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Rosenstock-Huessy: Das Geheimnis der Universität

Magnifizenz, meine Herren Professoren, Kommilitonen!

Jenseits des ‘großen Teiches muß jeder Redner mit einer Anekdote beginnen, bevor er ernsthaft werden darf. Wenn er Glück hat, so nimmt die kurze Geschichte den Kern seiner Rede vorweg. Ein Student kam eines Dienstags in großer Not zu mir! „Mein Mädchen ist aus Boston, sie geht auch auf ein College. Nun will sie, daß wir beide Sonnabend in Boston vor ihren Vater treten und daß ich ihm sage, daß wir uns heiraten wollen. Der Vater ist ganz dagegen. Und ich muß diesen Sonnabend hier im Collegekonzert spielen. Wenn ich aber nicht reise, stehe ich als Feigling da.” „Da fahr doch Donnerstag allein zu dem Vater!” „Ja, da schreiben wir doch eine Klausur hier.” Ich sah ihn wohl etwas erstaunt an, denn er fuhr.

Nachher hat er mir erzählt, was geschah. Der Vater empfing ihn mit einem Schriftsatz, den er ihm vorlas. Alle Studenten wurden darin als gewissenlose Mädchenverführer abgekanzelt, besonders aber der Junge selber. Mein Student verzog keine Miene und fuhr in unser College zurück. Den Sonnabend drauf kam das Mädchen nach Hause, und der Vater sagte plötzlich: „Das ist ein wackerer Bursche; ich kann ihn ohne weiteres in mein Geschäft aufnehmen.”

So viel kann der Unterschied zwischen Sonnabend und Donnerstag bedeuten; die zwei Tage vorzeitiger Gestellung, das Zerbrechen des Stundenplanes seiner Tagesarbeit und das Anhören aller Anklagen gegen ihn vor der Zeit haben diesem Jungen seine Braut errungen.

Die Universität, Kommilitonen, ist ein Versuch, donnerstags statt sonnabends zu hören. Das ist ihr einziger Unterschied von bloßen Schulen. In den Schulen hört man das Unvermeidliche, und das ist das, was jeden Sonnabend geschieht. Auf hohen Schulen aber wird die Souveränität in Anspruch genommen, donnerstags freiwillig zu hören, was wir uns Sonnabend oder Montag gezwungen anhören müssen.

Meine Herren Professoren, bitte sehen Sie mir diese kurze Geschichte nach. Ich habe sie nur erzählt, damit uns die Studenten von nun an willig zuhören. Mein Anliegen aber richtet sich natürlich an Sie. Wer vom Geheimnis der Universität redet, der muß sich ja wohl an die wenden, die dies Geheimnis vor dem Volk zu verkörpern scheinen. Alles Politische richtet sich an Erwachsene. Es ist ein großes Unglück, wenn man so tut, als könne man über diese Dinge zu Studenten reden. Sie werden sehen, daß ich da einen Unterschied mache. Vor Studenten kann man über alles reden, aber man muß erst einmal zu Erwachsenen reden, wenn man über politische Dinge wirksam nachdenken will.

Darum stelle ich meine Rede unter ein professorales Wort: „Amicus Plato, magis amica veritas.” Ich drehe heute diesen Satz um. Ich spreche zu Ihnen unter der weißen Flagge: „Amica veritas, magis amicus Plato.” Die Wahrheit ist meine Freundin, aber die Wissenschaft beansprucht heute ein größeres Freundschaftsopfer, und der Name Platos steht ja für die Universität.

Wahrheit und Wissenschaft sind heute Feinde. Die Wissenschaft verleugnet so vieles, was wahr ist. In dem furchtbaren Zwiespalt zwischen der Wahrheit und der Wissenschaft bücke ich mich heute über die Wissenschaft und ihr fast erloschenes korporatives Leben und lasse die Leiden der Wahrheit einen Augenblick auf sich beruhen. Möge mir die große und ewige Wahrheit verzeihen, wenn ich in diesem Augenblicke von den kleinen und wandelbaren Formen der Wissenschaftlichkeit handle, die wir Universitäten nennen! „Amica veritas, magis amicus Plato” sei mein Motto. Nicht der Großartigkeit der Wahrheit, den großartigen Leistungen der Universität wende ich mich zu. Gehen wir zwei Jahrhunderte zurück, damals als Leibniz die Berliner Akademie der Wissenschaften gründete und die Puritaner in Amerika Yale University unter dem Motto „Lux et Veritas” gründeten. Man schrieb das Jahr 1702. Zum zweihundertjährigen Jubiläum der Universität Wittenberg schlug man eine Schaumünze. Auf der einen Seite dieser Münze sieht man den Kopf des Landesherren, auf der anderen Seite aber stehen Universitätsgebäude vor uns, über denen ein Band im Winde flattert, und auf dem Band steht hebräisch „Jehova”.

Der Landesfürst von Gottes Gnaden schreibt also auf dieser Münze die göttliche Begnadung mit Geist nicht sich selber, sondern seinem Augapfel, der Landesuniversität, zu. Eine Schaumünze, werden Sie sagen, ein Jubiläumssymbol, was weiter? Aber an ihren Feiertagen sagen sich die Völker die Wahrheit, die sie über sich selber ausgerufen hören. Festtage verewigen. Aus der Flut des Geschehens werden die Ereignisse, die den Namen des Geschichtlichen verdienen, erst durch Feste herausgehoben. Diese Festtage stellen die Zuchtwahl dar, kraft derer aus Geschehen dauernde Geschichte seit Jahrtausenden geworden ist. Nur weil es den Hochzeitstag und die Geburtstage gibt, gibt es ein Familienleben. König Friedrich-Wilhelm III. hat sich gegen die Feier von Goethes Geburtstag gewehrt. Er sah darin eine Verfassungsänderung. In meinen „Europäischen Revolutionen” stellen sich die Nationen in ihren Feiertagen und Münzen selber dar. Als ein Freund von mir neulich in Berlin ausrief: „Architektur ist gefrorene Soziologie”, da wurde er ausgelacht; aber auch ich habe in Ägypten diesen Winter in den Pyramiden und den Tempeln und Festinschriften wieder nachgelesen, wie Geschehen zu Geschichte erhoben worden ist, lange bevor es Professoren der Geschichte gab, durch den Kalender.

Dies alles habe ich angeführt, um der Schaumünze von 1702 den Charakter des Zufälligen zu nehmen. An den Feiertagen der deutschen Nation steht die Landesuniversität im Vordergrund. Sie erst verleiht dem Landesherren seinen Rang und seine Würde; ohne sie ist er ein Tyrann. Daß wir nicht übertreiben, zeige ein Gegenbeispiel. Es gibt eine Denkmünze des englischen Tyrannen Heinrich VIII., die wie die Wittenberger Münze auf der einen Seite den Landesherrn abbildet. Aber auf der anderen Seite weht kein hebräisches „Jehova” über Oxford oder Cambridge. Nein, da stehen die Königsrechte auf hebräisch, griechisch und lateinisch! Für diese Anmaßung der königlichen „supremacy” ist Karl I. enthauptet worden. Die deutsche Universität hat also den Fürsten 400 Jahre das Leben gerettet. Denn ihr lag es ob, aus Hebräisch, aus Griechisch und Lateinisch ins Deutsche zu übersetzen. Von daher kam dem Fürsten seine Wissenschaft; von daher kam ihm auch sein Gewissen.

Die deutsche Universität bildet den Tyrannen Macchiavellis in jedem Geschlecht in den Fürsten mit seinen Räten um. Die von den Universitäten gebildeten Räte bilden das Wissen und Gewissen der Fürsten. Die Redensart „nach bestem Wissen und Gewissen” ist also gerade keine Redensart. Denn in der Form der universitätserzogenen Räte hat die Reformation aus Wissen und Gewissen eine Einrichtung des öffentlichen Rechts gemacht. Bethmann-Hollweg unter Wilhelm II. war vielleicht ihre letzte Verkörperung. Diese Institution des „besten Wissens und Gewissens” ist eine Institution, die so originell ist wie das englische Parlament. Sie hat den deutschen Beamtenstaat geschaffen. Sie ist der Kern des Staatsgebäudes, und von Wittenberg aus ist sie auf alle Staaten ausgestrahlt. In Harvard University auf amerikanischem Boden steht zum Beispiel eine Inschrift des Governors von Massachusetts aus der englischen Zeit, die nach gut Wittenberger Vorbild die Universität anweist, das Gewissen und Wissen der Regierung, ihre Räte, auszubilden. Die evangelischen Räte der Theologie und die Justizräte und Sanitätsräte, Kanzleiräte und Ökonomieräte lassen sich nicht trennen. Leider werden sie bei uns getrennt. Statt von dem öffentlichen Professor Luther hört das Volk nur von seinem privaten Gewissen, und in der Staatslehre lehrt man die Reihenfolge Macchiavell, Bodin, Hobbes… Die wirkliche Linie ist Luther und Melanchthon, Pufendorf und Thomasius, Wolff und Schloezer, Kant und Hegel, Schmoller und Wagner.

Wenn Hölderlin dichtete „An deinen Feiertagen, Germania, gibst wehrlos Rat du unter den Volkern”, so hat der Tübinger Stiftler damit verallgemeinert, was die universale Leistung der deutschen Universität gewesen ist: Räte zu schaffen. Dank dieser nach „bestem Wissen und Gewissen” ratenden Räte ist Hitler nicht 1525 unmittelbar auf Macchiavell gefolgt. Die deutschen Fürsten sind nicht Anhänger Macchiavells geworden, sondern sie haben Luthers reiner Lehre angehangen. Erst 400 Jahre später hat die Universität ihre Zeugungskraft eingebüßt. Und diese Zeugungskraft bestand darin, aus dem Racker Staat eine gewissenhafte Obrigkeit zu machen. Die Schaumünze von 1702 gesteht, daß die Universität das Wissen und Gewissen des Landesherren organisiert, und dieses Wissen und Gewissen wird von der Universität ins Land gebracht. Wissen und Gewissen stehen im Gegensatz zu den Fürsten; denn die Fürsten sind angestammt, aber Gott inspiriert die Hochschule. Sie ist also von Gottes Gnaden wie der Fürst. Man kann es aber noch genauer sagen: sie verkörpert das universale Konzil der Kirche an dieser bestimmten Stelle, damit das Land und der angestammte Fürst in der ökumenischen Wahrheit bleiben können. In Kursachsen trat der Rector magnificus, Magnifizenz, gleich hinter den Prinzen des königlichen Hauses ein. Der Vortritt, die praecedentia, des Leipziger Rektors ist der Niederschlag der Schaumünze ins Zeremoniell, ist gefrorene Soziologie. Sie sehen hier den Fürstenstaat des Luthertums in Reinkultur. Der König von Sachsen mußte auch jährlich in Leipzig Kolleg hören. In Berlin aber trat der Rektor erst hinter dem jüngsten Brigadegeneral in den Saal. Da haben Sie die geistige Leibgarde der Hohenzollern. Aber das ist nicht die echte deutsche Universität. Denn die präformiert als Organ der Kirche von Gottes Gnaden die Räte zum „Wissen und Gewissen” des Fürsten. Um zu präformieren, muß sie freilich jahraus, jahrein reformieren. Dieser Zusammenhang ist heute vergessen. Er ist aber das Geheimnis der Universität. Denn wie präformiere ich ein immer erst künftiges Gewissen des Staates?

Plötzlich enthüllt sich uns das Wort „Vorbildung”, das wir so gerne vom Pfarrer und vom Richter und vom Arzt gebrauchen, als sehr zweideutig. Schulen bilden uns auf die schon bekannte Routine des Amtsschimmels vor; daran denken wir heute bei dem Wort Vorbildung. Aber Hochschulen bereiten uns auf die noch gar nicht erkannten künftigen Aufgaben vor. Zur Hohen Schule wird die Universität nur, wenn sie auf die noch nicht gemeisterte Zukunft vorbereitet.

Zur Präformierung des Menschen hat die Reformation der Kirche geführt. „Vorbildung” ist ja nur die Übersetzung von präformatio; aber die Hohe Schule geht auf eine Vorbildung durch Reformation aus. Wenn die Universität nicht reformiert, kann sie nicht präformieren. Die Universität ist der Zukunft des Landes vorausgeschaltet. Hier werden die ersten Menschen für die nächste Aufgabe vorausgebildet. Das amerikanische College ist als Nachbildungsanstalt konzipiert worden, die Universität aber als Vorausbildung der nächsten zu berufenden Ratgeber des Landes, aus dem Geiste der universalen Wahrheit. Wie die Konzilien die Kirche an Haupt und Gliedern reformieren sollten, so kündigt die Universität Reformen an, und die Räte führen sie aus. Darum hat sie etwas Vorauseilendes, deshalb kündigt sie Vorlesungen an, so oft sie als Universität wirkt; umgekehrt hat sie jedesmal etwas Schleppendes und Zuspätkommendes, wenn sie bloß als Schule funktioniert. Aber unsere Vorrechte haben wir Professoren nur empfangen, weil man uns die Kraft zur Vorausbildung zuschrieb. Wir müßten unserer Privilegien verlustig gehen, wenn wir die echte Vorausbildung nicht mehr leisteten. Deshalb gibt es eigentlich nirgends in der Welt heute eine Universität. Bevor ich hierher kam, druckte ich in der Universitätszeitung den Satz: „Es gibt heute keine Universität.” Das stand in der Göttinger Universitätszeitung vom 1.März 1950. Damit habe ich zwar mein Gewissen salviert; aber niemand hat daran Anstoß genommen, denn die Menschen der Universität haben heute Wichtigeres zu tun. Sie müssen sich selber retten, und sie müssen andere retten. Alles droht zu versinken, Bücher, Ostflüchtlinge, Gehälter, Wohnungen, Studenten, Examina, wer hätte da Zeit, die Universität selber zu retten? Wer hätte da Lust, meiner These: Es gibt heute keine Universität, entgegenzutreten?

Dabei leiden alle unter der Verwechslung der beiden ganz entgegengesetzten Begriffe, die in dem Wort Vorbildung stecken. Das Examenswesen droht die Studenten zu bloßen Arbeitnehmern zu machen. Als ich studierte, da dachte ich, ich sei der Arbeitgeber meiner Professoren; ich schwänzte. Dann konnten die Professoren nicht arbeiten. Studenten können nämlich nicht streiken. Beim Generalstreik in Leipzig Anfang 1919 habe ich diese Wahrheit als heimkehrender Dozent gegen Exzellenz Wach verteidigt. Wach glaubte aus Angst vor den Arbeitern, die Studenten sollten mitstreiken; die Studenten aber wollten, daß wir Professoren für sie arbeiten. Wenn Studenten fürs Examen büffeln, müssen sie nicht glauben, daß sie studieren. Liebe Kommilitonen, es ist doch bloß büffeln. Scherz beiseite! Wie kann ein Geist von Gottes Gnaden durch Jahrhunderte den Tatsachen vorauseilen und die Beamten des Kommenden vorausbilden? Hier oder nirgends muß das Geheimnis der Universität selber zu finden sein. Wer präformiert, muß offenbar selbst unausgesetzt präformiert werden. Ich will Ihnen daher noch vor der Pause das gewisse Etwas verraten, das die deutschen Universitäten vor denen aller anderen Nationen voraus hatten, und ich will an Beispielen des 19. Jahrhunderts erweisen, wie dank dieses gewissen Etwas wirksam vorausgebildet worden ist. Alsdann kommen wir zu einem neuen Ansatz, zum experimentum crucis. In Nordamerika gibt es keine Universitäten als Vorbildner. Und ich möchte Ihnen zeigen, wie ein Volk ohne Universität seine Geschichte durchlebt. Die Vereinigten Staaten sind in jeder einzelnen Not ihrer Geschichte genau umgekehrt verfahren wie die deutschen Staaten. Die Amerikaner stehen bisher in dialektischem Gegensatz zu dem deutschen Geist der Bildung. Um diese amerikanische Denkweise sollten Sie wissen. Wenn Sie das wissen, dann werden Sie begreifen, daß erst in dem zweiten Weltkrieg Amerikaner und Deutsche synchronisiert worden sind. Der Unterschied zwischen beiden in Sachen Bildung ist heute nicht mehr erschütternd. Erschüttert ist aber die Stellung der Universität. Wir hätten also keine Liebe für Plato, keine Liebe für die Universität, würden wir uns nur um die Wahrheit kümmern. Deshalb werde ich nach den amerikanischen Belegen noch zu sagen haben, oder zu fragen haben: Kann die Universität auferstehen? Läßt sich das Geheimnis der deutschen Universität so verwandeln, daß wir wieder Zeit gewinnen? Können wir der feststehenden Zukunft Stalins eine freie oder doch vorausgebildete Zukunft gegenüberstellen? Muß der jeweilige Tyrann die künftigen Tyrannen drillen, oder Können Lehrer die künftigen Führer ankündigen? Ist Luthers Sieg über Macchiavell heute unmöglich?

Das sind also vier Punkte, erstens das Geheimnis der Universität, zweitens seine Bewährung in der Vergangenheit, drittens das Fehlen des Geheimnisses in Nordamerika, viertens die neue Form des Geheimnisses in der Zukunft. Denn nur um der Zukunft willen wird gesprochen und gelehrt. - -

Ich erblicke das Geheimnis der früheren deutschen Universitäten im Privatdozententum. Den deutschen Privatdozenten hat es nur in den sechs Königreichen der deutschen Konzilsnation von Basel bis Budapest, von Köln bis Dorpat, von Kopenhagen bis Graz gegeben. Ich selber bin dieser unglückliche und komische Typ des Privatdozenten in Reinkultur. Daß ich einmal in Deutschland Ordinarius gewesen bin, meine Herren, das ist den meisten von Ihnen bekannt. Aber niemand von Ihnen weiß, daß ich einen Rekord im Privatdozieren aufgestellt habe. Ich habe mich dreimal in meinem Leben habilitiert: Einmal an einer Universität, nämlich 1912 in Leipzig, einmal an einer technischen Hochschule, nämlich in Darmstadt 1923, und einmal 1933 in Harvard College, wo ich der erste und einzige Privatdozent dieser Universität, ja ganz Amerikas, bis heute geblieben bin. So will ich auch heute hier als Privatdozent sprechen. 1912 sprach ich über die Landesherren, 1923 über die vier Fakultäten, 1934 über die Revolutionen. Heute spreche ich über alle drei.

Lange bevor jeder Deutsche Reserveoffizier werden wollte, träumte er davon, Privatdozent zu werden. In Amerika, England und Frankreich aber hat man Instructors, Agrégés, Adjoints, Assistenten, Tutors, aber den Privatdozenten kann man diesen Völkern überhaupt nicht einsichtig machen, denn in diesen Ländern hat die Universität nie die öffentliche Bedeutung wie in Deutschland erlangt. Dort beschleunigten die Wahlen das Gemeinschaftsleben. Aber in Deutschland ist die Beschleunigung der staatlichen Reformen durch die Privatdozenten erzwungen worden, denn damit ist es gelungen, die Zeitspanne der natürlichen Generation, dreißig Jahre also, auf etwa fünfzehn oder zehn Jahre geistig zu komprimieren. Die Privatdozentur war der Kompressionsmotor, dank dessen die Universität den Ereignissen um fünfzehn Jahre vorauslaufen konnte. Sie gewann einen zeitlichen Vorsprung. Die Universität hat ihr bloßes Nachdenken als Schule immer dann überwunden, wenn ein Privatdozent die Professoren zwang, noch bei Lebzeiten eine erst hinter ihnen her sich auftuende Frage ganz ernst zu nehmen. Denn ein Privatdozent sagt schon öffentlich, was die Ordinarien erst ganz privatim denken. Damit trat das notwendige Element der geistigen Überraschung in die Schule ein. Der Privatdozent hat die Aufgabe, das geistige „Halt, wenn die Karriere geschlossen” bei seinen Ordinarien zu bekämpfen. Die meisten Privatdozenten wollen so schnell Professoren werden, schon ihrer Frauen wegen, daß sie die bleibende Bedeutung des Privatdozenten sich nicht gerne überlegen. Wenn man aber zweimal aus einem Professor wieder ein Privatdozent wird, dann kommt man auf andere Gedanken. Als Privatdozent habe Ich dreimal das volle wirtschaftliche Risiko meines Daseins getragen. In Harvard habe ich nicht einmal Kolleggelder empfangen. Ich war niemals Assistent, ich empfing keinerlei Subvention, ich konnte verhungern, aber ich konnte krähen. Wenn man dem Universitätsgewaltigen Althoff einen Privatdozenten zu früh zum Professor machen wollte, dann sagte er abwehrend: „Vögel, die satt sind, singen nicht.” Die Privatdozenten sangen. In Amerika gibt es massenhaft Instructors; die werden nach zwei, drei Jahren schon entweder befördert oder entlassen. Dort hat also niemand die biographische Ewigkeit des deutschen Privatdozenten. In zwei kurzen Jahren müssen vielmehr diese Instructors sich die Billigung der Fakultät erwerben. Sie werden auch nicht woanders hin berufen. In ihrer Todesangst produzieren sie also Bücher, die den Zeitgenossen sofort zusagen. Auch helfen sie den Professoren in den Vorlesungen und lehren selber nur im Rahmen eines von der ganzen Fakultät und der Verwaltung vorweg genehmigten Vorlesungssystems. Damit wird der junge Dozent in Amerika zum Anhängsel der bestehenden Ordnung. Wenn der deutsche Privatdozent etwas taugte, so lehrte er etwas den Ordinarien Entgegengesetztes. Vielleicht noch wichtiger, er stellte auch die bekannten Wahrheiten durch die Benennung seiner Vorlesungen, eben durch ihre Ankündigung, in einen neuen Zusammenhang. Und wenn die Universität lebte, wurde er gerade daraufhin berufen. Es war eine Unehre, daß der Privatdozent Arthur Schopenhauer nie berufen worden ist. Diese Unehre ist oft vorgekommen, aber doch nicht so oft, wie man annehmen sollte. Denn hatte einer mal das Recht zu krähen erhalten und taugte er etwas, so ist er in vielen Fällen trotz des Gegensatzes weitergekommen.

Was bedeutete aber dieser Gegensatz? Mit 24 Jahren habe ich ein Seminar zum Strafrecht des Mittelalters gehalten. In ihm hielt ein 20jähriger Student ein Referat über Verließe und Gefängnisse. Sechs Jahre später war dieser selbe Mann Privatdozent, und mit 28 Jahren Ordinarius, und zwar auf Grund eines Buches: über Verließe und Gefängnisse. Er stand infolgedessen auf seinem Katheder dank einer zeitsparenden und ganz unnatürlichen Dialektik. Er hatte in meinem Seminar bereits viele Dinge gehört an welche die damals Fünfzigjährigen nie gedacht hatten. In dreißig Jahren wurden also die dialektischen Gedanken dreier Generationen durchlebt. Ähnlich liegt es ja zwischen Marx und Hegel. Diese beiden haben nicht etwa nur die Dialektik entdeckt, sondern sie haben selbst die Dialektik einer Halbgeneration verkörpert. Das Unglück damals ist nur gewesen, daß die Dialektik zwischen Hegel und Marx nicht mehr der Universität zugute gekommen ist. Gerade deshalb erwähne ich dies hier. Denn ansonsten hat der Privatdozent einen erfolgreichen dialektischen Eingriff in den bloß natürlichen Zeitlauf dargestellt. Die Privatdozentur ist eine absichtliche Verfrühung der Gegensätze. Durch sie wurde der Pflanzstätte der Vorzubildenden selber die Präformation angetan. Den Ordinarien wurde der Privatdozent auferlegt, um ihre Endgültigkeit zu überwinden. Als Hegel und Marx die Dialektik angeblich entdeckten, war sie bereits längst eine soziologische Tatsache. Überhaupt hat die Struktur der deutschen Hochschule den deutschen Geist präformiert. Stillschweigend ist diese Struktur immer als normal vorausgesetzt worden; ich will das an einem Beispiel zeigen. Kants kategorischer Imperativ: Handle so, daß dein Handeln zur Richtschnur aller werden kann, ist so, wie er dasteht, unmöglich. Denn er macht aller selbstvergessenen Liebe ein Ende. Lesen wir aber den Kantschen Satz nicht wie er dasteht, sondern wie Kant dastand, nämlich auf dem Katheder, dann liest er sich: Lehre so, daß deine Lehren universale Lehren werden können. Sobald wir für das Wort „handeln” das Wort „lehren” einsetzen, ist alles in Ordnung. Der deutsche Professor handelte eben dadurch, daß er lehrte. Jedes einzelne Katheder trägt die Lehren des universalen Kirchenkonzils in alle Lande. Nun verstehen Sie, warum Katharina von Rußland bei jeder ihrer Handlungen fragte: Was wird Schloezer in Göttingen dazu sagen? Weil Kants Handlung das Lehren war, hat sich alles andere Handeln von ihm so gräßlich verallgemeinern lassen müssen. Lehren heißt nämlich seit dem Apostel Paulus, die bereits gelebte Wahrheit verallgemeinern. Paulus hat uns vor dem Idealismus gerettet. Nicht die Idee, sondern die gelebte Wahrheit soll Wissenschaft werden. Werte sind eben nicht Ideen, sondern werden von Vorfahren verkörpert; sie sind einverleibtes Leben.

Ich lenke zurück. Weil also der Privatdozent die Seelenachse des Gewehrs war, mit dem der deutsche Geist in die Zukunft schoß, deswegen ist das prophetische, voraus denkende Element ins deutsche Nachdenken gekommen. An sich sind doch Nachdenken und Vorausdenken ein Widerspruch. Carl Spitteler hat die Brüder Vorgedacht und Nachgedacht als Epimetheus und Prometheus besungen. Die List der Privatdozentur besteht aber gerade darin, den nachdenklichen Typ durch die Verfrühung zum Träger des Vorausdenkens zu berufen. Geistesgegenwart haben die deutschen Gebildeten nicht besessen. Aber sie haben sowohl vorausgedacht wie nachgedacht. „Denke nur nach, aber tu es so frühzeitig, daß die Früchte deines Nachdenkens noch auf den Gang der Ereignisse einwirken können.” Was für ein Paradox das auch sein mag, in der deutschen Politik hat es sich vierhundert Jahre lang bewährt. Vier Jahre nachdem Professor Luther seine Thesen anschlug, hat der eine halbe Generation jüngere Melanchthon die Laienerziehung durch seine „loci communes” geordnet.

Und von Kant bis Schmoller hat die Kathederweisheit die Deutschen viermal über einen Bruch hinweg gerettet. Das einfachste Beispiel sind die Kathedersozialisten. Ihnen verdankt Deutschland die Sozialgesetze von 1881-1896. Diese Gesetze sind in den USA erst von 1933-1947 ergangen. Dabei ist die Industrie auf deutschem und amerikanischem Boden genau gleich alt. Weshalb liegen denn die entsprechenden Gesetze um volle 50 Jahre auseinander? Ist das nicht ein Thema zum Nachdenken, zum vorausbildenden Nachdenken?

Wie kam es zur Sozialpolitik? Indem ein paar Privatdozenten in den sechziger Jahren sich nicht mehr mit dem englischen Vorbild der Fabrikgesetzgebung zufrieden gaben, sondern auf eigene Faust der Arbeitsnot nachsannen. Nach etwa sieben Jahren gründeten sie 1872 den Verein für Sozialpolitik, und nach ungefähr 15 Jahren hatten genügend künftige Regierungsräte bei ihnen studiert, um die neuen Gesetze als selbstverständliche Gerechtigkeit auszuarbeiten. Durch 15 Jahre bis zu den Krankenkassen von 1896 hat dieser Siegeszug des verfrühenden Kathedersozialismus angehalten, den Liberalen ein Ärgernis und den Sozialisten eine Torheit. Es war der christliche Geist der Reformation in der Form der Universität, der Präformation der künftigen Räte des Herrschers. Ähnlich verdankt es Deutschland Kants Philosophie, daß es die französischen Ideen von 1789 durch den Geist der Reformer statt durch die Axt der Guillotine durchführte. Ohne Kant ist die Pflichterfüllung der preußischen Beamten bei den von oben kommenden Reformen nicht zu denken. Aber auch Hegels Funktion wird nun deutlich. Nicht auf der Hegelschen Linken oder auf der Hegelschen Rechten sehe ich seinen Erfolg, sondern darin, daß mein Vorfahr 1848 naiv dichtete: „Freiheit und Gleichheit soll’n existieren / und der König von Preußen soll weiter regieren.” Das steht bei Hegel. Nur dank ihm ist es 1848 zum Erbkaiserplan gekommen. Er hat die deutschen Republikaner zum Verständnis der Monarchie umgebildet. Durch ihn hat sich die deutsche Universität mit dem preußischen Staat ausgesöhnt. So hängt das Professorenparlament selber mit der Studienzeit seiner Professoren zusammen. Von 1865 bis 1867 war es gerade umgekehrt. Damals hat Bismarck das Erbe der nationalen Professoren von 1848 im Reichstagswahlrecht vollstreckt. Die Teilung von Lehre und Macht mag schuld daran sein, daß wir dieses Schaltwerk zwischen Präformatio und Vollstreckung nicht lehren. Kant vor 1789; Hegel vor 1848; 1848 vor Bismarck I; Schmoller und Wagner vor Bismarck II sind alle bekannt, aber den präformatorischen Charakter der Universitäten haben die Universitäten selber verkleinert. Und doch wäre der erste Bismarck ohne die Lehre der Professoren der Paulskirche 15 Jahre vor ihm nur ein Ärgernis, und die Kathedersozialisten wären ohne den zweiten Bismarck 15 Jahre später nur eine Torheit.

Es gibt noch viel mehr Beispiele erfolgreicher Präformierung. Im Weltkrieg ist dann die Tragik dieser Vorschaltung an den Tag gekommen. Da hat sie nämlich noch funktioniert, aber ohne Sinn. Im Jahre 1913 schloß das Buch eines Berliner juristischen Professors: „Der Sinn des Staats ist der siegreiche Krieg.” Das steht schon 1896 bei Treitschke: „Der Staat ist das Volk zu Schutz und Trutz.” Und jauchzend gingen daraufhin zwei Millionen Kriegsfreiwillige in den Tod. Siegen wollen haben die Soldaten auch im zweiten Weltkrieg. Leider hatte dieser Lehrsatz nur einen Fehler. Er gab die Lehrgrundlage der deutschen Katheder preis, nämlich ihren Ursprung aus dem Konzil. Denn die Wahrheit der deutschen Universität stammte aus der universalen Menschheitsbestimmung aller ihrer Lehren. Also konnte der Staat, in den unsere Katheder aus der Kirche hineinragten, nur als gerechter Teil einer Friedenswelt reformiert werden. Sonst verlor die Stimme Gottes auf der Münze von 1702 ihren Sinn. Deshalb war der Reichskanzler Bethmann-Hollweg ein echter Rat. Denn er nannte Unrecht Unrecht, aber die Lehren Erich Kaufmanns oder die Lehre der kleindeutschen Historiker oder Ernst Haeckels haben die Grundlage der deutschen Wissenschaft preisgegeben. Diese Grundlage war das Gelöbnis, die Filiale der Konzilien der ewigen Wahrheit zu sein und so die Staaten zu verhindern, Räuberhöhlen zu werden. Nicht der Sieg, sondern das Recht prägt den Staat. Lassen Sie uns nun aber einmal zusehen, wie ein Volk ohne Universität, das heißt ohne Vorausbildung seiner künftigen Staatsmänner, die Geschichte im 19. Jahrhundert blind durchlaufen hat und doch Gerechtigkeit hat üben können.

II

Um das bekannteste Beispiel amerikanischer Hochschullosigkeit brauche ich vielleicht nicht viel Worte zu verlieren. Denn es ist wohl auch Ihnen bekannt, daß man in Amerika die Geschichte nicht nach dem ersten Weltkrieg datiert, sondern man sagt: before or after the great depression. Denn diese Umschichtung der Vermögen ist in Amerika zwischen 1929 und 1933 vor sich gegangen. Dies Ereignis und seine Folge, der New Deal, steht hell im Vordergrund des Bewußtseins. Und doch ist die depression nur das Ereignis, in dem sich die Folgen des Weltkrieges endgültig Gestalt gegeben haben. Indessen ist der erste Weltkrieg aus dem Bewußtsein verdrängt. Damals ist man so schnell wie möglich nach Hause zurückgekehrt und hat trotz der einsamen Warnungen Woodrow Wilsons zur Normalität von 1913 zurückgestrebt. Dies Normaljahr von 1913 aber rechnete mit der Neuen und mit der Alten Welt als mit zwei moralisch getrennten Welten. Walter Page hatte ein Jahr vor dem Weltkrieg von London aus an Wilson den kommenden Brudermord Europas vorhergesagt; als Selbstmord Europas ist daher der erste Weltkrieg aus der amerikanischen Geschichte ausgeklammert worden und steht nicht mehr im „universe of discourse” der amerikanischen Entwicklung. So ist es aber mit den größten Ereignissen der amerikanischen Geschichte bestellt. Jedesmal hat man nach 15 Jahren ungefähr sich plötzlich vor einer Krise gesehen und hat den Zusammenhang dieser Krise mit ihrer Ursache abgeblendet. Die Ursache, so kann man geradezu sagen, ist jedesmal untergetaucht oder versenkt worden. Ich gebe eine Liste dieser auffallenden Zertrennungen. (Ausführlich dargestellt in meinem „Out of Revolution, Autobiography of Western Man”, New York 1938, im Kapitel: The Americans.)

Die Gründung der Vereinigten Staaten wird an jedem 4. Juli seit 1776 feierlich begangen. Ich habe den Tag gestern in Frankfurt am Main mitbegangen. Ich habe an ihm in unserer Dorfkirche in Vermont gepredigt1. Da fangen die Geschichtsbücher meistens sogar erst richtig an. Und doch ist die Unabhängigkeit Amerikas zwischen 1756 und 1763 begründet worden, weil damals unter Teilnahme George Washingtons die Franzosen aus Kanada vertrieben wurden. Seitdem brauchten die Kolonien den Schutz Großbritanniens nicht länger.

Das zweite Beispiel: Die Amerikaner haben von den Franzosen in dem sogenannten Louisiana purchase mehr als ein Drittel ihres Gebietes, nämlich die Territorien von 13 heutigen Staaten der Union, erworben. Im Krieg gegen England von 1812 bis 1815 wurde hier noch gekämpft, während an der Ostküste schon der Friede geschlossen war. Der Führer in diesem westlichen Kampfe war Andrew Jackson. Trotzdem datiert man die Jacksonian democracy erst auf seinen Regierungsantritt im Jahre 1829. Damals sind die Reste der guten Familien der Ostküste aus der Regierung geworfen worden, damals wurde das spoil system eingeführt, das die Ausbildung einer Bürokratie für ein Jahrhundert hintangehalten hat. Von Andrew Jackson weiß jeder, aber eben erst nach 1829.

Und nun zu Lincoln. Von Abraham Lincoln weiß jedermann, daß er die Emanzipation der Sklaven hat durchführen müssen. Der Krieg zwischen den Staaten, in dessen Verlauf die Neger befreit worden sind, läuft von 1860 bis 1865. Aber das erregende Moment, der mexikanische Krieg von 1845, ist wenig bekannt. Damals wurde bereits die Frage gestellt, ob die den Mexikanern abgejagten Gebiete auf die Seite der freien oder der sklavenhaltenden Staaten treten sollten. Und diese entscheidende Frage wurde einfach von 1845 bis 1860 immer wieder unbeantwortet gelassen, obwohl sie im ersten Augenblick gegeben war. Die „Guten” in USA waren gegen den Mexikanischen Krieg. Er war unpopulär bei allen Gebildeten.

Jedesmal handelte es sich bei dem erregenden Moment oder der Ursache um einen Krieg, und bei der Folge 15 Jahre später um ein innerpolitisches Ereignis. Wenn man nun das innerpolitische Ereignis hoch emporhebt und den Krieg 15 Jahre vorher tief versenkt, dann spiegelt sich ihre Geschichte auch bei den ehrlichsten Amerikanern als die eines friedlichen Volkes. Die Kriege haben niemals zusammen mit dem Gegner verarbeitet werden müssen. Die Franzosen von 1763, die Briten von 1815, die Mexikaner von 1845 und die Deutschen 1917/18 blieben weit entfernt. So geschah ihnen kein Unrecht. Die Amerikaner dürstet aber nach Gerechtigkeit. Jeder Amerikaner weiß, daß Gerechtigkeit ein Volk erhöht. Er weiß aber auch, daß kein Staat die Gerechtigkeit verkörpert, es sei denn, jeder handle wie die „founding fathers”, als der Neugründer des Staates. So blickt er nach innen. Innen sind die Krisen des Rechts durch kühne Kämpfer ums Recht gemeistert worden. Kämpfer, deren Typ in Deutschland unbekannt ist, da sie weder vom Michael Kohlhaas noch vom Sekretär Wurm Züge tragen.

Nach der russischen Revolution von 1917 ist keine Professur für Russisch an einer amerikanischen Universität eingerichtet worden. Heute verspürt man überall drüben den Mangel an russischen Sprachlehrern und Sachkennern. Außenpolitik wird in den Vereinigten Staaten eben erst heute ernst. In dieser Hinsicht hat der zweite Weltkrieg zum Nachexerzieren gezwungen. Der ganze Westen steht heute vor der Tatsache, daß die Russen einen Vorsprung haben, nicht in der politischen Wirklichkeit, aber im politischen Blick. Die Russen sehen nämlich in Weltkrieg I und in Weltkrieg II ein und dasselbe Ereignis. Hingegen ist der zweite Weltkrieg in Amerika und in Deutschland mit stärkster Betonung als ein Ereignis hingestellt worden, in dem alles anders liege als im ersten Weltkrieg. Der Name Wilson ist vom Präsidenten Roosevelt nie in den Mund genommen worden. Aber die Fehler Wilsons standen Tag und Nacht vor seinem Geist. Entsprechend scheint in Deutschland von Ludendorff im zweiten Weltkrieg nicht die Rede gewesen zu sein. Damit verlor man aber den Zusammenhang. Und wer den Zusammenhang verliert, der verliert Zeit. In Wirklichkeit sind die beiden Weltkriege ein einziges Ereignis, das geflissentlich, während es geschah, als zwei total verschiedene Ereignisse auffrisiert wurde.

Nun gilt es Zeit zu gewinnen. Wo die Zeit gewonnen wird, da wird die Hochschule sein. Inzwischen ist die Privatdozentur kraftlos geworden. Die kommenden Gelehrten haben kein Vermögen. Sie wollen aber auch innerlich nicht warten. Und das verdunkelt die Augen derer, die auf die Hochschule blicken. Das Interesse konzentriert sich entweder auf die Studenten oder auf die Professoren. Aber Zwanzigjährige sind zu jung, und Fünfzigjährige sind zu fest, um von diesen beiden Gruppen allein eine Beschleunigung erwarten zu können. Wir brauchen heute eine andere Struktur, um wieder einen Vorsprung zu gewinnen. Der einzelne Privatdozent wird diesmal die Aufgabe nicht lösen können. Vielleicht muß daher das Verhältnis von Prometheus und Epimetheus umgestülpt werden. Wie wäre es, wenn wir das Verhältnis von Vorsprung und Nachdenken einmal anders, nämlich umgekehrt, organisierten? Der Erwachsene, der lernt, hat schon gelebt. Er bemächtigte sich also seines Lebens, indem er nachdenkt. Läßt sich nun methodisch nachweisen, daß im Leben der Erwachsenen bereits ein Stück Zukunft steckt, dann läßt sich ein neuer Kompressionsmotor des Denkens erfinden.

Die moderne Wissenschaft lebt von der Fiktion, daß die Vergangenheit besser bekannt sei als die Zukunft, und daß die Natur sicherere Daten liefere als die Gesellschaft. Deshalb gilt ein von der Zukunft her gespeistes Denken als unwissenschaftlich. Im Jahre 1932 hat Herr Nicolai Hartmann eine philosophische Aussprache über die Rolle der Philosophie herbeigeführt, die mir neulich in Form des gedruckten Berichts vor Augen kam. Die Tagung ist durchzittert von dem unterirdischen Grollen der heraufziehenden neuen Gewalt. Aber an keiner Stelle der Diskussion wird das zugestanden. Es ist dort diskutiert worden, als habe unser menschliches Leid oder unsere menschliche Angst gar nichts damit zu tun, daß wir nach der Wahrheit suchen. Sie haben hier die vollkommenste Gleichsetzung von Wahrheit und Wissenschaft. Die Wissenschaft allerdings, weil sie ja nur verallgemeinert, was dem Leidenden als Wahrheit aufgegangen ist, darf sich nicht auf die Politik berufen. Hingegen sind die großen Philosophien, welche in jeder Generation die Universitäten umorganisiert haben, alle aus dem Leid, und zwar genauer aus dem Kriege, entsprungen. Schon Henrik Steffens hat darauf hingewiesen, daß die Philosophen den Anlaß zu ihrer Philosophie verdrängen, er aber wolle ihn aufdecken (siehe meine Biographie in Schlesische Lebensbilder, IV, 1931). Es gibt keine Geschichte der Philosophie so, als ob ein Philosoph auf den vorhergehenden Philosophen im Schulraum geantwortet habe. Descartes entstammt dem 30jährigen Krieg. Er ist der ewige Privatdozent des 30jährigen Krieges geblieben. Kant wird Philosoph nach dem Siebenjährigen Krieg. Schopenhauer kommt auf den Schlachtfeldern Napoleons zum Nachdenken. Friedrich Nietzsche ist im deutsch-französischen Krieg über seine bloße Philologie hinauf gezwungen worden. Die Kriege aber sind Teile der Zukunft, die in dem darauffolgenden Frieden erst noch an den Tag gelegt werden müssen. Denn sie bringen ja unerhörte Leiden. Alles Unerhörte aber gehört in die Zukunft. Im Krieg zerfällt die jeweilige Gegenwart des vorigen Friedens. Es gibt nur Zukunft und Vergangenheit in Natur und Krieg.

Die methodische Frage kann also gar nicht so lauten wie bisher. Niemals bestimmt die Vergangenheit die Lehre. Was wir heut hier lehren, meine Damen und Herren, hat überhaupt nur Sinn, wenn sich das Gelehrte im Jahre 2000, das heißt, wenn unsere Studenten 70 Jahre alt sind, noch bewährt. Ich lehre „Die Ordnung von 1100 bis 2000”, weil das Jahr 2000 schon in meinem Hörsaal sitzt. Wir wollen aber sogar, indem wir lehren, etwas den Studenten beibringen, was sie noch ihren Enkeln weiterzusagen haben. Im Lehren wird also der Gelehrte zum Ahnherrn seiner Urenkel. Dazu bedarf er einer ständigen Selbstreinigung. Denn er muß sich hüten, seine vorübergehenden Gedanken auf dieselbe Stufe zu stellen mit der Wahrheit, die durch die Jahrhunderte immer wieder gelehrt werden muß. Seitdem die Frauen studieren, ist das besonders deutlich. Denn wenn eine Mutter entscheidet, ob ihr Kind beten soll oder nicht, entscheidet sie über die Zukunft des ganzen Geschlechts. Einem Kinde darf man nur das sagen, was so wahr ist, daß das Kind es dereinst seinen eigenen Kindern unbedingt weitersagen muß. Vergleichen Sie die Kommunistin, die in der Parteischule fanatisiert wird, mit der Studentin, die wir uns als unsere beste Schülerin wünschen müssen, dann sehen Sie mit einem Schlage, daß die Zukunft in beiden Fällen die entscheidende Tatsache unserer eigenen Existenz ist. Es gibt freilich zwei verschiedene Zukünfte. Die eine kommt dadurch zustande, daß der heutige Herrscher die Zukunft bestimmt. Da haben Sie die Parteischule. Die andere kommt dadurch zustande, daß sich zwischen der Führung von heute und der Führung von morgen die Lehre einschaltet. Durch sie wird der Führer von morgen von dem Führer von heute unabhängig.

Neben den Frauen, welche die freie Zukunft verkörpern, stehen die Erwachsenen, welche das schon erlittene Leid verkörpern, also die Fragen, die künftig beantwortet werden müssen, stehen in jedem Richter, in jedem Lehrer, in jedem Arbeiter, in jedem Unternehmer bereits vor uns. „Du kommst in so fragwürdiger Gestalt”, muß man jedem Spezialisten zurufen. Statt des Privatdozenten gehören mithin die unter dem herrschenden Regime leidenden Erwachsenen in den Rahmen der Universität, damit die Lehre die Zukunft befreien kann. Sie wissen alle, daß unsere kriegsteilnehmenden Studenten uns eine Weile aus der Verlegenheit geholfen haben, die darin besteht, daß man vom Leide nur in Gegenwart der Leidenden vernünftig sprechen kann. Vor den Studenten ja, zu den Studenten nein, kann man von den Fragen der großen Politik reden. Der methodische Irrtum der letzten 60 Jahre besteht gerade darin, daß man das nicht hat wahrhaben wollen. Als aber Heinrich von Treitschke vor den Berliner Studenten Politik vortrug, da hat er gar nicht doziert; obwohl er die Wahrheit in vielem sprach, war er methodisch doch bloß ein Demagoge. Denn Politik kann nur in Gegenwart der schon leidenden, schon verantwortlichen Gemeindemitglieder gelehrt werden.

Man trägt sich ja wohl augenblicklich mit dem Gedanken, in Deutschland Professuren für Politik einzurichten. Aber, meine Herren, ich spreche hier zu den Mitgliedern der Universität über die Universität, wenn auch vor den Studenten. Nur das hat Sinn; denn nur das führt über die Examina und das Berechtigungswesen und über die unwichtigen und willkürlichen Themen unserer wissenschaftlichen Forschung hinaus. Nur im Widerspruch der Mitglieder zeigt sich der Wert, die Wichtigkeit, die Dringlichkeit und die Fruchtbarkeit eines wissenschaftlichen Anliegens. Ich erwarte mir heute nicht Ihren Beifall, aber Ihre Gegenwart. Denn nur dank der Gegenwart Erwachsener kann sich die Hochschule in ihrer Vermittlerrolle zwischen Genius und Routine behaupten. Die Wissenschaft ist ja doch ein Mittleres zwischen Gottes Wahrheit und Alltagsnutzen. Neulich schrieb ein Professor der Medizin: „Es kann nicht länger bezweifelt werden, daß Säuglinge mütterliche Pflege brauchen.” Dieser Professor hatte den Verstand verloren. Er hatte vergessen, daß Wissenschaft eine untergeordnete, nämlich nur die allgemeine Form der Wahrheit ist. Der Ursprung der Wahrheit stammt also nicht aus der Wissenschaft. Sondern die Wissenschaft ist lehrbare Form der Wahrheit. Sowie sich die Wissenschaft für die Quelle der Wahrheit ansieht, wird sie wertfrei und wertlos. Dem entgeht die Wissenschaft, wenn sie sich der Gegenwart von Erwachsenen aussetzt. Denn in jedem Erwachsenen lebt Wahrheit auch ohne Wissenschaft. Hier in Göttingen war ich leider nur auf Studenten angewiesen; deshalb bin ich wenigstens auf eine Woche nach Berlin gegangen und habe dort eine Professorenaussprache gelenkt. Das war in der Hochschule für Politik. Es ging mir darum, durchzukämpfen, daß jeder einzige Krieg mit einer Strukturveränderung der Universität beantwortet werden muß. In Paris wurde 1871 der Sturz Frankreichs mit der Gründung einer politischen Hochschule beantwortet. Das hat man 1919 in Berlin nachgeahmt, denn der Gründer war nationalliberal und wollte auch von dem ersten Weltkrieg nur den Teil sehen, kraft dessen er noch ein nationaler Krieg heißen konnte. Ich selber habe nach 1918 fünfmal versucht, den Weltkrieg als Weltkrieg in einer Institution aufzufangen. Die deutsche Universität wollte davon nichts wissen. In der amerikanischen habe ich als Privatdozent auch den Weltkrieg als Weltrevolution angesprochen. Aber das Volk der Vereinigten Staaten ist auch heute noch mit dem amerikanischen Weg zufrieden. Man redet von free enterprise und Föderalismus, obwohl wir drüben bereits eine Labourregierung und Zentralismus haben. Dieser Konservatismus ist sehr wohltuend, und ich verhehle nicht, daß ich the American way of life außerordentlich liebe. Leider hat für das Ausland dieser Mangel an Vorsprung kostspielige Folgen. Doch das ist ein weites Feld. Für Amerika und Europa fordert die Zukunft dasselbe. Angesichts Stalins wird jede Institution, die beide Weltkriege meistern will, aus Erwachsenen mit Erwachsenen und für Erwachsene sprechen müssen. Das zäheste Volk der Geschichte hat seine Erwachsenen das ganze Leben hindurch lernen lassen. Die Judenschule ist keine Kinderschule und keine Jünglingsschule, sondern ein Lehrhaus für Erwachsene gewesen. Jetzt sind die Juden in Europa ausgerottet. Ihre geistige Funktion sind die Europäer damit nicht im geringsten losgeworden. Im Gegenteil: Jetzt wird es für alle Europäer nach Israels Vorbild notwendig, die Zukunft als eine Tatsache zu behandeln. Wer das aber tut, muß seine eigene Gegenwart immer wieder preisgeben. Sobald wir das tun, werden wir ganz andere Fragen stellen. Zum Beispiel werden an der Harvard University über 200 Vorlesungen angekündigt, welche die bestehenden Sprachen lehren. Im Göttinger Vorlesungsverzeichnis habe ich 153 solcher Vorlesungen gezählt. Es gibt aber keine einzige Vorlesung über Sprache. Dabei spricht der Deutsche in der Ostzone heute schon anders als in der Westzone. Sind Sie so sicher, daß es im Jahre 2000 noch eine deutsche Sprache geben wird? Ist Rilke nicht etwas Letztes? Ruft das Wort noch ins Leben?

Zweites Beispiel ist die Geschichte. Nur um der Zukunft willen gehen wir nicht nackt einher, sondern sind mit Geschichte bekleidet. Als aber 1870 statt Jakob Burckhardt Treitschke nach Berlin kam, da hörte für Deutschland die Weltgeschichte auf. Heute wird es sogar geleugnet, daß eine solche Universalgeschichte möglich ist. Das zwingt die Völker, Spengler und andere außerschulische Genies zu verschlingen. Nun, ich bin Partei, ich bringe gerade eine Geschichte zum Druck. Aber ich tue das nicht aus Neugierde. Den Lehrstühlen der einzelnen Geschichten, welche das 19. Jahrhundert so reich dotiert hat, stelle ich als unbemittelter Privatdozent deshalb eine Universalgeschichte entgegen, weil wir sonst das Jahr 2000 nicht erreichen können. Nur dank der Geschichte können nämlich unsere Urenkel uns als ihre Erben anerkennen.

Magnifizenz, meine Damen und Herren, Kommilitonen! Ich habe zu zeigen versucht, daß die augenblickliche Universität mit biologischen Fiktionen operiert. Es gibt kein Lebewesen ohne geglaubte Zukunft. Sie operiert mit soziologischen Fiktionen, indem sie zu den Studenten von der menschlichen Gesellschaft spricht in Abwesenheit statt in Gegenwart der Erwachsenen. Sie operiert mit moralischen Fiktionen, indem sie uns alten Sündern zutraut, daß wir ohne Not, jeder für sich, täglich umzulernen bereit seien.

Aber, werden Sie einwerfen, ist das denn alles nötig, was du hier forderst? Kann nicht der einzelne in froher Geistesgegenwart leben, wie der Selige, der Gerechte des ersten Psalms? Bedürfen wir denn der Hochschule? Lesen wir nicht im ersten Psalm zu unserem Trost von dem Manne qui in cathedra pestilentiae non sedet und redet von dem Gesetz des Herrn Tag und Nacht. Der ist wie ein Baum, gepflanzet an den Wasserbächen, der seine Früchte bringt zu seiner Jahreszeit. Gewiß, außerhalb und innerhalb der Universität gibt es solche Gerechten. Die Vereinigten Staaten sind psalmengenährt. Viele stehen dort auf und reden von dem Gesetz Gottes. Ich habe an der Universität selbst das Glück gehabt, solche Männer zu kennen. Sie haben in der Wahrheit gestanden, trotz ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit. Aber, meine Damen und Herren, eine Korporation, eine Institution kann nicht mit Riesen rechnen wie Rudolf Sohm oder Adolf Wagner oder William James. Die Institution muß etwas Bestimmtes tun, immer wieder tun, mit dessen Hilfe sie ihr Geheimnis ausspricht. Gäbe es keine Ungerechtigkeit in der Welt, dann genügte der erste Psalm. Aber wegen der Ungerechtigkeit ist es zur Universität der Reformation gekommen. Denn durch Ungerechtigkeit geht jedesmal Zeit verloren, und gegen die muß man sich einen Vorsprung sichern.

Nehmen Sie die Kriegsteilnehmer, welche Sie nun nachträglich lehren. Die bringen Ihnen das Element der Vorsprünglichkeit, und Sie machen sie nachdenklich.

Aber unter welcher Bedingung kann das nur gelingen? Nicht, wenn die Kriegsteilnehmer über irgend etwas nachdenken, sondern wenn sie über den schon getanen, eigenen Vorsprung nachdenken dürfen. Dann wird es eine wissenschaftliche Lehre vom Kriege geben können. Das ist bisher nicht geleistet worden. Eine „Polemologie” stellt neben dem Fehlen einer Sprachlehre und eines Geschichtsrahmens wohl den größten Mangel der heutigen Universität dar. Sie ist Zivildenken für Zivilisten. Sie muß aber den Landesherren die Wahrheit lehren. Denn wir sind alle heut wie Landesherrn zu behandeln.

Der Gerichtsrat in Goethes „Natürlicher Tochter” hat nur die in der Mittelhöhe des Lebens waltenden Gesetze studiert. Ohne die Astronomie der Völker, die beides, Krieg und Frieden, überfaßt, sind jus und alle anderen Hochschulwissenschaften wertlos. Das Leid der Kriege und der Revolution ist ein Teil der Wahrheit2, und jede Wahrheit muß eines Tages Wissenschaft werden. Hiermit gelangt der Gang unserer Rede durch die hochschulreiche europäische und die hochschularme amerikanische Geschichte an sein Ziel.

Blicken wir noch einmal zurück: In Europa gebaren die Kriege ein jeder seine Philosophie. Paracelsus, Cartesius, Locke, Kant, Fichte, Hegel, Schopenhauer, Nietzsche sind nicht die natürlichen Menschen Theophrastus von Hohenheim, Descartes usw. Sie sind die Söhne der zu ihrer Zeit erlittenen Katastrophe, der in ihrer Zeit aufbrechenden, über Krieg und Frieden sich empörenden Umwälzung. Daher muß ihre Philosophie angesichts einer späteren Katastrophe ausgewechselt werden.

Solange. die Philosophie ihr Urerlebnis verdrängt, bedroht sie die Schulen, in denen ihr System weitergeschleppt wird, mit Veraltung. Jeder neue Krieg sollte also dazu führen, daß die Philosophien der älteren Kriegsepochen ausdrücklich bestattet werden. Daran fehlt es im hochschulreichen und philosophieüberlasteten deutschen Schulraum. Es gibt heute noch Hegelianer, Cartesianer, Kantianer. Das ist ohne Sinn und Verstand in einer „Polemologie”. Das erste Gebot der neuen Wissenschaft lautet: Von jeder vorhergehenden Katastrophe muß auch ihr Denksystem begraben werden. Sonst können die Weltkriegsteilnehmer nicht zu ihren eigenen Worten kommen. Umgekehrt ist es in Amerika gewesen. Dort hat man nicht aus dem Kriege jedesmal eine neue Philosophie über den Hohen Schulen aufgerichtet. Also hat man auch nicht unter ihren Versteinerungen sich gekrümmt und verkrümmt. Aber dafür sind dort die Kriegsphilosophien auch nicht einmal in ihrer eigenen Periode fruchtbar geworden; sie haben nicht einmal ihr vorübergehendes Recht erlangt; sie sind gar nicht zu Worte gekommen. Zu wenig Abstraktion vom Kriege geschah in Amerikas Geschichte. Deutsche Geschichte aber verfiel der Abstraktion vom einzelnen Kriege, als spräche sie eine ewige Wahrheit. Die kleine Ewigkeit einer Friedenszeit galt für die ganze Ewigkeit. Für die ganze westliche Welt fordert mithin die neue Polemologie eine neue Verarbeitung der Katastrophen: die Katastrophen erzwingen zeitgenährte, zeitentsprossene, vorübergehende Wahrheiten. „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage”, ist der methodische Grundsatz der neuen Polemologie, der Lehre vom leidgezeugten Denken3. Wenn die beiden Weltkriege zusammen als Bruderkriege des unteilbaren Geschlechts zu einem Teil der Wahrheit geworden sein werden, von denen die Wissenschaft eine Lehre überliefert, dann werden wir uns nicht mehr gegen die Russen zwölf Kilometer von hier abdichten müssen, denn dann werden wir über das Zukunftsdenken des Parteidrills hinausgedrungen sein mit unserer eigenen Meisterung der Zukunft, und dann wird der Privatdozent dank der Gegenwart der Zukunft in der Universität nicht mehr vonnöten sein. Wie gerne wollen wir Privatdozenten dann überflüssig geworden sein. Denn was liegt an uns, wenn nur die Universität wieder von allen Seiten auf die Zukunft sieht?

Universitas heißt auch gerade dies, daß sich Getrenntes auf eine Zukunft richtet. Anfangs heißt Universitas nur die Korporation. Später ist sie die Universitas Litterarum. Aber das Geheimnis der Universität steckt erst in ihrer dritten Bedeutung: Uni - versus, von allen Seiten sammelt sie die sonst Getrennten, um der Zukunft, der freien Zukunft willen, der Zukunft, die die Sünden der Väter nicht heimsucht bis ins dritte und vierte Glied, sondern die wohltun kann bis ins tausendste Glied, weil wir uns vom Unrecht der Gegenwart öffentlich und donnerstags statt sonnabends lossagen.

aus: Das Geheimnis der Universität, Stuttgart 1958, S. 17–34

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  1. The Law of Liberty, Vermont 1942. 

  2. Deshalb überfassen meine Werke zu den Welt-Revolutionen beides: „Die Hochzeit des Krieges und der Revolution” 1920, „Die europäischen Revolutionen” 1931, „Out of Revolution” 1938, „Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen” 1951. 

  3. Vgl. Franz Rosenzweig: Das neue Denken, in Kleinere Schriften Berlin 1935.