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Margarete Susman über Rosenstock-Huessy

Zwei der wichtigsten Begegnungen meines Lebens hatte ich neben den häufigen Besuchen von Groethuysen aber auch in Säckingen. Ein noch junger Mann, Eugen Rosenstock, meldete sich etwa im Jahre 1921 bei uns. Ich erkannte schon beim erstenmal seine außergewöhnliche Begabung. Und dann wurde er mir zu einem der Repräsentanten jenes „Exodus aus der Philosophie”, der sich in so vielen Formen nach dem Krieg in Deutschland vollzog und eine ganz neue Weise des Denkens heraufführte. Ich will daneben nicht vergessen, wie er mir die so teuer gewordene Familie Hüssy, mit der er verschwägert ist, so nahe brachte, daß diese Freundschaft, besonders mit seiner jüngsten Schwägerin, mir bis heute lieb geblieben ist. Er besuchte uns von da an täglich, und ich erinnere mich vieler unserer Gespräche. Diese Begegnung wurde mir unvergeßlich, weil er, der eben aus dem Krieg zurückgekehrt war, zum erstenmal das in meinem Leben durch alles Gelebte, Gelesene und Gedachte hindurch verschollene Wort „Gott” als ein Selbstverständliches wieder aussprach. Selbst die Bibel hatte ich zum großen Teil nicht auf mein Leben bezogen und jedenfalls das Letzte in ihr kaum noch als auf das Heutige anwendbar gesehen. Alle großen Denker und Dichter, die mir in diesem Jahrhundert begegnet waren, und gerade die größten unter ihnen, die großen Gottsucher jener Zeit, hatten den Namen entweder durch Denken und Erfahrung ausgelöscht oder nur noch den Namen als längst verklungenen oder wie Goethe als „Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsglut” empfunden oder ihn noch weit selbstverständlicher, über Nietzsche bis hin zu Simmel, schmerzhaft, dann schmerzlos fortgewischt. Und dieser deutsche Offizier – freilich in seinem Ursprung Jude –, aus allen Quellen deutschen und christlichen Denkens genährt, sprach wieder unbefangen und selbstverständlich von Gott. Es war also möglich, daß er wiedergefunden, wieder als letzte Wahrheit ausgesprochen wurde, und sogar von einem Menschen, der alles andere als ein weltentrückter Heiliger war, der sogar, wie ich bald bemerkte, ein ganz von allen Werten des Idealismus losgelöstes Leben führte.

Wenn nach dem ersten Weltkrieg der bereits durch den verzweifelten Aufschrei Nietzsches totgesagte Gott wieder auf die Lippen der Menschen trat, so war es, weil sie erfahren hatten, daß ohne Gott zu leben und zu sterben für den suchenden Menschen un- möglich ist. Wie nach dem Dreißigjährigen Krieg die große, unter dem Aufschrei zu Gott entstandene Barockkunst, so hoben nun die Werke einzelner den ewigen Namen in Denken und Kunst wieder aus dem Dunkel empor. Sie glaubten, weil sie leben und lieben wollten und eine letzte Möglichkeit dazu suchten. Dies erfuhr ich zuerst durch Eugen Rosenstock, und es war eine Erfahrung, die mich überwältigte. Gewiß hing sie mit dem Ganzen der Weltentwicklung zusammen, aber das machte sie nur um so wahrer. Rosenstock war der erste, der mir dieses Wort lebendig brachte, und zwar so, daß es durchaus bejahend und mit einer lebendigen Arbeit verbunden war, der Arbeit an einer neuen Jugend, die er mit Liebe und Begeisterung leistete. Er hatte schon vorher in Deutschland wesentliche Dinge gewirkt und nach dem Krieg Entscheidendes für die deutsche Jugend geleistet und wurde nicht nur ein ungewöhnlich geistvoller Professor für Rechtsgeschichte in Breslau, sondern er hatte auch ein Arbeitslager für junge Menschen gegründet. Sein Wort war stark und überzeugend. Das Simmelsche wie das Diltheysche Denken war ihm fremd geworden. Denken im bisherigen Sinne war dies überhaupt nicht mehr, sondern nur ein stark verwandeltes, das letzthin aber doch auf der Philosophie von vier in ganz verschiedener Weise bedeutenden Denkern des vergangenen Jahrhunderts ruhte: Marx, Kierkegaard, Nietzsche und Husserl; Marx, der den Sieg der Gemeinschaft über den einzelnen, Kierkegaard, der der letzten Tiefe des einzelnen den Sinn der menschlichen Existenz entnahm. Sie haben bereits in sehr ungleicher Weise vorausgesehen, daß in unserem Jahrhundert die Tiefe des Nichts der menschlichen Existenz alles verdrängt hat. Was nach dem ersten Weltkrieg als furchtbare Wirklichkeit sichtbar wurde, alles bisherige Denken zugleich lähmte und überstieg, wurde von den Nachkriegsdenkern in völlig neue Denkmethoden einbezogen. Ein neues Heilssuchen nach der unheilvollen Zeit war wieder in dieser Haltung lebendig. Nietzsche hatte einst geglaubt, aus dem Menschen ohne Gott den höheren Menschen entwickeln zu können. Schon im ersten Weltkrieg war dieses Menschenbild in entsetzlicher Weise zusammengebrochen. So flammte überall in der Welt, in den verschiedenen Ländern in verschiedener Weise, vor allem aber in Deutschland, ein Suchen nach dem verlorenen Wege zum Heil auf. Schon bei Husserl verbarg sich hinter einer strengen und klaren Logik ein tiefreligiöser Geist, der nicht nur durch das Leiden des Krieges zu einer neuen Gestaltung des Denkens gelangte, die unermeßliche Wirkungen ausgelöst und sich über ganz Europa aus der Phänomenologie als Existenzphilosophie verbreitet hat. So war die ganze neue Philosophie doch auch zum Teil eine Theologie, eine Soziologie und Heilsgeschichte, und zwar eben auf dem Grunde der Phänomenologie. Hätte Husserls Phänomenologie nicht ihr Wort gesprochen, so wäre das Denken dieser Epoche ein vollkommen anderes gewesen. Husserl hat, wie in ganz anderer Weise schon Hegel, die Denker an die wahre Tiefe der Phänomene gewiesen.

Die lange Zeit, in der ich gelebt habe, war zunächst vom Idealismus in seiner deutschen Form, dann von der Lebensphilosophie und zuletzt, Bloch eingeschlossen, von der Phänomenologie beherrscht. Die ganze abendländische Philosophie von Parmenides bis Hegel wurde damals von mehr als einem Denker verworfen, und wenn es auch früher Kriege und immer wieder Kriege gegeben hatte, der totale Abbruch aus einer hohen, von einem langen Frieden ermöglichten Kultur wie der eben vergangenen und die totale Zerrüttung aller Lebensverhältnisse, die bereits nach dem ersten Weltkrieg einsetzte, die gräßlichen Geschehnisse des Krieges selbst und dann Inflation und Arbeitslosigkeit hatten das damalige Deutschland so sehr in der Wurzel beschädigt und alle Werte des wirklichen Lebens derart zerstört, daß eine totale Umkehrung auch allen Denkens zwangsläufig erfolgen mußte. So brachte das Denken von Rosenstock und bald darauf das seines Freundes Rosenzweig etwas völlig Neues in mein Dasein. Ein Zeugnis dieses neuen Lebensgefühls war neben dem Wort Rosenstocks vor allem „Der Stern der Erlösung” von Rosenzweig, den er mir kurz vor dem Besuch seines Freundes gesandt hatte.

Natürlich war nach der gewaltigen Säkularisierung unserer Welt und neben der Machtentfaltung der Technik, in der so viel gedacht und entdeckt worden ist, der schlichte Glaube, das Wiederanknüpfen an das Vergangene, unendlich schwer. Dafür hat Franz Rosenzweig nach langem schmerzlichen eigenen Ringen den entscheidenden Ausdruck gefunden: „Nur wer Gott mit dem doppelten Gebet des Gläubigen und des Ungläubigen anruft, dem wird er sich nicht versagen.” Er hat also das Beten mitten in seine geschichtliche Zeit hineingestellt. Er strebte „ungläubiges Weltkind und gläubiges Gotteskind in einem” zu sein. Die Verwirklichung dieses Gebetes war von kaum vorstellbarer Schwere. Rosenzweig hat dies gefühlt und darum den ungeheuerlichen Versuch gewagt, die Verbindung mit Gott durch die uralten ewigen Gesetze neu zu stiften. Er hat das inmitten der deutschen Wirklichkeit getan, die damals schon dem Hitlertum entgegentrieb, und er hat seinen Plan in seinem kurzen Leben verwirklicht. Denn diesem Leben war die Gnade der Rechtzeitigkeit in jedem seiner Schritte bis in den Tod hinein gewährt.

Monatelang, mehr als ein halbes Jahr, habe ich mich damals neben der drängenden häuslichen Arbeit um Rosenzweigs „Stern der Erlösung” bemüht. Und bevor ich meine Eindrücke in der Zeitschrift Bubers „Der Jude” niederschrieb, kam Rosenzweig selbst eines Tages zu mir. Ganz anders als sein – Christ gewordener Freund Rosenstock wirkte er auf mich – nicht weniger klug und ideenreich, aber zurückhaltender und ruhiger, fast weniger sicher, möchte ich sagen, und ein Brief, den er mir unmittelbar darauf schrieb, der von allen seinen veröffentlichten Briefen abweicht und den ich hier als Offenbarung einer ganz anderen Seite seines Wesens einfügen möchte, bestärkte und verstärkte diesen Eindruck:

Montag früh
„Hochverehrte, liebe Frau v. Bendemann,
nach durchfahrener Nacht sitze ich im Mannheimer Wartesaal und muß Ihnen schreiben. Ich weiß noch nicht, ob es recht war, daß ich gestern davonfuhr und nicht noch einen Tag blieb. Nun trage ich den gestrigen Nachmittag noch wie ein großes Gewicht mit mir herum oder vielmehr: Ich lasse es ungehoben daliegen. Es ist ja nichts so schwer als wahr zu sein, besonders bei so einem ersten Mal. So habe ich gestern, ohne daß ich es wollte, Ihnen einen viel breiteren und fundierteren Menschen gezeigt, als ich es bin. Und ich fühle nachträglich, daß Sie das belasten muß. Aber das bin ich ja gar nicht. So wäre ich, wenn ich noch der Verfasser meines Buches wäre und nicht schon mit dem letzten Wort des Buches selber mein Leben von seiner allzu großen Vollendetheit wieder gelöst hätte. Es war ja gestern natürlich: das Buch hatte mich zu Ihnen gebracht, so konnte es sich gestern mächtiger über mich aufspielen, als es ist. In Wahrheit bin ich heute Anfänger wie je im Leben und verzweifle jeden Tag, wie ich die Last dieses Tages heben soll: Und am Abend liegt sie ungehoben, oder wenn ich sie wirklich ein wenig von der Stelle gerückt haben sollte – ich sehe es nicht. Die geistige Klarheit hilft da wenig, nein, gar nichts. Mehr kann ich heute nicht sagen, ich brauche es auch nicht. Nur das Buch, das noch zwischen uns stand, wollte ich wegräumen. Glauben Sie, daß ich im Leben heute vor keinem etwas voraushabe. Vielleicht im Gegenteil. Sie brauchen mir hierauf nicht zu antworten. Ich komme sicher wieder, im August oder September.
In aufrichtiger Verehrung Franz Rosenzweig.”

Dieses Wiedersehen hat nicht mehr stattgefunden. Ich habe Rosenzweig erst Jahre später in Frankfurt als einen tief Veränderten wiedergesehen.

Margarete Susman: Ich habe viele Leben gelebt - Erinnerungen