Sven Bergmann: Die Wiederkehr der Stämme
Bausteine einer „Ökonomie“ der Menschenheit
Erst kürzlich sind erneut beeindruckende Werke zu ethnographischen Themen erschienen: Charles King widmet sich dem weit vernetzten Schülerkreis von Franz Boas. Karl-Heinz Kohl und Klaus Theweleit legen je eine altersweise Quintessenz ihres Arbeitsfeldes vor. Alle Werke sind klar strukturiert und bieten auch für Laien spannende und lehrreiche Einblicke in ihre Forschungen. Karl-Heinz Kohl hat neun Stämme verschiedener Kontinente, Kulturkreise und Zeiten ausgewählt, um charakteristische Merkmale einzelner Stämme vorzustellen. Schon klassisch ist der Fall der Irokesen, deren beratende Demokratie schon Lewis Henry Morgan fasziniert hatte, dessen Studien von Karl Marx und Friedrich Engels aufgegriffen wurden. Für jeden der neuen Fälle trägt er zusammen, wie die Geschichte des Stammes überhaupt überliefert und erforscht wurde sowie welches Echo die jeweilige Entdeckung im westlichen Kulturkreis hatte. In der Vergangenheit waren es vor allem die zuhörenden, zugewandten, emphatischen Forscher, die wesentliche Erkenntnisse über die Stammeskulturen sammeln konnten. Zum Teil waren die ersten Kontakte der Stämme mit Eroberern oder Forschern aus dem Westen friedlich, zum Teil brutal; immer aber war die Spannung zwischen den, aus europäischer Sicht exotischen Ritualen und Gewohnheiten und der durch starre bürgerliche Konventionen geprägten westlichen Gesellschaften produktiv. Vieles ist nur überliefert, weil Menschen bereit waren, Lebenszeit mit einem Stamm zu teilen. Die ersten Aufzeichnungen sind meist subjektiv, unreflektiert und mit einigem zeitlichen Abstand verfaßt. Später kommen Ton- und Filmaufnahmen, etwa vom Schlangenritual der Hopi hinzu, das zu einer Touristentattraktion des gehobenen Bürgertums mutierte. Die soziologische Methode des Interviews zog mit Margaret Mead erst im frühen 20. Jahrhundert in die Forschung ein. Wurden Stammeskulturen anfangs noch statisch dem so umtriebigen Westen entgegengestellt, war es eine Erkenntnis der ethnographischen Kontroversen der Moderne, daß auch die Stämme oder vielleicht sogar gerade die Stämme immer wieder existentiellen Verwandlungsprozessen unterlagen und unsere Überlieferung nur einen ganz kleinen Teil der Wirklichkeit aufdecken kann.
Der Gang hub an beim vorgeschichtlichen Stamm, bei einer kleinen Gruppe rasender und erschreckter, schreiender und hüpfender Menschen, die sich ein Herz faßten, sprachen und tanzten, und so von Schrecken, Geschrei und Rennen zu einer geistgetriebenen Ordnung des Lebens fortschritten. Sie stellten einander unter Verben, Pronomina, Namen und Zahlen. Die Sprache machte sie menschlich, sie bekleidete sie und erfüllte sie mit Kraft als Kinder des Menschen, als Vernehmer der Geister ihrer Toten, als Vorfahren und Nachfahren. Ihre Zeiten wurden ihnen eingeätzt. So wußten sie, in welche Zeit sie gehörten.1
Die dritte Perspektive, die Kohl in das Gespräch einbezieht, ist das Echo der Stämme und ihrer „Produkte“ in den westlichen Gesellschaften, insbesondere in der künstlerischen Avantgarde. Das Spektrum reicht von den unappetitlichen Menschenschauen um die Jahrhundertwende bis zum Surrealismus, für den die Stämme ein tieferes, ehrlicheres Menschentum verkörperten, als der korrumpierte obsessive Westen, ganz in der Nachfolge Rousseaus. Die Südseebegeisterung der Brücke, des Expressionismus oder des Kubismus wären zu ergänzen. Die für das 20. Jahrhundert so revolutionäre Komposition des „Rite of Spring“ von Igor Stravinsky ist ohne seinen Austausch mit dem Ethnologen Nicolas Roerich undenkbar. Auch hier katapultierte der Erste Weltkrieg mit seinen „exotischen“ Kolonialtruppen auf verschiedenen Schlachtfeldern das Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne auf eine ganz neue Ebene. Und natürlich spielte sexuelle Freizügigkeit im Kontrast zum zugeknöpften Westen immer eine Rolle. Was der Wirklichkeit entsprach oder in die harmonische Stammeswelt hineinprojiziert wurde, wird sich nie mit Sicherheit feststellen lassen. Immerhin hat der Westen seine Überheblichkeit eingebüßt. Und doch muß man feststellen, dass sich das Verhältnis zu den - so sie denn noch existieren - Stämmen generell zum besseren entwickelt hat: Die überhebliche, abwertende Einstellung, die wir im 16. oder 17. Jahrhunderte bis hin zu den Menschenschauen des 19. Jahrhunderts finden können, sind heute nicht mehr denkbar. Fraglich ist allerdings auch, ob hinter den bewahrten Formen der Vergangenheit noch der ursprüngliche teils brutale, schmerzhafte oder streng dem Gruppenverhalten verpflichtete Impetus steckt. Und auch das ist eine Erkenntnis der Ethnographie des 20. Jahrhunderts: Die Vorstellung, dass die Stämme statisch ohne historische Veränderung gelebt hätten ist irrig. Das Leben ist in Bewegung jenseits von Stämmen, Reichen oder Gesellschaften. Schon in einer seiner früheren Veröffentlichung hatte Karl Heinz Kohl betont, daß die Kosmogonie und Mythologie der afrikanischen Dogon der der alten Ägypter, Griechen und Römer und auch Chinas und Indiens in nichts nachstehe.2 Kohl war viele Jahre Direktor des Frobenius Instituts an der Frankfurter Universität und ist einer der besten Kenner der anthropologischen Forschung. 2024 wurde ihm der renommierte Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zuerkannt. Dabei steht er gänzlich über den sterilen Aufgeregtheiten des Tages, die mehr über ihre Protogonistinnen und Propagandisten aussagen, als über die historische Entwicklung. Denn die immer wieder behauptete Überheblichkeit ist dem Westen schon lange abhanden gekommen:
Stellt es nicht ein Hindernis für das wechselseitige Verstehen dar, wenn es nur noch den Angehörigen der eigenen Kultur erlaubt sein soll, über deren Geschichte und gegenwärtige Lebensformen zu forschen? Und betont es nicht gerade den besonderen Wert der eigenen Kultur, wenn ihre künstlerischen Formen weltweit aufgegriffen werden oder eine ganze Gesellschaft sich dazu entschließt, die in der Fremde vorgefundenen demokratischen Institutionen zum Vorbild der eigenen zukünftigen politischen Verfassung zu nehmen, wie dies in den nordmerikanischen Siedlerkolonien des 19. Jahrhunderts geschah?3
Max Weber hatte schon vor einhundert Jahren jegliche Überheblichkeit und Fortschrittseuphorie in die Schranken verwiesen:
Der Fortschritt der gesellschaftlichen Differenzierung und Rationalisierung bedeutet also, wenn auch nicht absolut immer, so im Resultat durchaus normalerweise, ein im ganzen immer weiteres Distanzieren der durch die rationalen Techniker und Ordnungen praktisch Betroffenen von deren rationaler Basis, die ihnen, im ganzen, verborgener zu sein pflegt wie dem „Wilden“ der Sinn der magischen Prozeduren seiner Zauberers. Ganz und gar nicht eine Universalisierung des Wissens um die Bedingtheiten und Zusammenhänge des Gemeinschaftshandelns bewirkt also dessen Rationalisierung, sondern meist das gerade Gegenteil. Der „Wilde“ weiß von den ökonomischen und sozialen Bedingungen seiner eigenen Existenz unendlich viel mehr als der im üblichen Sinn „Zivilisierte“. Und es trifft dabei auch nicht universell zu, daß das Handeln des „Zivilisierten“ durchweg subjektiv zweckrationaler ablaufe. Dies liegt vielmehr für die einzelnen Sphären des Handelns verschieden: ein Problem für sich. Was der Lage des „Zivilisierten“ in dieser Hinsicht ihre spezifisch „rationale“ Note gibt, im Gegensatz zu der des „Wilden“, ist vielmehr: 1. der generell eingelebte Glaube daran, daß die Bedingungen seines Alltagslebens, heißen sie nun: Trambahn oder Luft oder Geld oder Gericht oder Militär oder Medizin, prinzipiell rationalen Wesens, d.h. der rationalen Kenntnis, Schaffung und Kontrolle zugängliche menschliche Artefakte seien, - was für den Charakter des „Einverständnisses“ gewisse gewichtige Konsequenzen hat, - 2. die Zuversicht darauf, daß sie rational, d.h. nach bestimmten Regeln und nicht, wie die Gewalten, welche der Wilde durch seinen Zauberer beeinflussen will, irrational funktionieren, daß man, im Prinzip wenigstens, mit ihnen „rechnen“, ihr Verhalten „kalkulieren“ , sein eigenen Handeln an eindeutigen, durch sie geschaffenen Erwartungen orientieren könne. Und hier liegt das spezifische Interesse des rationalen kapitalistischen „Betriebes“ an „rationalen“ Ordnungen, deren praktisches Funktionieren er in seinen Chancen ebenso berechnen kann wie das einer Maschine. Davon an anderer Stelle.4
Das war auch die Position von Franz Boas und seiner Schule, für die der Begriff des Kulturrelativismus sehr schlüssig angeführt worden ist.
Aber warum sind diese Studien im Zusammenhang von Eugen Rosenstock-Huessy von Interesse? Wie kaum ein anderer Soziologe, Historiker oder Philologe hat er sich mit Stämmen beschäftigt, ohne eine Fährte zu legen oder genauer: ohne zumindest ein adäquate Menge an Fußnoten zu hinterlassen.5 Dreimal hat er seine Bibliothek für das wirkliche Leben geopfert. Wieviele Bücher seine Pferde von Dartmouth nach Four Wells getragen haben, läßt sich nur erahnen. Für die Rekonstruktion dieser Anregungen ist der Überblick von Karl-Heinz Kohl goldwert. Ergänzt er doch die schon bekannten Schriften von Friedrich Engels, Eduard Meyer, Max Weber, Kurt Breysig oder andere dürftige Anmerkungen.6 Der Weg zur Rekonstruktion seiner fiktiven Bibliothek ist noch unabsehbar.
„Im Breysig bin ich jetzt beim Studium des Geschlechterstaates der Irokesen angelangt. Es ist das wirklich eine fesselnde Lektüre! Ich staune immer wieder über die Fülle des verarbeiteten Materials.“7
Neben dem Thema der Revolution tauchen die Stämme in der intellektuellen Biographie von Eugen Rosenstock-Huessy immer wieder auf. In seinem Studium bei dem führenden Berliner Ägyptologen Adolf Erman, in seinen Studien zum Sprachnamen deutsch zwischen „Königshaus und Stämmen“, bei dem Sprache und Religion eine gemeinsame friedensstiftende Klammer zwischen verschiedenen Stämmen in Mitteleuropa bildeten, in den Stämmen der Industrie, in der fundamentalen Bedeutung des Stammes für die Formierung von Familien mit Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Just in seinen Heidelberger Studienjahren wurde von der dortigen Universitätsbuchhandlung Carl Winter die neue ethnologische Zeitschrift „Wörter und Sachen“ verlegt. In deren Vorwort heißt es:
„Nach einer Periode heilsamer Beschränkung der sprachlichen Studien auf die Erforschung der lautlichen Veränderungen scheint die Zeit gekommen zu sein, den Wortbedeutungen, den Sachen, wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Unter Sachen verstehen wir nicht nur die räumliche Gegenstände, sondern ebensowohl Gedanken, Vorstellungen und Institutionen, die in irgendeinem Worte ihren sprachlichen Ausdruck finden. Jede Philologie kann auf einzelne überzeugende Etymologien hinweisen, die aus der Kenntnis der Sachen entsprungen sind. Daß man trotzdem nicht schon längst für alle Etymologie überhaupt das Herbeiziehen der Geschichte der Sachen verlangt hat, ist in dem fast ausschließlichen Interesse begründet, das die letzten Dezennien den „Lautgesetzen“ zuwandten. Diese Beschränkung entspricht nicht den Tatsachen. Mit vielen Anderen sind wir überzeugt, daß Sprachwissenschaft nur ein Teil der Kulturwissenschaft ist, daß die Sprachgeschichte zur Worterklärung der Sachgeschichte bedarf, sowie die Sachgeschichte, wenigstens für die ältesten Zeiten, der Sprachgeschichte nicht entraten kann. Wir glauben, daß in der Vereinigung von Sprachwissenschaft und Sachwissenschaft die Zukunft der Kulturgeschichte liegt.8
Das kann man auch als Programm lesen, dem sich Eugen Rosenstock-Huessy zeitlebens verpflichtet fühlte. In seiner Soziologie, vor allem im dritten Teil seiner Vollzahl der Zeiten unter dem Oberbegriff der “Institutionen”, wird er das Spannungsfeld und die historische Abfolge von Stämmen, Reichen bis hin zur globalen arbeitsteiligen Gesellschaft herausarbeiten, mit der Pointe, dass es im dritten Jahrtausend zu einer Bildung von Stämmen neuer Art kommen werde, von Stämmen, die nicht auf den Rückblick zu einem Ahnen festgenagelt sind, sondern sich vielstimmig zur Zukunft öffnen, zur „Vollzahl der Zeiten“. Deshalb seien hier nur kurz einige Aspekte seiner Typologie der Stämme angedeutet. Denn anders als Karl-Heinz Kohl suchte er das Typische der Stämme zu ergründen. Seine wichtigste Quelle zur Entschlüsselung der Stämme war die Sprache:
„Die Sprache ist die politische Verfassung einer Gruppe über die Lebenszeit und den Lebensraum jedes Individuums, über den common sense und die leiblichen Sinne hinaus.“9
Ohne eine gemeinsame Sprache kann es auch keinen Frieden zwischen menschlichen Gruppen und Verbänden geben:
„Die erste politische Gemeinschaft, der Stamm, wurde auf dem Frieden zwischen Familien errichtet. Die Familien sind Unterteilungen eines Stammes. Keine Familie kann außerhalb des Stammes bestehen. Das Gegengewicht zu dem Frieden der Familie sind die Orgien und Eheklassen des Stammes. Logischerweise geht die „Idee“ des Stammes der Familie voraus. Die herkömmlichen Sätze unserer Bücher, wonach Familien zu Stämmen heranwuchsen, müssen revidiert werden. Familien wachsen nicht zu Stämmen heran, sondern gehen von Stämmen aus.“10
„Dieser common sense bildet sich in einer Familie, einer Friedensgruppe, welche auf Eifersucht, Tyrannei, Rebellion und Mord verzichtet. Er hält die Gruppe im Schatten des Stammschutzes so weit für gesichert, daß er nicht nötig hat, die hohen Worte, Gesänge, Beschwörungen, Gelübde und Formeln zu gebrauchen, welche an den Festtagen des Stammes gesprochen werden. Der common sense verläßt sich auf diesen Hintergrund; während der ganze Stamm sich explizite (formal, genau) erklären muß, kann irgend eine common sense Gruppe implizite (nachlässig, formlos) verfahren.“11
Unter dem Druck der Gräber wird eine neue Sprache geschaffen, die Freundschaft und Feindschaft signalisiert und diese erste Sprache ist die Tätowierung der Haut:
Tätowierung ist aber die erste Schrift der Menschheit. Nomaden tätowieren, weil jeder Krieger die Verfassungsurkunde als eine lebenslängliche Buchausgabe auf sich trägt. Die Bibel eifert gegen diese Ätzrunen und belegt sie mit Todesstrafe. Natürlich, denn die Bibel hat zwei Fronten: gegen Ägypter und Nomadenstämme, gegen Schreiben und Tätowieren. In Kairo aber lebst Du nur, wenn Du den Kampf der Schreiber gegen die Tätowierer nachexerzierst, der Ägypter gegen die Beduinen. Die geheimnisvolle List des Schöpfers erhält jede ältere Stufe inmitten der jüngeren. Die Juden müssen unter den Christen verweilen; sonst werden die meisten Christen unvermerkt zu bloßen Juden, wie es die üblichen Kirchgänger ja sind.12
Aus solchen Überlegungen ergibt sich dann auch die Abfolge und Relevanz bestimmter Kulturen, die ihre Spuren bis in unsere Gegenwart hinterlassen haben. Die Anzahl der Stämme in der Geschichte der Menschheit ist unübersehbar groß. Nur ein winziger Teil ist in Form von bearbeiteten Artefakten, Masken, Idolen, Totempfählen, Booten etc. auf uns gekommen, der Großteil für immer verschwunden. Um zu überleben haben sich Stämme in verschiedenster Form spezialisiert, ja sie waren dazu gezwungen, um gegen Hitze oder Kälte, Trockenheit oder Überschwemmungen, gegenüber Raubtieren oder Naturkatastrophen und schließlich gegenüber anderen Stämmen zu bestehen. Stämme hatten ihre natürlichen Grenzen. Rosenstock-Huessy schätzt die maximal mögliche Population eines Stammes auf wenige tausend Menschen: „So sind meistens höchstens drei- bis fünftausend Zeitgenossen in einem Stamm vereinigt. Aber die Pharaonen haben diese Art der Vereinigung durch eine völlig neue Größenordnung übertroffen. Die Stämme zählten Ahnen, neun Generationen oder höchstens zwölf.“13 „So ein kleiner Stamm ist also eine respektable Großmacht. Seine Macht reicht durch Jahrtausende und über Erdteile. Obgleich er seinen lebenden Gliedern nur 150 oder 200 Jahre und ein paar tausend Quadratmeilen bewußt einprägt und erschließt, existiert er 6000 Jahre und länger; er vermag Asien und die 12 000 Kilometer des Stillen Ozeans zu überqueren.“14 Erst die Reiche haben die Stämme in Quantität und Kraftentfaltung übertroffen. Sie waren in der Lage zur Spezialisierung und sie haben die Sterne vom Himmel auf die Erde geholt. Wie konnte man dazu kommen, Sterngucker über vierhundert, sechshundert, tausend Jahre zu unablässiger, unaufhörlicher, seßhafter Beobachtung von Himmel und Land freizusetzen: „Den Häuptling zeichnet die Ahnenrune auf seiner Haut aus. Den Pharao bezeichnet die Steinrune auf seinem Haus. Sie läßt alle Teile, Bewohner, Mitglieder des Hauses frei verschiebbar gegeneinander. Indem die Schrift auf Stein geritzt wird, befreit sie den Ätzrunenträger, den Krieger, und erlaubt ein Gewimmel von Vielen, Hofstaat, Gefolge, Priester, Soldaten, Ärzte, Baumeister, von Ständen, alle mit unter die in die Steinrunen verewigte Verfassung zu treten. Das, was in den Stein eindringt, scheint nie zu sterben.“15 Und so erklären sich auch einige der Schwerpunkte mit denen sich Eugen Rosenstock-Huessy zeitlebens beschäftigte: den Stämmen, die dem Reich Ägypten vorauslagen und mit dem Volk Israel, daß gegen den Pharao revoltierte, mit dem Griechen, die bahnbrechend für die absichtslose Betrachtung der Natur waren oder mit dem Islam, der gegen den Trend revoltierte:
„Als den letzten freien Stämmen die Aufsaugung durch Reiche und Städte, Juden und Kirche drohte, brach Mohammed hervor und schuf einen Stamm aller Stämme. Nicht umsonst hat er an Abrahams Wüsten-Sohn, das Kind der Hagar, Ishmael, sein Werk geknüpft. Der Islam ist eine Anklage gegen die Unfähigkeit der Reiche, der Juden, der Griechen, der Kirche; sie hatten der Araber – oder Germanen, oder Bantus, oder Fischi-Insulaner – schriftlose, tempellose, bilderlose, reichslose Stammesalter nicht befriedigt. Wie Moses „sieben“ und „zwölf“ vertauscht hat, so hat Mohammed die Funktionen von Rausch und Frauenliebe ausgetauscht.“16
Und schließlich stellte das Christentum die vier Antiken auf den Kopf. Die vier Evangelien zielen jeweils gegen eine der vier in der Antike gegebenen Antworten auf die Frage nach dem richtigen Leben. Dieses Meisterstück wird in der „Frucht der Lippen“ als Teil und Sonderband aus der Sprache des Menschengeschlechts vorgelegt.
„Weil Israel die weltumfassende Wahrheit birgt, hat nur die Welt im Ganzen der erste Echo dafür ausbilden können. So etwas wie der Nazismus kann die Rolle des Judentums nicht einmal von ferne wahrnehmen, und eben deshalb kann er sie nicht ertragen. Wir Menschen sind aber noch gar keine Menschen, wenn wir nicht auch den von uns allerverschiedensten Menschen anerkennen. Denn vorher erkennen wir noch gar nicht die Großartigkeit und die Weite unseres eigenen Wesens. Das kleine Israel hat das Feinde-umfassende Zeitalter verbindende Geheimnis „Mensch“ zuerst abseits der Welt betreut. Dann kommt der König der Könige. Zwischen Jerusalem und Kyros aber standen noch eigensinnig sowohl um 1300 wie um 550 die Völker. Erst bei Konstantin sind 1. der Welt-Kaiser, 2. das Gottesvolk und 3. die vielen Völker alle drei auf Hörweite einander nahe gerückt. Wir werden also die Jahre 1280, 540 vor Christi Geburt und 325 unseres Herrn ineinander verknüpft zu lesen haben.“17
Wenn Eugen Rosenstock-Huessy 1950 in seiner Göttinger Universitätsvorlesung seine akademischen Zuhörer mit dem Vorwurf konfrontierte, zu kurz zu springen, so lösen Karl-Heinz Kohl oder Klaus Theweileit genau diesen Anspruch auf Horizonterweiterung ein. Damals in Göttingen machte er der Universität den Vorwurf „babylonischer Gefangenschaft“.18 Er regte einen Blick auf die „hohe Schule des Genies in Griechenland“ an. Aber selbst eine „so kurzatmige Weltgeschichte“ von Salamis und den Thermophylen bis zu Karl Jaspers könne man sich „nicht mehr leisten.“ (Ein Hinweis auf den Begriff der „Achsenzeit“, der von dem Heidelberger Ägytologen in seinem letzten Werk vor seinem Tod wieder aufgegriffen wurde19) Das Blickfeld müsse sich um 500 Jahre weiten „in die Zeiten der Argonauten und des Kadmos, der den Griechen die Schrift brachte“20. „Die ideale Hochschule bestände aus einem Vorfeld, in dem sich die Lehrer außerhalb der Staaten und die Schüler außerhalb ihrer Familien träfen.“ Erkennbar ganz im Gegensatz zur Zeitströmung in der Professoren Beamte ihrer Staaten wurden und Studenten in einem immer höheren Anteil auch während des Studiums im Kreis ihrer Familie wohnten. Beiden Polen der Universität fehle daher der Abstand und die Freiheit von den Machthabern, von Reichen und Stämmen. Für diesen Abstand stünden die Namen „Salamis“ und „Thermophylen“.21 Ob dieses Bild angesichts der neuen Harmonie- und Freudenhäuser mit einem Schwerpunkt bei den pseudo-angewandten Wissenschaften noch trifft, mag dahingestellt bleiben.
Der kurze Text nahm kaum eine Seite der Deutschen Universitätszeitung ein, aber er hatte es in sich. Das war eine Kampfansage, nicht nur in Göttingen! Während die körperlich und geistig ausgehungerten Ordinarien auf den nächsten Tag schauten, öffnete Eugen Rosenstock-Huessy den Horizont in Dimensionen, die er sich im Schatten der vergangen „tausend Jahren“ des Dritten Reiches erarbeitet hatte, die Einbettung der europäischen Geschichte in die Weltgeschichte und die besondere Bedeutung von Stämmen, Reichen, Nationen und der Gesellschaft in ihrer Bedeutung für die Welt in der wir im dritten Jahrtausend leben.22
Die Herren von Salamis waren also in Tyros und Sidon, in Byblos und Lybien beheimatet. Ihre Häfen verwerteten das Erbe der großen Festlandsreiche. Byblos war ein religiöser Vorort des Pyramidenreichs. Was für ein Abstand von ihrem Herkommen für Schüler wie Lehrer. Indoeuropäische Ritter gingen bei Schiffskapitänen aus Reichshäfen in entlegenen Emporien in die Schule. Als Pilot der Argos wird ein Phönizier genannt.23
Der Aufsatz endete mit einem Appell an Professoren und Studenten, diesen Abstand zu gewinnen, denn nur so könne es wieder eine Universität geben, die diesen Namen verdiene. Nur dann könnten beide „vielleicht“ dem Menschengeschlecht „in den Trümmern der Fabriken und Schulen, der Nationen und Religionen und Rassen zu Leben verhelfen.“24
Unsere Einfalt im Zeitalter der Naturwissenschaft ist stets die gleiche: die Menschen halten ihre politische Lebensordnung für natürlich und spotten des Glaubens. Denn sie leugnen, daß die Ordnung ohne ihre gläubige, tägliche, opferwillige Anerkennung zusammenfiele. Ein blendendes Beispiel dieser Einfalt ist heut die Behandlung der Keuschheit und der Blutschande. Daß Brüder und Schwestern, Eltern und Kinder in Frieden miteinander leben, galt durch Jahrtausende für so heilig, daß man es beim Einbruch des Atheismus seit 1850 bereits für einen Teil unserer Natur hielt. Da kam die Psychoanalyse. Und nun stellen unsere Dichter und Soziologen alle Regeln des häuslichen Lebens in Frage, nur weil das Haus und seine Keuschheit jetzt geehrt werden müßte als ein gläubig von uns erschaffenes unaufhörlich neu ins Leben gerufenes Gebilde. Das Haus ist nicht natürlich und trotzdem und gerade deshalb müßte es geheiligt werden. Das können Leute, die ein für allemal die Gesellschaft für unnatürlich erklären, aber die Natur heilig gesprochen haben, nicht denken.25
Das einzige, was die europäische Kultur von China, Babylon, Indien oder Ägypten unterscheidet bis heute, ist dieses Ringen zwischen Haupt und Herz, in dem der Leib Christi körperlich sichtbar jedem Machthaber entgegentritt, ohne ihn zu vernichten. Dies große Drama soll nach dem Willen seines Stifters der Welt seit jenen ersten Ostern immer neu gespielt werden. Wir sehen, der neue Proteus des Herzens, der sich den bloßen Naturgewalten im Völkerleben entgegenwirft, muß täglich überraschende Erfolge erzielen. Er muß das Leben besser meistern können als die bloßen Naturen.26
Ob wir dereinst vor diesem Anspruch bestehen werden?
- Karl-Heinz Kohl, Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne, München: C.H. Beck 2024.
- Klaus Theweileit, a-e-i-o-u. Die Erfindung des Vokalalphabets auf See, die Entstehung des Unbewussten und der Blues. Wellenroman, Berlin: Matthes & Seitz 2023.
- Charles King, Schule der Rebellen. Franz Boas, München: Carl Hanser Verlag 2020.
Sven Bergmann
aus dem Mitgliederbrief 2024-08
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Eugen Rosenstock-Huessy, Die Frucht der Lippen, in: ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2 Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.797. ↩
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Karl-Heinz Kohl, Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne, München: C.H. Beck 2024, S.247. ↩
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Karl-Heinz Kohl, Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne, München: C.H. Beck 2024, S.11ff. ↩
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Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie <1913>, in: ders., Verstehende Soziologie und Werturteilsfreiheit. Schriften und Reden 1908-1917, hrsg.v. Johannes Weiß i.Z.m. Sabine Frommer (= MWG I/12), Tübingen: J.C.B.Mohr(Paul Siebeck) 2011, S.440. ↩
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In einer der letzten Mitteilungen wurde schon auf seine Entdeckungen anläßliche einer Wanderung in British Columbis gesprochen. ↩
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Zu denken ist etwa an Bronislaw Malinowski, Argonauten des westlichen Pazifik, 1922 oder Richard Thurnwald, Economics in primitive societies, 1932. ↩
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Eugen Rosenstock-Huessy, Zurück in das Wagnis der Sprache. Ein aufzufindender Papyrus, Berlin: Käthe Vogt Verlag 1957. ↩
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Wörter und Sachen. Kulturhistorische Zeitschrift für Sprach- und Sachforschung, hrsg.v. R. Meringer, W. Meyer-Lübke, J.J. Mikkola, R. Much, M. Murko, Bd. I (1909), Heidelberg: Carl Winter‘s Universitätsbuchhandlung 1909ff.: Sprache und Recht ↩
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Eugen Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2. Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.498. ↩
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Eugen Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2 Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.495. ↩
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Eugen Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2. Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.496. ↩
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Eugen Rosenstock-Huessy, Die angeschriebene Ewigkeit. Briefe nach Kairo, in: ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2 Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.600. Vgl. dazu insbesondere: Otto Lauffer, Über die Geschichte und den heutigen volkstümliche Gebrauch der Tätowierung in Deutschland, in: Wörter und Sachen, Bd.VI (1914-1915), S.1-14. ↩
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Eugen Rosenstock-Huessy, Die angeschriebene Ewigkeit. Briefe nach Kairo, in: ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2 Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.601. ↩
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Eugen Rosenstock-Huessy, Soziologie, 2. Bd.: Die Vollzahl der Zeiten, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 1958, S.319. ↩
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Eugen Rosenstock-Huessy, Die angeschriebene Ewigkeit. Briefe nach Kairo, in: ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2 Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.692. ↩
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Eugen Rosenstock-Huessy, Soziologie, 2. Bd.: Die Vollzahl der Zeiten, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 1958, S.374. ↩
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Eugen Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2. Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.760. ↩
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Diesen Begriff zitierte er von seinem Freund Hans Ehrenberg, der diesen in seiner Kritik des deutschen Idealismus angeführt hatte: Hans Ehrenberg,, Disputation. Drei Bücher vom deutschen Idealismus: Fichte. Der Disputation erstes Buch, München: Drei Masken Verlag 1923; ders., Disputation. Drei Bücher vom deutschen Idealismus, 2. Buch: Schelling, München: Drei Masken Verlag 1924; ders., Disputation. Drei Bücher vom deutschen Idealismus, 3. Buch: Hegel, München: Drei Masken Verlag 1925. Vgl.: Friso Melzer, Zur babylonischen Gefangenschaft der Universität und zu ökumenisch-indischen Erfahrungen, in: Jenseits all unsres Wissens wohnt Gott. Hans Ehrenberg und Rudolf Ehrenberg zur Erinnerung, hrsg.v. Rudolf Hermeier, Moers: Brendow-Verlag 1987, S.18-20. ↩
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Jan Assmann, Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne, München: C.H. Beck Verlag 2018. ↩
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Zum Hintergrund: Angela Kühr, Als Kadmos nach Boiotien kam. Polis und Ethnos im Spiegel thebanischer Gründungsmythen (= Hermes – Einzelschriften; Bd. 98), Wiesbaden: Franz Steinr Verlag 2006. ↩
- Auf welchem Niveau sich deutsche Universitäten inzwischen wiederfinden, offenbart der nicht gehaltene Vortrag von Egon Flaig: Mathias Brodkorb, Akademischer Suizid? Die Ausladung Egon Flaigs durch die Universität Erlangen, in: FAZ Nr. 166 v. 20. Juli 2023. Weiter als zu den Griechen reicht der Horizont nicht. Eine neue Hörigkeit gegenüber Stämmen (Identität) und Reichen (Herrschaftsträgern und Geldgebern) dominiert.
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Seine „Soziologie“ lag zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht veröffentlicht vor, die Konzeption hatte er sich aber längst erarbeitet. Diese Konfrontation von geistiger Fülle und geistiger Dürre mußte die Angesprochenen überfordern. Den Ordinarien werden mit wenigen Ausnahmen die Ohren geklungen haben: Sie waren noch nicht einmal in Europa angekommen, da predigte man ihnen Weltverantwortung und griff historisch und geographisch über die bisherigen Grenzen griechischer Wissenschaft hinaus! ↩
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Eugen Rosenstock-Huessy, Salamis und die Thermopylen. Ein Beitrag zur Erneuerung der Universität, in: DUZ, V.Jg., H.3 (1950, 10. Febr.), S.5. Eugen Rosenstock hatte in seiner Jugend den Streit um „Bibel und Babel“ verfolgen können. Vgl. dazu: Martin Rade. Theologe, Publizist, Demokrat. 1857-1940. Eine Ausstellung der Universitätsbibliothek Marburg (= Schriften der Universitätsbibliothek Marburg; Bd.47), Marburg 1990. ↩
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Eugen Rosenstock-Huessy, Salamis und die Thermopylen. Ein Beitrag zur Erneuerung der Universität, in: DUZ, V.Jg., H.3 (1950, 10. Febr.), S.5. ↩
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Eugen Rosenstock-Huessy, Die angeschriebene Ewigkeit. Briefe nach Kairo, in: ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2 Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.625. ↩
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Eugen Rosenstock, Das Herz der Welt. Ein Maßstab für Politik, in: Kirche und Wirklichkeit. Ein katholisches Zeitbuch, hrsg.v. Ernst Michel, Jena: Eugen Diederichs Verlag 1923, S.246. ↩