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Stimmstein 6: Editorial

Stimmstein 6, 2001

Mitteilungsblätter 2001

Editorial   Diese Mitteilungsblätter (stimmstein 6) setzen die Mitteilungen der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft fort, die ab 1963 zu erst Georg Müller, später Dietmar Kamper zusammen mit Rudolf Hermeier und dann Michael Gormann-Thelen redigierte. Und sie treten zugleich an die Stelle des stimmstein, der seit 1987 in unregelmäßiger Folge und unter wechselnder Leitung erschien.

Die Mitteilungsblätter wollen die Verbindung unter den Mitgliedern der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft stärken und wenden sich zugleich an Leserinnen und Leser, die den Namen Eugen Rosenstock-Huessy vielleicht noch nie gehört haben. Habent sua fata libelli. Die Herausgeber würden gerne jedes Exemplar dieses Jahrbuchs beringen, so wie man Zugvögel beringt, um deren Reisewege kennen zu lernen. Wir leben in einer Zeit, in der sich die Lese-gewohnheiten wandeln. Fernsehen und Internet verwöhnen die Zuschauer. Wer im Internet sucht, wird bemerken, dass die Lexikonartikel zu Rosenstock-Huessy zunehmen, Universitäten Projekte zu Rosenstock-Huessy anzeigen, ein Antiquar Die Sprache des Menschengeschlechts den Nomaden des dritten Jahrtausends zur Orientierung empfiehlt und… und… oder dass in manchen Nachlässen Korrespon-denzen mit Rosenstock-Huessy auftauchen, wie zum Beispiel die in  diesem Heft abgedruckte mit Joachim Günther, dem langjährigen Herausgeber der *Neuen Deutschen Hefte * (NDH). Sie macht eine Grundfrage zur Wirkungsgeschichte Rosenstock-Huessys deutlich, die sich auch der nach ihm genannten Gesellschaft und der Redaktion dieses Heftes stellt: Wie macht man den Reichtum seines Werks anderen zugänglich? Wir suchen nach Antworten, haben Sie aber nicht. 

Wer dieses oder jenes Mitteilenswerte herausgefunden hat − wie auch immer − scheue sich nicht, sich zu äußern. Die Mitteilungsblätter wollen das sein, was sie heißen. Nicht zuletzt hängt es von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser ab, welche Gestalt die Mitteilungsblätter in Zukunft annehmen. Wir bitten um Zuschriften, Aufsätze, Rezensionsangebote, um Hinweise auf und Berichte von Veranstaltungen. Wir wünschen, dass die Mitteilungsblätter möglichst vielfältig, vielstimmig und lebendig werden.

Die Ausgabe 2001 ist keinem Thema im engeren Sinn gewidmet. Wollte man trotzdem eine Überschrift finden, müsste sie die Frage nach dem einen Volk und den Völkern enthalten. Die Namen der Völker, das weiß jede Zeitungsleserin und jeder Fernsehzuschauer, sind mächtig und erzeugen glühende Leidenschaften. Sie führten und führen auf dem Balkan zu Krieg und Bürgerkrieg, in Westeuropa zu tiefer, im Untergrund grollender Beunruhigung und an manchen Orten zu Hassausbrüchen, die viele verantwortliche Politiker sprachlos machen. Die Beiträge dieses Heftes sollten auf dem Hintergrund der gefährdeten, ethnisch-politischen Verhältnisse in Europa gelesen werden. 

Zwei Aufsätze von Eugen Rosenstock-Huessy geben den Ton an. Sie können unter anderem auch zur Vorbereitung auf die Jahrestagung 2001 gelesen werden, die in Verbindung mit der Evangelischen Akademie Berlin stattfindet. Ihr Thema heißt: Europa − ein rechtes Laboratorium? Visionen und Strategien der europäischen Rechten. Im Jahre 1992, nicht lange nach der Wende in Osteuropa, wies die Rosenstock-Huessy Gesellschaft auf die Gefahren hin, die von den Gespenstern der Vergangenheit ausgehen. Sie dürfen nicht unterschätzt werden. Das erste Beiheft des stimmstein (1992) enthält den 1944 geschriebenen Aufsatz Hitler und Israel oder Vom Gebet, in dem Rosenstock-Huessy schrieb: „War einmal der Klerus der Gebete durch den Mathematik-Klerus verdrängt, war Hitlers Triumph unvermeidlich. Jedesmal, wenn die Dinge ähnlich liegen, wird das gleiche passieren, und 2010 blüht uns ein neuer letzter Hitler, wegen des Monopols der Physiker und Mathematiker in deutschen Landen” (S. 93). Eine harte Rede, und wir müssen alles, was wir können, dafür tun, dass Rosenstock-Huessy sich im Jahre 2010 hoffentlich geirrt haben wird. Er warnte schon 1944 und hörte das Unkraut wachsen, während andere über die Leiden der Vergangenheit und die Leidenschaften der Völker möglichst schnell Gras wachsen lassen und zur Tagesordnung übergehen wollten. Die Kirche und die Völker (1930) ist einer der ersten Entwürfe für den zweiten Band der Soziologie Rosenstock-Huessys. Der Nachmarxist überschrieb Hans Ehrenberg seinen Freundesbrief an Rosenstock in der Festgabe für Zöllner, in der dieser Entwurf zuerst stand. Ehrenbergs Briefüberschrift ist bezeichnend; sie weist auf die Ordnung der Zeiten im Lebenslauf hin und auf das Paradox von vorgegebenem Datum und aufgegebener Datierung. Rosenstock-Huessy arbeitete damals an Band II der Soziologie, der 1958 unter dem Titel  Die Vollzahl der Zeiten erschien.

Der Rundfunkvortrag Das Volks Gottes in Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft (1961), kommt den Leserinnen und Lesern ganz aktuell entgegen. „Wenn wir in die Zukunft sehen, wenn wir uns fragen, was denn morgen aus uns werden soll, in jedem Sinne dieses merkwürdig rätselvollen ‚Aus-uns-werden-Soll’, ob wir auf diesem Planeten noch friedlich als Kinder Gottes werden spielen dürfen, da ist uns sehr wenig geboten. Um uns herum herrscht die Physik; die beherrscht uns so sehr, daß unsere Bedürfnisse von jeder neuen Elektronen-Erfindung verändert werden. Willig lassen wir uns leiten zu immer neuen technischen Möglichkeiten − wir fliegen, wir sehen fern, wir hören fern. Wir können alles, wir wissen aber nicht mehr, was wir sollen. Wollten wir also den heutigen Zustand in die Zukunft hinein verlängern, würden wir vor einem Rätsel stehen.“

In Harold Bermans Vortrag Recht und Revolution zum Erscheinen seines Werkes Law  and Revolution in deutscher Übersetzung wird eine der umstürzendsten Entdeckungen Rosenstock-Huessys aufgenommen, profund dargestellt und eigenständig, auf der Grundlage eigener langjähriger Forschung bearbeitet (1991 deutsch, im Suhrkamp Verlag mit dem Untertitel Die Bildung der westlichen Rechtstradition erschienen). Recht und Revolution betitelte schon Hans Thieme seine Besprechung der Neuauflage (1951) des Werks Die europäischen Revolutionen. Mit dem Wiederabdruck seiner Besprechung gedenken wir Hans Thiemes, Professor für Deutsche Rechtsgeschichte, Bürgerliches und Handelsrecht in Freiburg i. Br., seit 1970 Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 1933 letzter Assistent Rosenstock-Huessys in Breslau. Er starb in diesem Jahr im Alter von 96 Jahren.

Mit den Beiträgen von Ger van Roon und Wolfgang Ullmann gratulieren wir Freya von Moltke ganz herzlich zu ihrem neunzigsten Geburtstag. „Ich sehe Sie, die dieses Jahrhundert überlebt hat, das Ossip Mandelstam gezwungen war ein Wolfsjahrhundert zu nennen, als eine Art Siegeszeichen. Ein Beweis dafür, daß dieses Jahrhundert zu überleben war, in dem der Alltag Völkermord, der Ruin Deutschlands und der versuchte Selbstmord Europas dazu geführt haben, daß die Meinung herrschend werden konnte, den braunen Totalitarismus könne nur der rote besiegen,“ schreibt Wolfgang Ullmann. Herzlicher Dank für alle geduldige Hilfe, Ermutigung und Begleitung von altem und neuem geistigen Leben zwischen Ost und West in Kreisau, Berlin, Vermont und anderswo. „Wir müssen miteinander leben lernen. Das ist eigentlich die Aufgabe der kommenden Zeit. Daran mitzuarbeiten, ist mein Leben lang mein Ziel gewesen“, so heißt es gegen Ende eines langen Interviews, das Eva Hoffmann mit Freya von Moltke aus Anlass des 80. Geburtstags führte. „Eugen‘s Adult Years in Germany“ ist eine in freier Rede gehaltene Ansprache aus Anlass der Eugen-Party im  Juli 2000 in Four Wells.

Jehuda Halevi, geboren um 1075 in Spanien, gestorben in Ägypten 1141, war Philosoph und der größte Dichter des Mittelalters in hebräischer Sprache. Franz Rosenzweig übersetzte sechzig der 800 erhalten gebliebenen Hymnen und Gedichte und schrieb kurze Kommentare dazu. Er ordnete sie, je fünfzehn, in vier Teile: Gott, Seele, Volk, Zion. Die Erläuterungen Rosenzweigs sind ergrei-fend. Sie lassen einen gewaltigen zeitlichen Atem spüren, − von der babylonischen Gefangenschaft bis in unsere Tage. Zu Morgendlicher Dienst aus dem Kapitel Volk schreibt Rosenzweig: „Eines jener kleinen Gedichte, die im Gottes-dienst der Gemeinde für den Vorbeter bestimmt sind als Einleitung zum gewöhnlichen Morgengebet, etwa wie Bachs Präludien für den Organisten vor dem Choral. Die kleine betende Gemeinde im ersten Morgendämmer, rings noch Stille, aber um sie herum im weltweiten Abstand zwei ungeheure Kreise, der Kreis der Sterne und der Kreis der Engel, und aus allen dreien der gleiche Lobgesang − Israel die einsame Mitte der Welt, deren Laut die Himmel wider-hallen“. Und zum Gedicht Zwischen Ost und West aus dem Teil Zion heißt es: „Jehuda Halevis Zionssehnsucht, die Gespaltenheit der Person zwischen Ost und West, die er selber steigerte durch das Gelübde, das er erst in Zion lösen konnte, ist in der Geschichte des Exiljudentums ein Wendepunkt. Ein Jahrhundert lang, nachdem die heldenhaften Zuckungen der ersten Jahrhunderte in den Lehrhallen Babyloniens verebbt waren, bleibt die Sehnsucht nach Zion ein totes Gut − ‚Religion‘. Mit dem Jahrtausend nach der Zerstörung, an dessen Beginn Jehuda Halevi geboren wurde, beginnt der Rückstrom des jüdischen Lebens ins alte Land. In historischer Breite erst ein Jahrhundert später mit der Auswanderung der französischen Gelehrten; aber Jehuda Halevis einsames Seelenschicksal ist das erste Feuerzeichen der neuen Bewegung, die dann, nur mit der einen, doch stärkenden, Atempause des nachmendelssohnschen Jahrhunderts, in der die führende Westjudenheit den Zusammenhang radikal zu verleugnen suchte, bis in unsre Gegenwart trägt“.

Jehuda Amichai wurde 1924 in Würzburg geboren. Sein Name war damals Ludwig Pfeuffer. Die Familie rettete sich 1935 vor der in Deutschland drohenden Verfolgung durch die Auswanderung nach Palästina. Amichai kämpfte im Zweiten Weltkrieg in Nordafrika mit der Jüdischen Brigade gegen die deutsche Armee und studierte nach dem Krieg Bibelwissenschaft und Hebräische Literatur. Seine Gedichte machten ihn berühmt. Sie sind geschrieben in der Stadt Jerusalem, der die Sehnsucht Jehuda Halevis galt. Der Name Amichai, den der Zweiundzwanzigjährige  annahm, heißt Mein Volk lebt. Seine Gedichte strahlen eine große Ruhe aus, obgleich oder vielleicht gerade deswegen, weil Amichai in eigentümlicher Weise eigene Erfahrungen und große Geschichte − wie Günter Kunert bemerkte − mit leiser Melancholie und zugleich kraftvoll verbindet.    Hanna Kohlbrugge schrieb in den Mitteilungsblättern 1994, 2. Halbjahr, zur Situation des Islam heute aus christlicher Sicht den Aufsatz Null oder Drei, der vielen Leserinnen und Lesern noch in Erinnerung sein wird. Sie starb am 13. Dezember 1999 im Alter von 88 Jahren. Sabine Leibholz-Bonhoeffer schrieb 1968 ein autobiographisches Buch: vergangen, erlebt, überwunden. Schicksale der Familie Bonhoeffer (Gütersloh 3. Aufl. 1979). Sie widmete es dem Gedächtnis Rosenstock-Huessys. Sie starb. Klaus von Dohnanyi schrieb aus Anlass des Todes von Sabine, Dietrichs Zwillingsschwester, am 7. Juli 1999: „Manchmal scheint es mir, als spiegele die Familie Bonhoeffer in diesem zu Ende gehenden ‚deutschen‘ Jahrhundert Deutschlands Schicksal bei-spielhaft wider“.

Sebastian Haffners postum erschienene Erinnerungen, ein großer Bucherfolg, nimmt Peter C. Keller unter die editorische Lupe und fragt nach den ungewollten Nebenwirkungen bei Lesern ohne historische Vorkenntnisse. Lise van der Molen stellt eine Aufsatzsammlung von Harold J. Berman vor.

Wir hoffen, dass dies Heft bei den Leserinnen und Lesern Anklang und Wider-hall findet und freuen uns, wenn Sie zu seiner Verbreitung beitragen.

Andreas Möckel      Karl-Johann Rese