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Stephan Steinlein: Eugen Rosenstock-Huessy und Kreisau

Stephan Steinlein Liebe Kreisau-Freunde,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich bin kein Wissenschaftler, ich bin kein Biograph. Die Themen, mit denen ich mich täglich beschäftige, liegen irgendwo zwischen der Organisation einer Plenarwoche, den Gesetzgebungsvorhaben zum Atomausstieg und der SPD-Parteireform. Als mich Agnieszka von Zanthier vor einigen Wochen anrief und fragte, ob ich hier mit von der Partie sein würde, habe ich dennoch ohne langes Überlegen zugesagt.

Mein letzter Vortrag über Eugen Rosenstock liegt zwar 23 Jahre zurück. Ich hielt ihn im September 1988 in der Friedenskirche in Berlin-Pankow, aus Anlass von Rosenstock-Huessys 100. Geburtstag. Aber heute geht es um ein Anliegen, das mir auch immer noch – jenseits meines Alltagsgeschäfts - am Herzen liegt. Ich möchte heute daran erinnern, wie eng Rosenstock-Huessy mit dem alten und dem neuen Kreisau zusammengehört. Nicht nur mit Blick auf die Kreisau- Geschichte. Sondern weil ich glaube, dass es dabei ganz entscheidend auch um Kreisaus Zukunft geht. Vieles, was an Rosenstock-Huessy spannend und zukunftsträchtig ist, werde ich übergehen müssen, anders geht das nicht in der Kürze der Zeit. Ich will heute einen Weg zu ihm bahnen, der über Kreisau geht. Und ich hoffe, dass der eine oder andere Lust, diesen Weg ein wenig weiter zu gehen.

Damals, im Jahr 1988, noch in der DDR, hatte ich als angehender Theologe zusammen mit meinem Lehrer Wolfgang Ullmann eine kleine Tagung organisiert. Wir hatten dazu ganz bewusst auch zwei polnische Referenten eingeladen. Denn schon damals hatten wir Kreisau, das neue Kreisau, fest im Blick! Einer der Referenten war der Krakauer Jesuit Adam Żak, über viele Jahre ein aktives Mitglied des Kreisauer Stiftungsrates. Am Rande dieser Veranstaltung sprachen wir ihn auf die Idee an, in Kreisau einen „europäischen Denkort“ zu errichten. In der etwas überschießenden Diktion Eugen Rosenstocks sprachen wir damals von einem „planetarischen Lehrhaus Helmuth James von Moltke“. Wir – meine Freunde und ich - waren damals jung und ein wenig prophetisch. Wir spürten, dass der Kommunismus am Ende war, dass ein neues Europa im Entstehen war. Und wir suchten nach einem Ort, wo dieses neue Europa vorgedacht und vorbereitet wird.

Adam Żak hat sich damals unsere Ideen angehört und nach Polen mitgenommen. Er stand in Verbindung mit den Klubs der Katholischen Intelligenz, die so etwas wie die geistigen Brutstätten des Umbruchs waren. Als Ergebnis seiner Gespräche erhielt ich im Januar 1989 eine Einladung nach Breslau. Ich sollte im dortigen Klub der Katholischen Intelligenz einen Vortrag über den Kreisauer Kreis halten. Das geschah im Februar 1989. Und im Juni 1989, zeitgleich mit den ersten freien Wahlen in Polen und dem gesamten Ostblock, fand in Breslau die erste Kreisau-Konferenz statt. Polen, Niederländer, Amerikaner, Deutsche aus Ost und West trafen sich, um Kreisau mit neuem Leben zu erfüllen. In einem klapprigen Bus fuhren wir hierher, besichtigten die Ruine des Schlosses, begriffen uns als Keimzelle einer internationalen Bürgerinitiative – und schrieben auf den durchgesessenen Sitzen des Busses einen Appell an die polnische Regierung, das Kreisauer Schloss als europäischen Gedenk- und Erinnerungsort aufzubauen. Das war kühn, aber manchmal muss man kühn sein, um auf der Höhe der Zeit zu sein. Wir waren vorn, wir ritten auf dem Kamm der Welle, und die Welle hat uns nicht abgeworfen. Im November 1989 trafen sich Helmut Kohl und Tadeusz Mazowiecki hier vor dem Schloss, die ersten Gelder flossen, das Abenteuer des neuen Kreisau nahm seinen Lauf.

Schon an dieser kleinen Geschichte wird deutlich, wie eng das Leben und Wirken Eugen Rosenstock-Huessys mit Kreisau verbunden sind. Viele Schicksalsfäden verbinden sich hier zu einem dichten Geflecht. Schicksalsfäden von ganz unterschiedlicher Art! Wir werden uns gleich auf eine kleine Zeitreise begeben, durch 120 Jahre. Auf ihr wird uns vieles begegnen: Universitätslehrer, die ihre Studenten fürs Leben prägen, Freundschaft und gemeinsamer politischen Kampf, Märtyrertum, Verantwortung vor der Geschichte – und eine große Liebe zwischen zwei Menschen. Über dieses enge Geflecht will ich Ihnen heute berichten – mit einigen persönlichen Einsprengseln, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Meine These vorangestellt: Ich bin davon überzeugt, dass es ohne Eugen Rosenstock-Huessy weder den Kreisauer Kreis noch das neue Kreisau gegeben hätte. Ohne ihn wäre Kreisau heute eines der vielen ehemals deutschen Güter in Polen, bestenfalls ein Luxus-Hotel, schlimmstenfalls eine zerfallene Ruine. Eins wäre es jedenfalls nicht: ein europäischer Lern- und Erinnerungsort, wie es ihn in Europa selten gibt.

Die Zeitreise, die wir gemeinsam vor uns haben, wird anspruchsvoll! 120 Jahre, mehrere Länder, zwei Kontinente, viele Namen, bekannte und unbekannte. Das alles in knapp einer Stunde! Am Anfang geht es noch langsam voran. Dann folgt Sprung auf Sprung.

Eugen Rosenstock wurde am 6. Juli 1888 in Berlin als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Bankiersfamilie geboren. Die Religion spielte in seinem Elternhaus kaum eine Rolle. Man war aufgeklärt, bildungsaffin - und deutsch bis auf die Knochen. Die Liebe dieses hochbegabten Jungen gehörte der Sprache und der Geschichte. Diese Leidenschaft sollte ihn bis zum Ende seines Lebens nicht loslassen. In einer autobiographischen Notiz schrieb er 1950 über seine „Liebesgeschichte“ mit der Sprache, die bis zu seinem Lebensende auch eine Liebesgeschichte mit der deutschen Sprache war: „Ich war in meinem fünfzehnten Jahre und wünschte mir Kluges Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Ich selber erstand Jakob Grimms Deutsche Grammatik von 1819 und seine Rechtsaltertümer, in denen ja das Wort eine gewaltige Rolle spielt. Hamanns Wort befiel mich damals: „Sprache ist der Knochen, an dem ich ewig nagen werde.“ Zu den üblichen Gymnasiastensprachen gesellte sich Ägyptisch… Ich wollte die Organisation der Menschheit auf Grund der Sprache enträtseln, und komischerweise studierte ich alles Philologische mit einem zelotischen Fanatismus und einer Ehrfurcht, als sei diese Art Sprachwissenschaft der Weg ins Heiligtum. Der tiefste Respekt für die deutsche Universität war mir selbstverständlich… Zum Glück für mich verliebte ich mich aber auch zum ersten Mal in dem gleichen Jahr 1902 und begann Gedichte zu machen. Durch viele Jahre trug ich nun immer das Reclambändchen mit den Hölderlinschen Werken bei mir. Und Nietzsche, Goethe, Homer, Schiller, Lessing, Pindar, am Ende des Jahrzehntes aber Chesterton, bauten ein echteres Reich der Sprache neben dem philologischen des Böckh, Niebuhr, Grimm, Bopp, Ermann, Brugmann auf.“ 1

Wer sich so für Sprache begeisterte, musste sich im damaligen Deutschland eigentlich für ein Studium der klassischen Philologie entscheiden. Sein Vater hielt das aber für keine gute Idee und brachte ihn dazu, Jura zu studieren. Das tat der 18jährige Rosenstock mit atemberaubender Geschwindigkeit! Nach 6 Semestern Studium, mit 21 Jahren, macht er seinen ersten Doktor in Heidelberg. Mit 24 Jahren unterrichtete er bereits Verfassungsrecht und Rechtsgeschichte an der Universität in Leipzig. Damit war er der jüngste Privatdozent Deutschlands. 1912 erschien seine Habilitationsschrift: „Ostfalens Rechtsliteratur unter Friedrich II.“, 1914 folgte ein zweites Buch, das ihm 1923 den zweiten Doktortitel brachte und ihn endgültig in die erste Reihe der Rechtshistoriker katapultierte: „Königshaus und Stämme in Deutschland von 1014 bis 1250“.

Schon hier sticht das das Tempo ins Auge, mit dem er die normalen Bildungs- und Ausbildungswege absolviert. Immer wieder fällt, wenn von Rosenstock die Rede ist, das Wort vom „Vulkan“. Er bewegte sich sein Leben lang außerhalb, besser: jenseits der Erwartungen und Normen des gewöhnlichen Universitäts- und Wissenschaftsbetriebs. Nicht, weil er ihnen selbst nicht genügt hätte. Im Gegenteil! Er ist ihnen besser gerecht geworden als die meisten um ihn herum. Er war schnell, anspruchsvoll und ungeduldig, ungeduldig mit sich selbst, aber auch mit seinen Gesprächspartnern. Er litt darunter, dass andere weniger schnell begriffen als er. Er litt unter dem beschränkten Horizont seiner Kollegen, unter ihrem Fachidiotentum. Je älter er wird, desto größer wird diese Ungeduld und desto deutlicher artikuliert er sie. Sein Werk, vor allem sein Spätwerk, ist voller Beschimpfungen des akademischen Betriebes - in Deutschland und den USA.

Ich glaube, dass die mangelnde Bekanntheit seines Werkes auch damit zu tun hat, dass jeder akademische Leser sich durch Dutzende von Seiten hindurchfressen muss, auf denen ihm der Autor schonungslos klar macht, dass er und die gesamte wissenschaftliche Zunft von der Welt nichts, aber auch gar nichts verstanden haben.

Mit 18 Jahren fällt Rosenstock eine zweite Entscheidung, die sein weiteres Leben nachhaltig prägen sollte: Er lässt sich evangelisch taufen. Wenn ich es richtig verstehe – die Quellenlage ist dünn-, stand dahinter kein klassisches Bekehrungserlebnis, sondern eher die langsam gewachsene Einsicht, dass das Judentum für das eigene Leben keine prägende Kraft mehr hatte, dass er in jeder Hinsicht, auch religiös, Teil der christlich geprägten deutschen Gesellschaft geworden war. In den nächsten Jahren sollte diese Entscheidung für Eugen Rosenstock allerdings eine immer grundsätzlichere Bedeutung gewinnen. In seinem Freundeskreis, zu dem viele brillante junge Männer mit jüdischen Wurzeln gehörten, wurden Religionsfragen mit großer Leidenschaft diskutiert.

In gänzlicher Abkehr vom philosophischen Zeitgeist, der neukantianisch geprägt war, rückten der Glaube und die Sprache in den Mittelpunkt ihres Denkens. Sie wollten die Religion nicht länger auf Ethik und Gefühl zu reduzieren, wie es dem philosophischen Mainstream der damaligen Zeit entsprach. Diesen jungen Menschen war klar, dass es ohne die Energien von Glauben und Gebet keinen geschichtlichen Fortschritt gegeben hätte und geben wird. Ihr Denken kreiste um Geschichte, Fortschritt und Veränderung. Sie waren keine Hegelianer mehr. Aber es ging ihnen, wie Hegel und Schelling, um den geschichtlichen Gesamtprozess.

Wenn man heute die Briefwechsel der damaligen Jahre studiert, ist man beschämt von dem Niveau, auf dem diese 25jährigen „jungen Wilden“ damals diskutiert haben. Manche ihrer Briefe sind zu Klassikern geworden und werden bis heute von Theologen und Religionshistorikern ehrfürchtig gelesen, ausgewertet und kommentiert. Am 7. Juli 1913 kommt es zum sogenannten „Leipziger Nachtgespräch“ zwischen Eugen Rosenstock und seinen Freunden Franz Rosenzweig und Hans Ehrenberg. Dieses nächtliche Gespräch, in dem Eugen Rosenstock seinen Freund Rosenzweig bedrängt, seinem Vorbild zu folgen und sich ebenfalls taufen zu lassen, gilt heute als Auftakt eines der spannendsten Kapitels des jüdisch-christlichen Dialogs.

Franz Rosenzweig folgt diesem Vorbild nicht! Stattdessen beginnt er, sich ernsthaft mit seinen jüdischen Wurzeln zu beschäftigen, schreibt in engem Austausch mit Eugen Rosenstock und dessen Frau Margrit sein berühmtes Buch „Der Stern der Erlösung“ und wird zu einem der einflussreichsten jüdischen Philosophen des 20. Jahrhunderts.

Den Ersten Weltkrieg erlebte Eugen Rosenstock als Artillerie-Offizier an der Westfront. 18 Monate verbringt er vor Verdun. Kurz vor Ausbruch des Krieges hatte er eine junge Schweizerin geheiratet, Margrit Hüssy, die er in Florenz kennengelernt hatte. Er erlebt diesen Krieg als tiefen Einschnitt. Für ihn ist das alte Europa ans Ende gekommen, ein neues Zeitalter zieht herauf.

Viele lebten damals im Gefühl eines tiefen Epochenbruches. Aber nur wenige haben daraus so radikale Schlussfolgerungen gezogen wie Eugen Rosenstock! Als er aus dem Krieg heimkehrt, war ihm klar, dass die Zeit des europäischen Nationalstaates vorüber war. Er erkannte, dass mit der russischen Revolution und dem Kriegseintritt der USA Europa seine zentrale Stellung verloren hatte. In einem visionären Buch, das 1931 erschien, aber in seinen Grundzügen 1916 an der Front entstand, entwarf er ein neues Bild der europäischen Geschichte der letzten 1.000 Jahre. Er sah sie nicht mehr aus der Perspektive eines einzelnen Nationalstaates, sondern als Abfolge von Revolutionen, in denen sich die geistigen und sozialen Grundstrukturen der großen europäischen Nationen herausgebildet und gegenseitig befruchtet haben.

Dieses Buch ist so etwas wie das erste „europäische Geschichtsbuch“. Sein Titel: „Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen“. Es wurde sein bekanntestes und – verglichen mit anderen – zugänglichstes Buch. Dazu eine kleine Anekdote. Anfang dieses Jahres kam August Hermann Winkler, einer der bekanntesten noch lebenden deutschen Historiker, bei einem Empfang in der französischen Botschaft auf mich zu: Er habe gehört, dass es im Umfeld von Frank-Walter Steinmeier jemanden gebe, der sich für Rosenstock-Huessy interessiere. Ob ich das sei. Als ich bejahte, vertraute er mir an: Vor kurzem habe ihn jemand gebeten, doch einmal aufzuschreiben, welches Buch ihn am meisten in seinem Leben beeinflusst hätte. Das habe er getan: Es seien Rosenstocks Europäische Revolutionen gewesen.

Rosenstock selber schreibt im Vorwort zu diesem Buch: „Dies Buch entstammt dem Kriege. Damals revoltierte der Kriegsteilnehmer in mir gegen das eigene Geschichtsbild und gegen die Geschichtsbilder der verschiedenen Kriegsparteien… Europa erwirbt durch diesen Krieg Ein Schicksal und Einen Glauben. Die ersten Kriegsjahre haben die alten Gedankengänge, die erblichen Kriegsvorstellungen erschöpft. Seitdem tritt eine Entwicklungsreihe die Führung an, die hinter den Völkerriß von 1648, hinter den Souveränitätsrausch des einzelnen „Staats“, ja hinter die Glaubensspaltung zurückgreift. Diese Spaltung Europas ist heute sinnlos geworden. Die Reiche, Staaten und Völker Europas lassen sich nicht mehr durch den Glauben spalten. Um vorwärts zu leben, müssen wir hinter die Spaltung zurückgreifen.“2

Und vorwärts wollte er leben, mit aller Kraft seiner Existenz! Als er am 8. November 1918 aus dem Lazarett entlassen wurde und auf dem Weg in die Heimat war, erreichten ihn drei verlockende Angebote. Der angehende Innenminister Rudolf Breitscheid, der unter ihm als Soldat gedient hatte, bot ihm an, Unterstaatssekretär in der neuen, sozialdemokratisch geführten Regierung zu werden. Er wollte, dass Rosenstock ihn bei der Erarbeitung der Weimarer Verfassung unterstütze. Der bekannte Publizist Carl Muth, Herausgeber der liberalen katholischen Zeitschrift „Hochland“, bot ihm an, für ihn zu arbeiten. Niemand habe wie er die Zeichen der Zeit erkannt. Und er hatte das Angebot der Universität Leipzig, dort seine glänzend begonnene akademische Karriere fortzusetzen.

Aber er wollte nicht zurück! Nicht in den Staatsdienst, nicht in den Kirchendienst, nicht an die Universität! Er wollte auch beruflich in neue Räume vorstoßen, dahin, wo die ungelösten gesellschaftlichen Konflikte aufeinanderprallen, dahin, wo Neues gedacht wird und praktisch geschieht, dahin, wo man die Wunden der Weltkriegskrise heilen kann. In den Jahren bis 1933 wird Rosenstock eine der prägenden Gestalten der in Deutschland neu entstehenden Erwachsenenbildung. Sein Ruf strahlt weit ins Ausland aus, Anfang der 30er Jahre ist er Vizepräsident des Weltbundes für Erwachsenenbildung. Allerdings hat Erwachsenenbildung für ihn nichts mit Klassenzimmer oder Hörsaal zu tun! Erwachsenenbildung, wie Rosenstock sie versteht, ist politische Vorfeldarbeit par excellence. Sie schafft Räume, in denen Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, aufrechten Gang, Mut und Verantwortung lernen können. Sie sucht nach einer gemeinsamen Sprache, um gesellschaftliche Probleme zu lösen. Ihr Ziel war – damals - die Überwindung der tiefen Spaltung, unter der das Weimarer Deutschland litt. Erwachsenenbildung im Rosenstockschen Sinne war, in heutigen Worten, der Versuch, der Weimarer Demokratie die Demokraten heranzubilden, an deren Fehlen sie am Ende kläglich zugrunde gegangen ist.

In vielen Bereichen stößt Rosenstock auf gesellschaftliches Neuland vor. Sein besonderes Augenmerk gilt der Lage der Industriearbeiter. 1919 gründet er bei Daimler in Untertürkheim die erste deutsche Werkszeitung. Zwei Jahre lang ist er ihr Herausgeber. Anschließend wechselt er als erster Leiter an die Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main. Er schreibt bis heute lesenswerte Bücher über Arbeitsrecht und Betriebssoziologie. In Untertürkheim und in Frankfurt kollidiert sein reform- und bildungsorientierter Ansatz mit den Vorstellungen linksradikal-kommunistischer Strömungen. Nach nicht einmal einem Jahr verlässt er die Akademie der Arbeit im Streit - und steht mit seiner Frau und seinem gerade geborenen Sohn Hans vor dem beruflichen Nichts.

In dieser Situation ereilt ihn 1923 ein Ruf an die Universität Breslau als ordentlicher Professor für Rechtsgeschichte. Also doch Universität! Rosenstock versucht, das Beste daraus zu machen! Neben seinen Vorlesungen setzt er seine umfangreiche publizistische Tätigkeit fort, zur Soziologie, zur Rechts- und Kirchengeschichte. Der Vulkan war erneut aktiv und spuckte Aufsatz um Aufsatz, Buch um Buch heraus. Rosenstock, der 1925 den Namen seiner Frau hinzugenommen hatte und sich jetzt Rosenstock-Huessy nannte, erwarb sich in den Ruf, einer der originellsten bildungspolitischen Vordenker seiner Zeit zu sein.

Dort in Breslau kreuzt sich sein Lebensweg zum ersten Mal mit Kreisau!3 Helmuth James von Moltke war sein Student, aber ihre Beziehung ging schon früh über das Lehrer-Schüler-Verhältnis hinaus. Der 20jährige Jurastudent und sein doppelt so alter Professor begeben sich auf ein gemeinsames sozialpolitisches Abenteuer, das in ganz Deutschland verfolgt und nachgeahmt wird: Etwa 30 Kilometer von hier beginnt das frühere Waldenburger Industriegebiet. Es war in der Mitte der 20er Jahre die am dichtesten besiedelte Region Deutschlands. Pro Quadratmeter lebten hier doppelt so viele Einwohner wie im Ruhrgebiet. Und das unter elenden Verhältnissen: prekäre Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit, hohe Kindersterblichkeit, zerfallende Familien, Kindesmissbrauch! Ein Freund Helmuth James von Moltkes, der Sozialdemokrat Karl Ohle, hatte im Herbst 1927 eine schonungslose Analyse der Situation in der Waldenburger Gegend verfasst. Und der junge Graf beschloss, selbst etwas zur Verbesserung der Lage zu tun. Mit seinem Motorrad fuhr er durch die Gegend, um für eine konzertierte Aktion zugunsten des Waldenburger Gebiets zu werben. Das, was er schuf, changierte zwischen einer konzertierten Aktion und einer Bürgerinitiative. Damals gab es noch keinen Namen dafür.

Ins Leben gerufen wurde diese Initiative vor 83 Jahren, am 18. September 1927, hier in Kreisau. Einer der Unterstützer der ersten Stunde war Eugen Rosenstock! Und er war es, der für diese Initiative eine Arbeitsform entwickelte, die in Deutschland und darüber hinaus Schule machen sollte: das Work Camp. Der Name, den man damals verwendete, war natürlich nicht englisch. Man sprach von „Arbeitslagern für Arbeiter, Bauern und Studenten“. Aber dieser Begriff „Arbeitslager“ ist von den Nazis so verhunzt worden, dass man ihn heute kaum noch verwenden kann. Die Rosenstocksche Grundidee aber war ebenso einfach wie revolutionär: Statt übereinander zu reden, sollten die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten anfangen, miteinander zu reden. Und damit das Ganze nicht kopflastig wird, damit auch der Arbeiter ein gleichberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft wird, sollte nicht nur gemeinsam diskutiert, sondern auch gemeinsam gearbeitet, gekocht und gelebt werden.

Helmuth James von Moltkes Mutter Dorothy beschreibt das, zugegebenermaßen mit leicht gutsherrlich-snobistischem Unterton, wie folgt: “Unser Löwenberger Ausflug war ein großer Erfolg. Meinungen aller Schattierungen waren vertreten, vom Großgrundbesitzer bis zum Kommunisten. Und alle mußten ihre Meinung frei äußern, was sie auch taten; so kam sozusagen eine freundliche Opposition zustande. Helmuth saß beim Essen neben einem Arbeiter, einem enthusiastischen sozialistischen Gewerkschaftler von den Zeisswerken in Jena, und sie vertrugen sich so gut, daß der Arbeiter ihm schließlich ein Buch über den Gründer der Zeisswerke mit einer netten kleinen Widmung schenkte. Alle waren dort gleich (keine Titel wie Herr Professor oder Herr Bischof usw., die die Deutschen doch so lieben). Alle Meinungen sollten zum Ausdruck kommen, alle gleich stark.”

Das erste dieser Work Camps fand vom 14. März bis zum 1. April 1928 in Löwenberg, heute Lwówek Śląski, statt. Zwei weitere folgten. Und diese Work Camps begründeten eine bis heute reichende Tradition! Binnen kurzem wurden fast überall in Deutschland ähnliche Initiativen ins Leben gerufen. Keine aber sollte so weitreichende Folgen haben wie die Löwenberger Lager. Wenn man sich die Liste der Teilnehmer und Sympathisanten anschaut, findet man viele Namen, denen man später im Kreisauer Kreis wieder begegnet: Peter Graf Yorck von Wartenburg, Adolf Reichwein, Carl Dietrich von Trotha, Horst von Einsiedel, Hans Peters, Theodor Steltzer.

Die Geschichte des Kreisauer Kreises nimmt hier ihren Anfang. Schon damals tritt das Charakteristikum hervor, das ihn von anderen Widerstandsgruppen unterscheidet. Anders als andere Gruppen, die entweder konservativ, sozialdemokratisch oder marxistisch geprägt waren, war der Kreisauer Kreis integrativ. Er wollte von Anfang an Vertreter des Adels, Bürgerliche, Sozialdemokraten, Protestanten und Katholiken zusammenbringen. Die Kreisauer wollten vermeiden, woran die Weimarer Republik zugrunde gegangen war: ein Mangel an gesamtgesellschaftlicher Verantwortung, an Solidarität, das Fehlen eines demokratischen Grundkonsenses.

Mit Blick auf die Löwenberger Lager und seine damalige Rolle hat man später Rosenstock- Huessy als „Erzvater des Kreisauer Kreises“ bezeichnet. Er selbst hat das gern als Ehrentitel für sich in Anspruch genommen und seinerseits betont, dass es nur Männer wie Helmuth James von Moltke waren, die Deutschland einen Neuanfang ermöglicht haben, die verhindert haben, dass der Morgenthau-Plan umgesetzt wird.

Die Turbulenzen der Weltwirtschaftskrise machten den Löwenberger Bemühungen zunächst ein Ende. Helmuth James von Moltke wurde im Oktober 1929 zum Generalbevollmächtigten des heruntergewirtschafteten Gutes Kreisau ernannt. Damit fiel er als spiritus rector mehr oder minder aus. Rosenstock veröffentlichte 1931 gemeinsam mit Carl Dietrich von Trotha einen abschließenden Bericht über die Löwenberger Arbeitslager. Im gleichen Jahr erschienen seine „Europäischen Revolutionen“.

Die Weimarer Republik in all ihrer faszinierenden Widersprüchlichkeit ging ihrem Ende zu. Wenige Menschen hatten ein so gutes Gespür dafür wie Eugen Rosenstock. Nach dem 2. Weltkrieg sagte er in einem Interview: „Als der Krieg 1918 zu Ende ging, da habe ich nicht nur gesehen, daß der Krieg verloren war, sondern daß Europas Vorherrschaft in der Welt zu Ende sei und daß Deutschland seinen staatlichen und souveränen Machtanspruch verloren habe…Ich habe Hitler heraufkommen sehen und habe schon 1919 gedruckt und ausgesprochen, daß wir versuchen müßten, ihn zu überleben… Ich dachte 1919 freilich nicht, daß ich ein Recht hätte, aus dem besiegten Deutschland herauszugehen. Ich habe sozusagen die Totenwache gehalten

und habe gedacht, da ich das Land sehr liebte und sein Soldat und sein Lehrer gewesen war, ich müßte, solange es irgend ging, aushalten und die Zukunft vorbereiten.“4

Zwei Tage nach Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933 zog Rosenstock-Huessy für sich und seine Familie die Konsequenz. Die Totenwache war zu Ende. Er war – zusammen mit der Weimarer Republik – gescheitert und heimatlos. - Rosenstock-Huessy sagte am Tag nach der Machtergreifung all seine Lehrveranstaltung ab, ließ sich beurlauben und bereitete seine definitive Ausreise vor. Am 9. November verließ er Deutschland in Richtung USA. Er kannte dort niemanden, sein einziger Kontakt war ein Professor aus Harvard, der sich einige Jahre vorher für die Löwenberger Lager interessiert und ihn in Schlesien besucht hatte. Der verschaffte ihm eine Einladung und sorgte dafür, dass er als Gastprofessor an Harvard unterrichten konnte.

Aus der Gastprofessur wurde eine reguläre Professur. 1935 wechselte er an das Dartmouth College in New Hampshire, wo er bis zu seiner Emeritierung lehrte. Er legte später großen Wert darauf, dass er kein Emigrant, sondern ein Auswanderer war. Er ging freiwillig, und er fand in den USA eine neue Heimat und einen neuen Wirkungskreis. Auch in den USA beschränkte sich Rosenstock-Huessy nicht auf seine akademische Lehrtätigkeit. Schnell entwickelte sich ein umfangreicher Freundes- und Bekanntenkreis, zu denen unter anderem auch der bekannte Philosoph Alfred North Whitehead gehörte. Über seine Frau Eleonore hörte Präsident Roosevelt von Rosenstock-Huessy. Er beauftragt ihn, für das im Rahmen des New Deal entstandene Civilian Conservation Corps (CCC) junge Führungskräfte auszubilden.

Nach dem Vorbild der Löwenberger Arbeitslager brachte Rosenstock im „Camp William James“ in Vermont Studenten aus amerikanischen Eliteuniversitäten zusammen mit jungen Arbeitern und Arbeitslosen. Wieder ging es darum, durch gemeinsames Arbeiten und Lernen zu gemeinsamer Sprache und gemeinsamer Verantwortung zu finden. Camp William James bestand nur ein Jahr, von 1940 bis zum Kriegseintritt der USA im Jahr 1941.5 Seine Wirkung aber war nachhaltig. Viele Teilnehmer wurden für ihr Leben geprägt. Einer von ihnen sagte später: „He (Rosenstock-Huessy) made us brothers, as if we had known each other for ever.“6

Und diese Prägung machte Schule! Camp William James gehört zusammen mit den Löwenberger Arbeitslagern zu den unmittelbaren Vorläufern aller modernen Freiwilligen- und Friedensdienste. Als Präsident Kennedy 1961 das „Peace Corps“ und damit den ersten großen internationalen Freiwilligendienst ins Leben rief, stand Camp William James Pate.

Die Geschichte wird jetzt immer dichter, gleichzeitig wird die Zeit knapp. Deshalb müssen wir uns jetzt in Sprüngen vorwärts bewegen. Wer Genaueres wissen will: Frauke Geyken, auf deren Freya-von-Moltke-Buch ich mich in Teilen stütze, und Helmuth Caspar von Moltke als unmittelbarer Zeitzeuge sitzen ja hier unter uns.

Erster Sprung: 1946, Norwich, Vermont. Freya von Moltke bereist die USA, um über den deutschen Widerstand zu berichten. Auf dem Programm: Ein kurzer Besuch bei Eugen Rosenstock-Huessy. Danach einige Briefe, jetzt im vertraulichen Du. Es geht um die Vermittlung des Erbes des deutschen Widerstandes in der Adenauerzeit, in einer Gesellschaft, die davon eigentlich nichts wissen will.

Zweiter Sprung: Juni 1956, Evangelische Akademie, West-Berlin. Rosenstock-Huessy ist auf Einladung der Bundesregierung in Deutschland, hält Vorträge in verschiedenen Städten. Freya hört ihn – und eine große Liebe beginnt. Wer sich dafür im Einzelnen interessiert, dem empfehle ich Frauke Geykens Buch. Hier nur einige Sätze aus einem Brief Freyas an Eugen. Sie berichtet darin über eine Tagung zum deutschen Widerstand, auf der sie geredet hat: „Es gelang mir Helmuth zu landen, aber es bleibt mir noch dich zu landen – denn es ist wirklich wahr: nur dank Deiner vermag ich Helmuth recht zu landen – ohne Dich bleibt er in der Vergangenheit stehen, mit Dir geht er in die Zukunft.“[^7]

Das ist die Quintessenz dessen, was ich vor 25 Jahren selbst erlebt habe! Das ist die Quintessenz dessen, was ich Ihnen heute vermitteln will!

Ohne Eugen Rosenstock-Huessy wäre Kreisau auch für mich Vergangenheit geblieben: ein Teil der deutschen Geschichte, für den man sich nicht schämen muss, honorig, nobel, geeignet für Reden am 17. Juni und am Volkstrauertag. Bestenfalls eine Erinnerungsplakette an diesem Schloss. Aber kein neues Leben, keine Zukunft.

Am 1. September 1959 starb Margrit Huessy. Anfang September 1960 zog Freya von Moltke in Eugens Haus in Norwich/Vermont, wo sie die nächsten 49 Jahre leben sollte.

Am 24. Februar 1973 starb Rosenstock-Huessy nach einer erfüllten gemeinsamen Zeit. Bis zu ihrem eigenen Tod hat Freya von Moltke nicht nur die Erinnerung an Kreisau wachgehalten. Über viele Jahre hat sie den Nachlass Eugen Rosenstock-Huessys geordnet, seine umfangreiche Korrespondenz rekonstruiert, kurzum: die Voraussetzung geschaffen, nicht nur Helmuth James „zu landen“, sondern auch ihre zweite große Liebe, Eugen Rosenstock.

Dritter Sprung: 1958, wieder Evangelische Akademie, West-Berlin7. Die Besetzung ist eine andere. Wir sehen ihren Gründer und Leiter, Erich Müller-Gangloff, Freund Rosenstock-Huessys, Weggefährte Gustav Heinemanns und einer der geistigen Väter der Entspannungspolitik. Neben ihm sitzt Lothar Kreyssig. Gegenstand der Tagung: die Gründung der „Aktion Sühnezeichen“, die viele ihrer Grundideen Eugen Rosenstock-Huessy verdankt.

Als ich 1986 überlege, auf welchem Weg wir die Kreisau-Idee verwirklichen können, komme ich auf die „Aktion Sühnezeichen“. Zwei Jahre lang leite ich in der DDR internationale Sommerlager, deren frühes Vorbild Löwenberg war.

Vierter Sprung: 1964, Magdeburg/Berlin8. Günter Särchen, ein ostdeutscher Katholik, bereitet mit Lothar Kreyssig die erste Pilgerreise nach Polen vor. Die SED verhindert die Ausreise. Erst 1965 reisen erste Freiwillige der Aktion Sühnezeichen nach Auschwitz und Majdanek, um in den ehemaligen Konzentrationslagern zu arbeiten. 1990 sagt Günter zu uns Neu-Kreisauern: Ihr seid meine Töchter und Söhne. Ihr setzt meine Arbeit fort. 1991 hält der polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki in Berlin eine Rede zu Europa und dem deutsch-polnischen Verhältnis, in der er zwei Männer namentlich erwähnt: Lothar Kreyssig und Günter Särchen.

Fünfter Sprung: Januar 1970, Ost-Berlin. Am U-Bahnhof Alexanderplatz wird der Enkel Eugen Rosenstocks, der 22jährige Mark Huessy, von der Stasi festgenommen. Die Anklage lautet auf Spionage. Achtzehn Monate verbringt er in den Gefängnissen Hohenschönhausen und Rummelsburg. Danach wird er ebenso plötzlich freigelassen, wie er festgenommen wurde. Seit Mitte der 80er Jahre sorgt er mit seiner Frau Francis und Freya dafür, dass Schriften und Nachlass Rosenstock-Huessys zugänglich gemacht werden. Beim neuen Kreisau ist er von Anfang an dabei. Er ist in den ersten Jahren nach 1989 ist er nicht nur für mich wichtigster Sparrings-Partner und Weggefährte. Kein Neu-Kreisauer hat so viel Lebensenergie in dieses Projekt investiert wie er. Wenn es einen Träger des Rosenstockschen Geistes in Kreisau gibt, dann ist es – bis auf den heutigen Tag - Mark.

Sechster Sprung, 1972, Haarlem, Niederlande. Vier Ehepaare gründen das Rosenstock-Huessy- Haus. Inspiriert von Rosenstock-Huessy, wollen sie neue Lebensformen ausprobieren und Menschen am Rande der Gesellschaft helfen. Zwei von ihnen, Wim Leenman und seine Frau Lien, sind beim neuen Kreisau von Anfang an mit dabei. Sie organisieren am Berghaus die ersten internationalen Zeltlager. Die starke niederländische Präsenz ist ein Garant dafür, dass Kreisau von Anfang nicht als deutsch-polnisches, sondern als europäisches Projekt wahrgenommen wird.

Siebenter Sprung: 1985, Ost-Berlin. Günter Särchen organisiert gemeinsam mit dem vor wenigen Wochen verstorbenen DDR-Bürgerrechtler Ludwig Mehlhorn das erste Anna-Morawska- Seminar. Es geht um echte Versöhnungsarbeit mit Polen, jenseits der von oben verordneten Freundschaft. Im Blickpunkt steht aber nicht mehr nur die Vergangenheit, sondern die gemeinsame Zukunft: Menschenrechte, Demokratie und die Überwindung der Teilung Europas. Ludwig verdanke ich die entscheidenden Hinweise, wie man das Projekt Kreisau auf die Bahn bringen kann: den Weg über den KIK, das Anna-Morawska-Seminar. Das heutige Gedenkstätten-Konzept in Kreisau stammt von ihm.

Achter Sprung: 1988, Dartmouth College, New Hampshire. Mein verehrter Lehrer Wolfgang Ullmann stellt bei einer Tagung zum 100. Geburtstag von Eugen Rosenstock-Huessy unsere Ideen für ein neues Kreisau vor. Die Familie Moltke beschließt, dass Mark Huessy Kontakt mit Ost-Berlin und Polen aufnehmen soll. Ich erinnere mich, wie 1989, als ich in Breslau mit Michał Czaplinski über Kreisau redete, das Telefon schellte. Ein Anruf aus Amerika. Am Apparat Mark Huessy. Wenn es noch eines Arguments bedurft hätte, dass Kreisau kein Trojanisches Pferd der Deutschen war – spätestens an diesem Abend war Michal überzeugt.

Neunter Sprung: 1989ff. Kreisau: Alles, was ich eben schlaglichtartig beschrieben habe, fügt sich zusammen. Und es passt! Die Vorsitzende des Breslauer KIK, Ewa Unger, Freya von Moltke, Wolfgang Ullmann, Mark Huessy, Michał Czaplinski, Günter Särchen, Ludwig Mehlhorn, Wim Leenman aus Haarlem und viele andere Menschen, die mit Kreisau und Eugen Rosenstock- Huessy verbunden sind. Wir alle gründen eine internationale Bürgerinitiative, sozusagen Löwenberg II. Sie alle gehören heute dazu!

Das ist Geschichte. Aber ich wäre ein schlechter Rosenstock-Leser, wenn ich mich darauf beschränken würde, Ihnen nur diese Geschichte zu erzählen. Wer Rosenstock liest, bekommt permanent die Frage gestellt: Was bedeutet das für dich? Was bedeutet das für unsere gemeinsame Zukunft?

Und so kann ich nicht anders, als Ihnen zum Abschluss zu erzählen, wo ich heute unsere wichtigste Aufgabe sehen. Am letzten Samstag erschien in der Berliner Zeitung der Text eines jungen deutsch-indischen Autors mit Namen Rana Deep Islam. Sein Titel war: „Mach ́s gut, Europa“.9 Er beschreibt darin, wie er sich als junger Deutscher mit Migrationshintergrund für Europa begeistert hat. Er hat einen Master in Brügge gemacht, in Brüssel für einen Europaabgeordneten gearbeitet. Seine Erfahrung fasst er so zusammen: „ Die EU erschien mir immer mehr wie ein großes schwarzes Loch. Einmal hineingefallen, fiel es immer schwerer, sich daran zu erinnern, wofür dieser ganze Behördenapparat eigentlich gegründet wurde.“ Und er leidet heute unter dem Rechtsruck in Europa, den wahren Finnen, den Orbans, den Berlusconis. An der Unfähigkeit Europa, dem etwas Leidenschaftliches entgegen zu setzen.

Derzeit ist er an der John Hopkins University in Washington, Fellow des DAAD, schreibt an seiner Dissertation. Aber Europa ist für ihn Vergangenheit. In seinen eigenen Worten: „Der Europagedanke, dem ich lange Zeit gefolgt bin, ist verblasst zu einer abstrakten Idee, von der ich mich emotional längst verabschiedet habe. Das ist zwar schade, aber: Europa, ich werde dich in guter Erinnerung behalten.“

Für mich ist Europa mehr als eine gute Erinnerung. Für mich bleibt es Zukunft. Gerade wegen und mit Eugen Rosenstock! Das neue Kreisau war für mich vor 23 Jahren der Ort, wo die Spaltung zwischen West- und Osteuropa geheilt werden kann. Heute muss unser Horizont größer sein! Deshalb ein kühner Wunsch am Schluss: Ich würde mir wünschen, dass Kreisau ein Ort wird, an dem Rana Deep Islam seinen Glauben an Europa wiederfinden kann!

Vielen Dank!

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Vortrag von Stephan Steinlein auf der Stifterfahrt der „Freya von Moltke-Stiftung für das Neue Kreisau“ am 3. Juni 2011 in Krzyzowa/Kreisau

  1. Eugen Rosenstock-Huessy, Ja und Nein. Autobiographische Fragmente, Heidelberg 1968, S. 60f. 

  2. Rosenstock-Huessy, Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, Moers 1987, S. XVII 

  3. Vgl. zum Folgenden Jochen Köhler, Helmuth James von Moltke. Geschichte einer Kindheit und Jugend, Reinbek 2008, S. 201ff. 

  4. Rosenstock-Huessy, Ja und Nein, S. 130 

  5. http://en.wikipedia.org/wiki/Camp_William_James 

  6. Andreas Möckel, Erwachsenenbildung und „Dienst auf dem Planeten” bei Eugen Rosenstock-Huessy, Vortrag auf der ersten Kreisau-Tagung vom 2.-4. Juni 1989 in Breslau 

  7. vgl. zum Folgenden Konrad Weiß, Lothar Kreyssig. Prophet der Versöhnung, Gerlingen 1998, S. 339ff. 

  8. Konrad Weiß, Kreyssig, S. 375ff. 

  9. Berliner Zeitung vom 28. 5. 2011 ( https://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/politik/345827/345828.php)