiner Beschränktheit. Nur daß allen etwas fehlt, daß wir alle einer geistigen Einschränkung bedürfen, nur dies eine ist uns allen gemein. Wie nun, wenn wir daraus die Nutzanwendung machten? Noch gibts eine Ecke unseres Wesens, wo wir nicht stumm und wortlos zusammengekauert mystisch im Geiste ruhen, wo wir aber auch nicht als bloßes Publikum in passiver Resistenz verharren: diese Ecke ist das Gespräch unter vier Augen, die private Aussprache. Privat, das bedeutet ja keine Isolierung eines einzelnen, sondern die stille Gruppe von Liebenden und Freunden, die unter sich das Beste sagen und vernehmen, das ihr Herz besitzt.

Privat und publik: das sind heut unerträglich Gegensätze geworden. Das gleichgültigste Wort unter Freunden, privatim gesprochen, zündet und bedeutet etwas; das kostbarste unter Fremden, vor einem Publikum vorgetragen, fällt leblos zu Boden. Denn jenes wird vom Hörer miterlebt in seiner Entstehung und wird deshalb geglaubt! Dieses schießt als ein fertiges Spruchband aus dem Munde des „Künstlers“, „Redners“, und je mehr sein Werk, seine Arbeit, seine innere Notwendigkeit darstellt, desto weniger wird es Geschöpf des Hörers. Aber auch der Glauben im Privatgespräch hat heute schädliche Folgen. Weil das Gespräch geradezu davon lebt, privat, d.h. befangen zu sein in höchst beschränkten Cliquen, Freundschaften und „Beziehungen“, deshalb erlangt es nimmermehr jene symbolische Bedeutung, die einem offenen Worte unter Menschen innewohnt. Weil heut das Gespräch von unverbindlichen Privatleuten in unverbindlicher Weise – bezeichnend genug nennt man das: in verbindlicher Form, weil nur die Form verbindet, nicht der Inhalt! - geführt wird, deshalb erlangt es nicht jene gemeinschaftsbildende Kraft, nach der wir uns sehnen. Der Rede vor dem Publikum fehlt das Mitsprechen und Aussprechen in der Seele der Hörer, dem privaten Gespräch fehlt umgekehrt die Verantwortung, das Verantwortlichkeitsgefühl des Sprechers. Wie oft zündet ein gleichgültiges Wort der Unterhaltung in der Seele des Hörers, weil er sich durchschaut und getroffen fühlt! Aber wie selten ahnte, der das Wort achtlos, lieblos fallen ließ, daß seine Zunge in diesem Augenblicke Träger geistiger Botschaften, seelischer Beziehungen war. Die Kluft zwischen Amt und Haus, dienstlich und außerdienstlich, Beruf und Haus, „auf der Hand“ (= offiziell) und „unter der Hand“, publik und privat, sprengt heut das geistige Leben, so daß die

Wirkungen beider Hälften nirgends zusammenkommen, daß all unser Geist – halb bleibt. Seht das Landleben an, wo die Halbierung weniger schroff ist; deshalb ist es noch einigermaßen gesund. Abhilfe kann hier nur kommen, wenn Brücken gebaut werden vom Privaten ins Öffentliche, vom Öffentlichen ins Private. Die Verantwortlichkeit, der Glaube und die Autorität des Sprechers, muß aus dem Öffentlichen, die Ausgesprochenheit, Betroffenheit und der Glaube des Hörers, muß aus dem privaten Bereich gerettet werden in eine neue Gemeinsamkeit: das Gespräch vor Zeugen.

In diesem Gespräch müßte wirklich ad hominem gesprochen werden, mit jener eindringlichen Unausweichlichkeit von benannter Person zu benannter Person. Aber es würde dabei nicht „unverbindlich“ gesprochen werden, sondern mit dem Verantwortungsgefühl derer, die ihre Zungen zu hüten haben, weil sie nichts Schriftliches, keine Unterlagen bei sich haben. Schmiedet Professoren, Dozenten, Pfarrer, Politiker zu zweien oder dreien an einen Tisch und laßt sie hier in voller Freiheit des Privatgesprächs um die Wahrheit ringen, aber auch in voller Verantwortlichkeit für die Anhörbarkeit vor einem zuhörenden Publikum, so habt ihr das Gegenteil heutiger Vorträge, heutiger Diskussionssprüchlein, Stammtisch- und Trambahnunterhaltungen. Ernsthaft nachdenken, laut und öffentlich vorzudenken ist not; ein geheimes vertrauliches Sprechen, mit allen Reizen des Menschlichen ausgestattet, dennoch aber offenbar werden vor aller Welt und deshalb seine Kreise ziehend ins unbefangene, unbegrenzte Leben. Nicht Ergebnis, These, Klopffechterei „überzeugungsbucherer Charakterköpfe“ wird ein derartiges Gespräch vermitteln, sondern das Werden der Wahrheit, die Vermählung getrennter Gedankenwelten im Mittelpunkt des persönlichen Wesens. Über uns käme die Wahrheit wie eine Erfahrung gegenwärtigen Lebens; nirgends kauerte sie mehr wie ein fertiges Buch.

Der Eros des Geistes kann nur am persönlichen Gegenspieler erwachen. Aber am Ringen nach der Wahrheit muß er alle zugewandten unbefangen teilnehmen lassen, um damit ihre Nachfolge heraufzurufen. Zwischen Schamlosigkeit vor dem Publikum und Geheimnistuerei der Sekte kann das Gespräch vor Zeugen mitten hindurch führen in das Wunder des Lebens, so wie zwischen der Ausschöpfung des Einzelerlebnisses im Monolog und der Allgemeingültigkeit des Chors der öffentlich ausgetragene Dialog die Krone des dramatischen Spieles, die Reinigung der Leidenschaften, erzeugt.

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