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Sven Bergmann: Die „Vernunft“ der echten Revolution

Die Historiker zaubern wieder.

Heinrich August Winkler streift Eugen Rosenstock-Huessy

Nachdem der Marxist Eric Hobsbawm - vor seiner Emigration nach Großbritannien war sein Name Obstbaum - für die neueste Geschichte das Fazit eines langen 19. (1789 bis 1914) und kurzen 20. Jahrhunderts (1914 bis 1989) gezogen hatte, verlegen Geschichtsmaschinisten inzwischen den letzten markanten Einschnitt wahlweise auf 1979 (u.a. Revolution im Iran und den Einmarsch Rußlands in Afghanistan) oder 2014 (u.a. Annexion der Krim und Abschuß MH17)1. Warum nicht auf den Amtsantritt von Vladimir Putin 1999 oder auf den Angriff auf das Herz des amerikanischen Kapitalismus 9/11 2001? Zumal unter dem Verweis auf Alexis de Tocqueville erneut Parallelen zwischen dem Ancien Regimé vor 1789 und dem Untergang des Westens gezogen worden sind. 2 Aber Historiker können Geschichte ausdeuten, aber keine Epoche „machen”. Dessen war sich Eugen Rosenstock-Huessy sicher.

Der Historiker darf ja nicht vergessen, daß sich die Völker ihre Geschichte zuerst und vor allem selber schreiben. In ihren Geschichtstagen, ihren Vorurteilen, ihren Ausdrücken und Ämtern wird den wichtigen Ereignissen Dauer verliehen und die ursprüngliche Quelle sprudelt so ewig fort als wahrste geschichtliche Quelle.3

Eine Formel Michael Gorbatschows ist im Jubiläumsjahr der Französischen Revolution und im Jahr des Massakers auf dem Platz des himmlischen Friedens sprichwörtlich geworden, die er beim Besuch der DDR zum 40 Bestehen der Republik am 7. Oktober 1989 im Beisein des erstarrten Erich Honecker fallen ließ, der in der Vergangenheit der Bedrohung des „Faschismus“ lebte und immer noch gegen den weiter starrsinnigen Stahlbaron Geheimrat Stumm kämpfte: „Wer zu spät kommt, den bestraft des Leben.“ Der politische Denker, dessen Überlegungen grundlegend auf dieser Einsicht fußen ist Eugen Rosenstock-Huessy. In der amerikanischen Ausgabe seines bekanntesten Buches über die Europäischen Revolutionen stellte er 1938 fest: „Timeliness is everything. Reality is „good“ when it proceeds timely; it is bad when too late or too early.“4

Denn wir müssen wissen, was die Stunde geschlagen hat; wir müssen die Toten ihre Toten begraben lassen. Wie können wir das, wenn Gott nicht die Epochen stiftet? Um dieses sein jeweiliges Stiften herum sind meine „Europäischen Revolutionen“ geschrieben.5

Vor diesen Hintergrund ist es bedauerlich, daß sein Revolutionspanorama in den Geisteswissenschaften ein Nischendasein führt, ganz im Gegensatz zur Renaissance von Hannah Arendts „Revolutionstheorie“:

Im übrigen ist das Arendtsche Revolutionsverständnis gewiß ein solches von besonderer Art, das nicht mit dem traditionellen Verständnis von Revolution verwechselt werden darf. Dieses spricht von Revolution in bezug auf einen vollständigen und bewußt vollzogenen Umsturz der Regime. Das Arendtsche Revolutionsverständnis hingegen ist durch seinen Bezug auf das komplementäre Handlungsmoment des bewahrenden Fortführens spezifisch republikanisch zugerüstet. Es gibt überhaupt nur einen einzigen Denker, bei dem etwas Vergleichbares zu finden ist: Eugen Rosenstock-Huessy, der wie sie und aus dem gleichen Grunde: wegen seiner jüdischen Herkunft, in die USA emigrieren mußte; und es mag sehr wohl sein, daß die jüdische Prägung beider diese Verwandtschaft gestiftet hat. Denn schließlich ist der Gott der Juden, den die Christen von ihnen bekommen haben, ein ungemein tätiger und anfangen-könnender Gott. Charakteristisch für sein Tun ist das Schließen von Bünden – wie beim Bund mit Israel -, in denen das weitere Handeln sich nun abspielen kann.6

„Deutsche Revolutionen“ im Zeitraffer

Zum 175. Gedenken an die „gescheiterte“ demokratische Revolution von 1848 hat Heinrich August Winkler, vielleicht der letzte große Historiker aus der Kohorte der 30er Jahre, eine weitere Aufsatzsammlung zur deutsche Geschichte vorgelegt. Dabei betrachtet er die Julirevolution im Vergleich mit den Revolutionen von 1919 und 1989.7 In seinem Schlußkapitel „Revolutionen in Perspektive: Rückblick und Ausblick“ geht er noch einmal systematisch auf das Phänomen der Revolution ein. Und er markiert eine neue Phase des westlichen Revolutionszyklus: „Seine monopolartige Vormachtstellung hat der Westen seit langem verloren. Die weltweite Anziehungskraft, die noch heute von seinen einst revolutionären Werten ausgeht, wird er nur bewahren können, wenn er sich selbstkritisch seiner Vergangenheit stellt, zu der auch brutale Verstöße gegen die Ideen der allgemeinen, unveräußerlichen Menschenrechte gehören, und entschlossen ist, gemeinsam seine Werte gegen Bedrohungen von außen zu verteidigen.“8 Man erkennt, daß er die Neuauflage von Crane Brintons Revolutionsklassiker im Karolinger Verlag zur Kenntnis genommen hat.9 Wie ein Mantra wiederholt er dabei den Hinweis auf die von Eugen Rosenstock-Huessy hervorgehobene „Papstrevolution“, ohne dabei näher auf dessen Revolutionsverständnis einzugehen. Außerdem verliert er kein Wort über die Kontroverse, die sich Crane Brinton und Eugen Rosenstock-Huessy in den dreißiger Jahren, nach Erscheinen der amerikanischen Ausgabe der Europäischen Revolutionen geliefert hatten. 1938 erschien die als spiegelbildlich für den amerikanischen Leser adaptierte Fassung „Out of Revolution“, die in Deutschland über Jahrzehnte unbeachtet geblieben ist. Mit Crane Brinton traf das Werk auf einen der modernen Systemtheoretiker wie sie nach dem zweiten Weltkrieg die Geisteswissenschaften dominieren sollten. Eine größere Distanz zu dem, die Gesellschaftsdimensionen biographisch und in Generationfolgen ausleuchtenden Werk von Eugen Rosenstock-Huessy läßt sich kaum vorstellen. Dabei entstanden dessen Grundüberlegungen viele Jahre vor dem Generationenansatz von Karl Mannheim. Leider geht Heinrich August Winkler mit keinem Wort auf die Debatte der Zwischenkriegszeit ein. Er bleibt bei seiner schon aus vorherigen Werken bekannten Wertschätzung für die „fruchtbare” Deutung der Papstrevolution „durch den deutschen Universalhistoriker Eugen Rosenstock-Huessy in seinem Buch von 1931“.10 Das ist immerhin löblich, wird dem facettenreichen Werk aber nicht wirklich gerecht. Gerne hätte man aus der Feder des Emeritus der Humboldt Universität mehr über den Autor der Papstrevolution erfahren, als daß er 1958 Zuhörer an der Münsteraner Gastvorlesung des Auswanderers war.

Parallellektüren: Crane Brinton und Eugen Rosenstock-Huessy

Im gleichen Jahr 1938 als Crane Brinton seine „Anatomie der Revolution“ veröffentlichte, erschien Eugen Rosenstock-Huessys grundlegend für die amerikanische Leserschaft neu erarbeitete Studie „Out of Revolution“. Brinton hatte sich zuvor vor allem mit der Französischen Revolution beschäftigt und ein Werk über den revolutionären Außenminster Talleyrand vorgelegt.11 Es hat seinen besonderen Reiz, daß beide Autoren im darauffolgenden Jahr das Werk der jeweils anderen rezensiert haben, zunächst Crane Brinton in „Political Science Quarterly“ und im folgenden Monat Eugen Rosenstock-Huessy in der „American Historical Review“.12 Brinton war in seiner Zeit sicher einer der Stars der politischen Wissenschaften und er zeigte sich einigermaßen konsterniert über den Ansatz des Professors „of so German a soul“. Dessen Zugriff verortete er in der romantischen Tradition von Hegel und Spengler, ja in Teilen sogar in Verbindung zum Theosophen und Mystiker Emanuel Swedenborg, was wohl auf den aus seiner Sicht spekulativen Charakter deuten soll. Für den fortschrittsoptimistischen amerikanischen Leser dürfte schon die Formulierung abschreckend gewirkt haben, daß in „Out of Revolution“ keine neuen Einsichten oder Theorien präsentiert würden, sondern daß „altes Material“ lediglich im Englischen neu arrangiert worden sei. Ein Brücke zum „Stand der Forschung“ konnte Brinton in diesem Werk nicht finden: „But in the whole it is the far-fetched interpretative use he makes of data, rather than actual defective data, that will shock the orthodox social scientist.“ Der so karikierte „Alteuropäer“ widmete eine Doppelrezension dem Werk von Crane Brinton sowie den „Sechs neuzeitlichen Revolutionen“ von Roger Bigelow Merriman.13 Eugen Rosenstock-Huessy würdigte den breiten Ansatz und die vielen historischen Details beider Werke. Auch die wechselseitigen Beeinflussungen der revolutionären Bewegungen würden beachtet: „From 1640 to 1660 political unrest made itself felt all over Europe from the Ukraine to Spain, from Naples to Denmark. Everywhere, the lower estates, as John Knox had called them, tried to challenge the higher.“ Dennoch ersparte er den Autoren nicht den Vorwurf in ihrer scheinbar unbeteiligten Abstraktion das emotionale Wesen der Revolutionen zu verfehlen: „Limiting his „facts“ from by the „case“ method, Brinton fails to see why wars are essential elements in the patttern of 1789 and 1917, preceding the Russian, following the French revolution. Atomazing further, Brinton suggests that the rest of the world got hold of the decimal system, „without benefit of revolution“. This is the conclusion when the French revolution ist treated as lasting only from 1789 to 1814. In this case the later adoption of the decimal system by other countries does not appear to be the fruit of French suffering.“ So anschaulich sie ihre Exkurse auch ausleuchteten, gelänge es Brinton und Merriman aus der Froschperspektive nicht, wirkliche Zusammenhänge zwischen späteren und früheren Revolutionen in den Blick zu bekommen oder die tiefgreifenden und unterschwelligen Wirkungen der echten Revolutionen in die Gegenwart zu verstehen: „From this point of view, the same revolutionary processes that are failures to Merriman and Brinton are to me highly rational and effective. To me revolutions call their particular generation back into the phylogenetic history of Man. Do not the authors owe their own chairs of history to the English, the French, the American revolution? Yet, responsibilty for the future of social evolution is excluded from their patterns of scientific thinking. Hence the new barbarians reciprocate and exclude scientific and social teaching from their future world. The books testify to J. Benda’s Trahison de Clerks. The academic scientists have imperiled our intellectual freedom. They have watched society instead of watching out for it.“

In seinem Nachwort zur Neuausgabe der Anatomie von Crane Brinton geht der Herausgeber Manfred Lauermann auf die verschiedenen Revolutionskonzepte ein und bringt die geradezu spiegelbildlichen Widersprüche auf den Punkt:

Nicht zuletzt diese philosophische Fügung erklärt die Ironie, die Brinton Hannah Arendts “Über Revolution” gegenüber einnimmt. Er kopiert Arendt in die Folie Rosenstock-Huessy, der mit Vorliebe im Wolkenkuckucksheim brüte, und nur zu gern übersehe, was ihm in seine Metaphysik des Gutmenschen nicht hineinpassen würde. Sein Ergebnis: Wenn die beiden richtigliegen, ist sein Buch Nonsens, was man vielleicht aber auch umgekehrt sehen kann. Welches Konzept nach 75 Jahren seine Überzeugungskraft bewahrt hat, möge jeder Leser für sich entscheiden.

Revolution zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Es dürfte kein Zweifel bestehen, daß das Thema der Revolution wie kaum ein zweites das Leben und Werk von Eugen Rosenstock-Huessy durchzieht. Der Berliner Schüler verfolgte 1905 die Nachrichten aus dem fernen Rußland; vielleicht sein politisches Erweckungserlebnis. Das große Rußland wurde militärisch vom kleinen Japan geschlagen und erlebte dabei eine „verfrühte“ Revolution, die aus genau diesem Grunde scheiterte.
Rußlands Volk hatte noch kein Gedächtnis, das über 1905 zurückreicht. Es erwirbt es in diesem Kriege. Die Revolution ist die erste bleibende Narbe in Mütterchen Rußlands bisher ewig schicksallosem Antlitz. Maxim Gorki ist der erste Volkssänger, der diese Schicksallosigkeit überwindet, indem er sie und immer wieder sie ausspricht.14

An diesem Exempel schulte er sein Sensorium für das Zusammenwirken von Krieg und Revolution, nicht als Wunschbild und Hoffnung, sondern als einen Indikator für konkrete Wirkungen heilsgeschichtlicher Vorgänge, auf die er wie kein anderer immer wieder hingewiesen hat. Dem Briefwechsel mit Franz Rosenzweig ist zu entnehmen, daß seine Gedanken gerade in der höchsten Spannungszeit der „Urkatastrophe” des ersten Weltkrieges heranreiften: Am 15. Dezember 1917 beschrieb Franz Rosenzweig sich als Schüler von Eugens Revolutionstheorie und schlug vor, ein Buch daraus zu machen: „Revolution. Eine Philosophie der europäischen Geschichte von Dr. Eugen Rosenstock, ao. Professor der Geschichte an der Universität Wien, Berlin bei S. Fischer 1918“.15 Außerdem fühlte er sich durch Oswald Spenglers kulturgeschichtliches Großprojekt eines Untergangs der Abendlandes herausgefordert. Im April 1919 traf er Spengler persönlich in München. Im Heidelberger Ausflugslokal Stiftsmühle entstand darauf seine Kritik der Geschichtsphilosophie des Bestsellerautors über den „Selbstmord Europas“.16 Einen weiteren Kontrast bildete das marxistische Revolutionsverständnis, daß zwar schon den Zusammenhang von Krieg und Revolution blutrot markiert hatte, mit seiner Fundamentalkritik jedes Staates, die Lenin im ersten Weltkrieg vorgelegt hatte, aber ebenso einseitig die ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft betonte.17

Hans Thieme hat in seiner Würdigung von Eugen Rosenstock-Huessy darauf verwiesen, daß dessen Konzeption der Europäischen Revolutionen schon in seinem Werk über die Epochen der deutschen Geschichte angelegt war:

Die Wendepunkte der solchergestalt abgegrenzten Epochen des Rechts sind die Revolutionen. Auch dieser Gedanke ist in dem Aufsatz von 1919 schon vorgebildet. „Die Rechtsgeschichte hat bisher die Kriege und die Revolutionen nicht ernst genommen. Aber wenn die Gesundheit des Körpers nie besser als an der Krankheit erkannt wird, so gehörte die tiefe Unwirklichkeit des abgelaufenen Historismus dazu, um nicht in den Kriegen gewaltige Umschichtungen des Rechtsgefühls und der Rechtsvorstellungen aufzusuchen.“ Aus diesen Ansätzen von 1919 entsteht dann 1931 in Gestalt der „Europäischen Revolutionen“ eine „Formengeschichte des Rechts“, die Rosenstock als „wirkliche Rechtsgeschichte“ ansieht, auch wenn die Fachwissenschaft von ihr, charakteristisch genug, weniger Notiz nimmt als die Geschichtswissenschaft allgemein.18

Sehr aktuell und gar nicht seltsam klingt Eugen Rosenstock-Huessys Bericht über eine Heidelberger Tagung zum Thema einer europäischen Kooperation in der Endphase der Weimarer Republik:
Ich habe eine Tagung von 1931 über die Einheit der europäischen Kultur in schmerzlicher Erinnerung. Sie war damals von der Europäischen Union des Prinzen Rohan nach Heidelberg einberufen worden. Ich weiß nicht, ob wir irgend jemand sonst hier haben, der dieses Fest vor dem Untergang des alten Europa mitgemacht. Da haben sich die Kulturträger der verschiedenen Nationen ein Stelldichein gegeben und haben, entwicklungsmäßig, ohne Katastrophe, ohne große Kriege und Revolutionen, ohne Umsturz, geglaubt, sie könnten Europa zusammenreden, indem sie jeder sozusagen ihren eigenen Beitrag zu dieser europäischen Kultur anpriesen.19

Sein erstes 1920 erschienenes nichtakademisches Buch trägt den Titel „Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution“. 1931 folgten die „Europäischen Revolutionen“ als begriffsgeschichtlicher Festschriftbeitrag sowie als komplementäre europäische Ereignisgeschichte und seine Soziologie schildert die großen kulturellen Revolutionen der Menschheitsgeschichte, von den Stämmen und Reichen zu Staaten und Kirchen bis zur Weltgesellschaft, die niemals als einheitliche staatliche Ordnung verstanden werden darf. In dieser Universalgeschichte nehmen die ägyptische Revolution, die jüdische Revolution, die griechische Revolution sowie die christliche Revolution einen besonderen Platz ein. Und diese Revolutionen waren nur möglich, indem der Himmel auf die Erde geholt wurde und die handelnden und teilnehmenden Menschen ihre äußersten seelischen Kräfte einsetzten, ohne an Blut und Boden kleben zu bleiben. Noch der Begriff der Revolution verdankt seine erste relevante Bedeutung dem Umlauf der Planeten, bevor er immer mehr für gesellschaftliche Umwälzungen in Mode kam.

Natürlich hat Eugen Rosenstock niemals einen Monopolanspruch auf das Thema erhoben. Zeitgenössisch konnte er bei Max Weber oder dessen Freund Siegmund Hellmann anknüpfen. Max Weber hatte in seinen universalhistorischen Studien zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ fünf große Revolutionen namhaft gemacht
Auch in der Epoche der Staatenkonkurrenz war in China die Rationalisierung der Verwaltung und Wirtschaft in engere Schranken gebannt als im Okzident. Deshalb, weil im Okzident – abgesehen von den schon erwähnten Unterschieden der Appropriation – starke, auf eigenen Füßen stehende Mächte vorhanden waren, mit welchen entweder die Fürstenmacht sich verbinden und die traditionellen Schranken zerbrechen konnte, oder welche, unter sehr besonderen Bedingungen, ihrerseits aus eigener militärischer Macht heraus die Bindungen durch die Patrimonialmacht abwerfen konnten, wie die fünf großen, für das Schicksal des Okzidents entscheidenden Revolutionen, die italienische des 12. und 13., die niederländische des 16., die englische des 17., die amerikanische und französische des 18. Jahrhunderts es getan haben.20

Vielleicht knüpfte der Philologe Siegmund Hellmann, ein Münchener Freund Max Webers und ein Schüler des Philologen Ludwig Traube, den Eugen Rosenstock-Huessy sehr verehrte, hier an. Jedenfalls legte er 1919 einen historischen Essay über die neuzeitlichen Revolutionen vor, der sich vor allem der Deutung der neuzeitlichen „westlichen“ Revolutionen verschrieb.21 Das hier ein wesentliches Momentum der europäischen Geschichte erkannt wurde, hatte schon Webers Heidelberger Juristenkollege Georg Jellinek angedeutet, den Weber als politischen Kopf schätzte
Omne ius aut consensus fecit, aut necessitas constituit, aut firmavit consuetudo. Von der necessitas, die Modestin als rechtschöpfende Macht anführt, ist in unseren Lehren von den Rechtsquellen wenig die Rede. Und doch spielt sie in dem Leben der Verfassungen eine ungeheure Rolle. Alle jene geschichtlichen Ereignisse, die außerhalb des Rechtes die Fundamente des Staates umwühlen, schaffen eine solche necessitas. Usurpationen und Revolutionen rufen überall Zustände hervor, in denen Recht und Faktum, sonst voneinander streng zu scheiden, ineinander übergehen. Das fait accompli, die vollendete Tatsache, ist eine historische Erscheinung von verfassungsbildender Kraft, gegen welche alles Ankämpfen der Legitimitätstheorien ohnmächtiges Beginnen ist.22

Jedenfalls drängte das zeitgenössische politische Denken genau in die Richtung, auf die Eugen Rosenstock in seinem Ringen um den Begriff und die historische Dimension der Revolutionen antwortete. Er selbst hat in diesem Zusammenhang auf einen weiteren Denker verwiesen, den Heidelberger Ökonomen Eberhard Gothein, der Vorlesungen zur „Soziologie der Revolutionen“ anbot, die der Student besucht haben könnte. Eine Anregung durch Gustav Radbruch, mit dem er seit 1908 befreundet war, liegt nahe. Dieser hatte in der Kulturzeitschrift „Logos“ einen Beitrag über Goethes Wilhelm Meister verfaßt und sich dabei insbesondere mit dessen Revolutionsbegriff beschäftigt:
Denn Goethe ist Revolutionen im Leben der Staaten ebenso feind wie der vulkanistischen Geologie der Erdrevolutionen. Ordnung ist ihm als ein Natur und Menschheit zugleich umspannender kosmischer Wert heilig und als die unerläßliche Vorbedingung des einzigen, das not tut: des Leistens und Schaffens, selbst mit dem Preise des Despotismus, ja der Fremdherrschaft nicht zu teuer erkauft. Deshalb müssen wir auch das letzte Wort Goethescher Gesellschaftsphilosophie dort suchen, wo er sein Gemeinschaftsideal ohne Rücksicht auf überlieferte Ordnungen im geschichtsleeren Raum zu konstruieren in der Lage ist: bei den Amerika-Wanderern.23

In seinem Vorwort zum Revolutionsband seiner „Ansichten einer künftigen Geschichtswissenschaft“ rechnete Imanuel Geiss Eugen Rosenstocks Revolutionen zusammen mit Eric Hobsbawn zu den Klassikern des Genres, allerdings mit der Einschränkung, daß er mit fragwürdigen Methoden und unzulänglichen Ergebnissen arbeite sowie auf die Europäische Geschichte beschränkt sei. Immerhin sei er anregend „als geistvolle intellektuelle Provokation“. Dabei unterschlug er die, den europäischen Kontext überschreitende amerikanische Ausgabe „Out of Revolution“ sowie den welthistorischen Ansatz, auf den die Soziologie zielte.24 Aber keiner dieser Vordenker hat in der Herausforderung durch Marx und Nietzsche ein ähnlich breit angelegtes begriffs- und ereignisgeschichtliches Ouvre zum Thema Revolution vorgelegt wie Eugen Rosenstock-Huessy.

Eugen Rosenstock-Huessy und die Revolution in Wort und Wirkung

Als einige Thesen zum Revolutionswerk von Eugen Rosenstock-Huessy lassen sich festhalten:

  1. Die Frage der Revolution nimmt eine zentrale Bedeutung im Gesamtwerk ein und wird in verschiedene Fassungen und Dimensionen bearbeitet.
  2. Biographische Anknüpfungspunkte finden sich seit 1905 persönlich zum russischen Revolutionär Eugen Leviné sowie zu den Vordenkern, Max Weber, Eberhard Gothein, Siegmund Hellmann und Georg Jellinek sowie in Abgrenzung zur materialistischen Geschichtsauffassung von Marx und Engels sowie der Kulturkreislauftheorie Oswald Spenglers.
  3. Der wesentliche Epochenbruch des 20. Jahrhunderts fällt auf das Jahr der russischen Revolution 1917 und auf der Eskalation des europäischen Krieges zum Weltkrieg; deshalb hat Jürgen Habermas mit seinem Begriff der „nachholenden Revolution“ zur Deutung des Jahres 1989 einen Punkt für die Epochengliederung getroffen, ohne daß er sich genauer mit Rosenstock-Huessys Revolutionsbegriff beschäftigt hätte (In seiner Kritik der kommunikativen Vernunft kommt dessen Sprachdenken nur sehr sporadisch vor).
  4. Die wirkliche Geschichte überragt ihre „Erfindungen“; in den wirklichen Revolutionen sprechen sich heilsgeschichtliche Kräfte aus; hier trennt sich die theoretische Spreu vom lebenspendenden Weizen.
  5. Nach längerer Beschäftigung mit dem Thema der Revolution schreibt er sein begriffsgeschichtliches Propädeutikung und seine komplemenäre europäische Ereignisgeschichte erst nach der politischen Desillusionierung durch die Septemberwahlen 1930 und persönlichen Enttäuschungen seiner politischen Initiativen in Volk und Gesellschaft.
  6. Sein Revolutionsverständnis bezeichnet eine wichtige Akzentverschiebungen zwischen Begriffsgeschichte und Realgeschichte; die „Papstrevolution“ und die „Deutsche Reformation“ bilden charakteristische Sonderformen.
  7. An der Revolutionsgeschichte lassen sich grundlegende Wandlungen der Verfassungsgeschichte ablesen.
  8. An den Revolutionen läßt sich die Eigenart Europas studieren, die Trennung von Kirche und Staat, aber auch die Parallelen und die Abweichungen im Islam.
  9. Sein Werk gibt schon sehr früh einen Ausblick auf die Zukunft der Revolution, die Revolution in Permanenz (Letztes Kapitel der amerikanischen Fassung „Out of Revolution“), die sich in der russischen Revolution andeutet, aber weit über diese hinaus für alle menschlichen Verbände zu einer entscheidenden Herausforderung wird. Aus der „statischen“ Agrargesellschaft wird die stetig im technischen Wandel begriffene Weltgesellschaft.
  10. Revolten, Aufstände, Volkserhebungen oder Streiks machen noch keine echte Revolution auch nicht die deutsche von 1918, auch nicht die von 1933. Auch nicht die „kleinen“, begrenzten Umbrüche in Irland, in Spanien oder in den Niederlanden.

Jede echte Revolution richte sich an alle, die Konterrevolution beschränke sich auf Einzelaspekte, ohne eine gemeinsame Zukunft „für alle“; genau diese Zukunft für alle hätten die europäischen Revolutionen ausgezeichnet: Die Trennung von geistlicher und weltlicher Autorität; die Emanzipation der gehobenen städtischen Bürgertums, dann des niedrigen Bürgertums, dann des gesamten dritten Standes und schließlich auch die „Freiheit” für alle bisher Ausgegrenzten. „Auf der Orgel der Weltgeschichte stellt jede Revolution sozusagen eine Oktave dar, eine in sich vollständige, gegen alle anderen Denkarten abgesetzte Tastatur.“25 Jede Revolution spreche ihre unverwechselbare Sprache und diese Sprach töne nicht nur national, sondern je nach Zeit konfessionell, juristisch, philosophisch oder diplomatisch.

Begriffsgeschichte und Ereignisgeschichte

Mit seinem Begriff der „Papstrevolution“ wird Eugen Rosenstock-Huessy nach wie vor erinnert und zitiert, gerade auch von Heinrich August Winkler: „Die erste Weltrevolution haben die Päpste gemacht, indem sie dem römischen Stuhl die Kuria Romana angliederten. Kurie hieß das Haus des heidnischen Rom, in dem der Senat tagte. Aber seit 1059 gibt es die römische Kurie für die Weltregierung des Bischofs von Rom.“ Und in der Tat bildet die Trennung oder vielleicht besser: der Wettstreit von kirchlicher und weltlicher Autorität eines der fundamentalen Prinzipien der westlichen Völkergemeinschaft, ähnlich der Taufe mit dem Heiligen Geist, gegen die Initiationsriten der Stämme oder die Vergottung einzelner Menschen.

Dabei ist es immerhin bemerkenswert, daß er im Jahr 1931 zwei Werke zur Revolution veröffentlichte, die sich bei der Akzentuierung der westlichen Revolutionen sehr deutlich voneinander unterscheiden. Dieser Zusammenhang ist in der bisherigen Literatur nur unzureichend beachtet worden.26 Dabei bildet der Festschriftbeitrag „Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit“ nicht nur eine andere Schwerpunktsetzung als das Werk über die „Europäischen Revolutionen“, sondern gibt in den Anmerkungen auch deutliche Hinweise zu den Autoren, auf die sich der Autor stützte. Namen wie die Ökonomen Werner Sombart und Eberhard Gothein, der Historiker Friedrich Meinecke, der Hobbes-Forscher Ferdinand Tönnies, Carl Schmitt oder Thomas Masaryk mit seinem Buch „Weltrevolution“ finden sich nur im begriffsgeschichtlichen Exkurs, in dem er sich ganz auf die neuzeitlichen Revolutionen in Italien, England, Frankreich und Rußland konzentrierte:

Wir gewinnen so eine ganze Reihe, die Italien, England, Frankreich, Rußland umfaßt und in der jedes Glied ein anderes Territorium zum Nährboden hat und eben dadurch einen anderen Charakter trägt.

  1. Rivoluzione: Verfassungsänderung des einzelnen Stadtstaats in Italien für den abstrahierenden Zuschauer.
  2. Glorius Revolution: Aufrichtung einer Adelsherrschaft über ganz Großbritannien für die Mitspieler selbst nur tragbar als Revolution, nämlich in der Maske einer legitimen, durch keine menschliche Willkür, sondern durch ein wunderbares Ereignis vollzogenen Restauration der angeborenen unveränderlichen mittelalterlichen Freiheiten.
  3. Revolution francaise: Durch die Torheiten und Sünden der Regierung bricht sie aus als Totalumwälzung des alten unvernünftigen Weltzustandes in einen neuen vernünftigen. Schutz der Herrschaft der Vernunft durch Revolutionäre, die nach dem „Ausbruch“ der Revolution auf den Plan treten und die in allen europäischen Ländern, einem nach dem andern, 1830, 1848 usw. die gleiche nationale Demokratie durchsetzen.
  4. Weltrevolution: über alle Ländergrenzen hinweg, wenn auch von Rußland aus kaltblütig gewollt und hier besonders lange vorher durch Revolutionäre vorbereitet, vollzieht sich ein internationaler einheitlicher Weltprozeß.
  5. Der häufige Gebrauch des Wortes Revolution für Vorgänge in Belgien, Italien, Irland, Brasilien, Spanien usw. im 19. Jahrhundert soll diese Umwälzungen in den Lichtkegel des überragenden Ereignisses von 1789 rücken. Viele „Revolutionen“ heißten daher zu Unrecht so, ohne doch die prinzipielle Bedeutung des einmaligen Durchbruches zu besitzen. Hier wird sowohl für die ältere Geschichte wie für die Gegenwart nach doppelter Richtung viel Mißbrauch getrieben. Staatsstreiche, Putsche, Revolten werden Revolutionen benannt. Zweitens unterstellt die Revolutionstheorie von Karl Marx alle Revolutionen, auch die der älteren Schichten, ihrem historischen Materialismus. Das ist aber eine Rückübertragung des Typus 4 auf Vorgänge ganz anderer Art. Werner Sombart hat demgegenüber mit Recht in bedeutsamem Gegenstoß die Revolutionen als schlechthin (37) zufällig bezeichnet.1 Das sind sie gegenüber Marx. Aber dieser Zufall wohnt ihnen nur innerhalb des Duells Marxismus und Antimarxismus inne. Die weltgeschichtliche Sinngebung kann nicht – so wenig wie ein Arzt Krankheiten – Revolutionen aus dem Zusammenhang lösen.
  6. Der deutsche Zusammenbruch von 1918, der vielfach als Revolution bezeichnet wird, ist an sich keine Revolution, sondern eine überstürzte, panikartige Demobilmachung im tiefsten Unglück. Soweit dieser Zusammenbruch als Revolution bezeichnet wird, tritt er dadurch entweder unter den Schatten der Revolution von 1848 (Grundrechte der Weimarer Verfassung!), und damit des Bereichs von Ziffer 4; oder in den der russischen von 1917 (Soldatenräte!) und damit in den Bereich von Ziffer 5.27

Die Sonderfälle der Papstrevolution und der Zwitterrevolution der deutschen Revolution breitete er erst in seinem ereignisgeschichtlichen Werk über die Europäischen Revolutionen und dann in „Out of Revolution“ aus. Mit jeder Neuauflage dieser Werke erweiterte und vertieftes sich der revolutionäre Sachzusammenhang, etwa durch die Entdeckung des französischen Experimentalarchäologen Richard Lefebvre des Noettes, dessen Anmerkungen zur Nutzung der Pferdestärken durch Erfindung des Kumets er für seine Überlegungen zum Burgenbau und zum Verschwinden des massenhaften Sklaveneinsatzes er in sein Werk einbrachte.28

Die Ereignisgeschichte der Europäischen Revolutionen eröffnete dann ein Panorama, das für die häufig nationalistische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts kaum vorstellbar gewesen wäre. Und das als wirkliche Synthese weiterhin unerreicht ist. Nationenübergreifende Geschichtswerke lassen sich nicht von historischen Kommissionen oder Verlagen zusammenstückeln. Dann will jede einzelne Stimme gleichberechtigt gehört und berücksichtigt werden. So soll der gute Zweck die Mittel heiligen, aber einem Leser muß ein solch abgewogenes Werk zur Qual gereichen. Das erklärt auch den nachhaltigen Erfolg von historischen Wälzern mit sehr persönlicher Handschrift wie Friedrich Heers Europaschriften, Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes oder Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit.

Der Autor der Europäischen Revolutionen hat sich selbst vielfach über seinen Ansatz geäußert:
Die ausführliche Fortpflanzung dieser Weltorganisation von den Päpsten zu den Königen, zu den Ständen, zu den Bürgern, zu den Proletariern kann nicht in einem Kapitel gegeben werden. Auf 600 Seiten habe ich die Stimme aller dieser Revolutionen sich selbst aussprechen lassen. Denn nach einem großen Worte Franz Rosenzweigs braucht man nicht über die Völker kluge Bemerkungen zu machen; sondern sie selber schreiben ihre Geschichte in jenen erhöhten Augenblicken unseres Geschlechts, in denen die Seele, aufs äußerste getrieben, sich selbst schlicht und wahrhaftig ausspricht. Die großen Worte, die unsere Welt auf den Kopf gestellt haben und dank derer nun heut diese ganze Welt nicht als seelenloser Feuerball sich dreht, sondern uns, ihren Bewohnern, als Ganzes dienstbar zu werden vermöchte – diese großen Worte sind alle Revolutionsmanifeste, und sie umfassen den Diktatus Papae, die schmetternden Worte Gregors VII., die 95 Thesen Luthers, die Menschenrechte der französischen Revolution. Sie umfassen aber auch die Deliberation de Statu Imperii des Papstes Innozenz III., die Great Remonstrance des englischen Parlaments und die bolschewistischen Funksprüche an ALLE.“29

Und mit dieser Ansprache, die sich potentiell an alle Menschen richtet, ist eine Endstufe im Revolutionenablauf erreicht, die nicht weiter gesteigert werden kann. Alle in der Wirklichkeit noch unter Unterdrückung und ungerechter Behandlung leidenden Menschen und Völker sind von der Ansprache der russischen Revolution schon mitgedacht worden: „Die Weltrevolution 1917 ist die letzte einheitliche Zeiterneuerung, ist die letzte Totalrevolution der Welt, weil von nun an viele Rhythmen gleichzeitig den einen Weltraum durchsingen werden. Die menschliche Gesellschaft ist durch Umwälzungen endlich in den einheitlichen Weltraum hineingehoben. Um diesem leblosen Raum nicht zu erliegen, müssen fortan viele uns gehörende Rhythmen, also der Rhythmus der christlichen Ära, die Kalender des Jahrtausends, des Halbjahrtausends, der Großjahrhunderte, der Generation, des Sonnenjahres, des Tages, gleichzeitig in uns eintreten und durch uns hindurchschwingen.“30

Von der Vergangenheit zum Miterlebnis: „Out of Revolution“

Einen weiteren Akzent seiner Revolutionsschriften bildete die amerikanische, vollständig überarbeitete Ausgabe „Out of Revolution“. Aus seinen ersten Erfahrungen als Universitätslehrer in der Neuen Welt konzipierte er das Werk nicht für die akademische Welt Europas, sondern für die ganz anders ausgerichteten Erwartungen des amerikanischen Bildungsbetriebes. Im Anspruch ist das Werk wesentlich eingängiger geschrieben und spricht die Leser häufig direkt an: „Let us try to read world history as our own autobiography.“31 Für Eugen Rosenstock-Huessy ist Politik keine Theorie, sondern die Bühne vulkanischer Stunden und emotionaler Erfahrungen, gefährlich und extrem. Deshalb war das 20 Jahrhundert für Eugen Rosenstock-Huessy lange vor Eric Hobsbawm das Zeitalter der Extreme! In der Revolution erfahre der Mensch den Klimax seiner Erfahrungswelt. Diese extremen Momente seien selten und bildeten die Ausnahme. Die „Great Hours“ sind sicher nicht die Sternstunden Stefan Zweigs, dafür umso mehr die von Eugen Rosenstock selbst seit 1920 hervorgehobenen „Hochzeiten“, in Anknüpfung an die high times von Thomas Hobbes32, wie er in seiner begriffsgeschichtlichen Studie bemerkte: „Yet in the hours of danger the simplest emotions return and throw blind millions back into the ruts in which the car of destiny is driven.“ 33 Deshalb seien die wirklich großen Revolutionen „the test of the unity of mankind.“34 In dieser Phase ereigne sich etwas fundamentales für die Menschheitsgeschichte. Fundamentale Möglichkeiten werden zur Sprache, zum Ausdruck gebracht und damit sichtbar. Aber es werden in diesem revolutionären Prozess nicht zufällig irgendwelche Lebensformen zum Ausdruck gebracht. Nur die notwendigen (necessary) Revolutionen setzen sich langfristig durch, sie sind also keine Resultate einer beliebig wählbaren individuellen Meinung oder Ausprägung. Bis am Ende dieses Prozesses wirklich alle notwendigen Revolutionen repräsentiert sind. „But we found a deeper secret – the monologues of the different revolutionaries form a dialogue among themselves.“ Mit diesem Dialog der Völker und der immer weiter voranschreitenden wirtschaftlichen Integration der Menschheit erwachse allerdings im 3. Jahrtausend eine neue Gefahr. Die Gefahr der totalen Kontrolle durch betriebswirtschaftliche Sachzwänge, durch die totale Kommerzialisierung sämtlicher Lebensbereiche. Deshalb müsse sich gerade der moderne Mensch seiner ursprünglichsten Instinkte erneut versichern: „In the future many buried instincts will have to be revived in the white man if he is really to survive in this age of „childhood regained“ into which the senile world is plunging. Here senility is no metaphor. In this world of one-child families, old age pensions, birth control and the abolition of illness, youth is in a minority, with its proper contribution neglected, as was old age a thousand years ago.“35 Es müsse zu einer Balance zwischen globalen ökonomischen Fähigkeiten und lokalen Gruppenbildungen verschiedenster Art kommen: „It will become the pride of such a relapse to be anti-universal and limited to a single local or social group. Economy will be universal, mythology regional. Every step in the direction of organizing the world’s economy will have to be bought off by a great number of tribal reactions.“36 Schließlich sei es das charakteristische Merkmal echter Revolutionäre, „gegen den Strom zu schwimmen“.37 Und bei dieser Aufgabe könne keine Theorie helfen: „It was the political and intellectual blindness of the liberal economist to mistake his tools for ideals. It is clear that these systems are ideal types. In a way they are timeless. In reality some of them have always coexisted; not one of them can stand alone.“38 „Youth and adults, men and women, children and old men, will live and worship in different ways. This change during the course of life is becoming more and more the great issue for a mechanized world.”39

Insbesondere der deutschen Nation stellte sich aus seiner Revolutionsperspektive die Zukunft als Erziehungsnation:
Die Weltmobilmachung hat der einzelnen Nation in der Welt eine Aufgabe zuerkannt, Kraft deren die Nation eine neue, bisher unerhörte, dritte Gestalt gewinnt, Kirchennation im Mittelalter, Staatsnation in der Neuzeit, muß sich die Nation in der Endzeit des gesellschaftlichen Zustandes zur Erziehungsnation umbilden, zur Gegenspielerin gegen die hemmungslose Verwirtschaftung des Menschen.40

Ein Anspruch, den das geistig abgewirtschaftete Land im 3. Jahrtausend weniger denn je zu erfüllen in der Lage ist und dieser Niveauverlust erfaßt die Lehrer nicht weniger als die Schüler, von der immer absurder wuchernden Wissenschaftsbürokratie ganz zu schweigen.

aus: Mitteilungen 2023-12

  1. Heinrich August Winkler, Die Deutschen und die Revolution. Eine Geschichte von 1848 bis 1989, München: C.H. Beck 2023, S.142ff. 

  2. Moritz Rudolph, Tocqueville global. Das Phantom des schrecklichen Westens, in: Merkur, 77.Jg., H.893 (2023, Okt.), S.84-91. Eine relativen Niedergang des Westens konstatiert auch Heinrich August Winkler: Ders., „Wir haben es mit einer Weltkrise zu tun“, in: Handelsblatt Nr.243 v. 15.12.2023. 

  3. Eugen Rosenstock, Die europäischen Revolutionen. Volkscharaktere und Staatenbildung, Jena: Eugen Diederichs Verlag 1931, S.IV. 

  4. Eugen Rosenstock-Huessy, Out of Revolution. Autobiography of Western Man, New York: William Morrow 1938, S.720. 

  5. Eugen Rosenstock-Huessy, Die Zeitweiligkeit der Sprache, in: ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, Bd.1, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1963, S.695/696. 

  6. Ernst Vollrath, Revolution und Konstitution als republikanische Grundmotive bei Hannah Arendt, in: Hannah Arendt und die Berliner Republik. Fragen an das vereinigte Deutschland, Berlin: Aufbau-Verlag 1996, S.136. 

  7. Heinrich August Winkler, Die Deutschen und die Revolution. Eine Geschichte von 1848 bis 1989, München: C.H. Beck 2023. Vgl. auch: Heinrich AugustWinkler, Der Fortschritt als Fessel. An ihrem Anfang stehen tiefe Systemkrisen: Was die deutschen Revolutionen von 1848, 1918 und 1989 miteinander verbindet, in: FAZ 290 v. 13.12.2023. 

  8. Heinrich August Winkler, Die Deutschen und die Revolution. Eine Geschichte von 1848 bis 1989, München: C.H. Beck 2023, S.145. 

  9. Crane Brinton, Anatomie der Revolution <1938>, hrsg.v. Manfred Lauermann, Wien; Leipzig: Karolinger Verlag 2017. 

  10. Heinrich August Winkler, Die Deutschen und die Revolution. Eine Geschichte von 1848 bis 1989, München: C.H. Beck 2023, S.129. 

  11. Crane Brinton, The Lives of Talleyrand, New York 1936. In einem wenig schmeichelhaften Vergleich hat Eugen Rosenstock-Huessy Carl Schmitt mit dem durchtriebenen Talleyrand verglichen. 

  12. Crane Brinton, Rez. Out of Revolution. Autobiographie of Western Man, by Eugen Rosenstock-Huessy, in: Political Science Quarterly, Vol. 54, No. 2 (1939, Jun.), S.286-288. Eugen Rosenstock-Huessy, Rez.v. The Anatomy of Revolution by Crane Brinton: Six Contemporaneous Revolutions by Roger Bigelow Merriman, in: The American Historical Review, Vol. 44, No. 4 (1939, Jul. 24), S.882-884. 

  13. Eugen Rosenstock-Huessy, Rez.v. The Anatomy of Revolution by Crane Brinton: Six Contemporaneous Revolutions by Roger Bigelow Merriman, in: The American Historical Review, Vol. 44, No. 4 (1939, Jul. 24), S.882-884. 

  14. Eugen Rosenstock, Das Geschichtsbild der europäischen Parteien. Eine Erörterung (August 1917), in: ders., Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution (Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge), Würzburg: Patmos-Verlag 1920, S.37ff. 

  15. Franz Rosenzweig an Eugen Rosenstock, 15.12.1917, in: Franz Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, hrsg.v. Rachel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann, unter Mitwirkung von Bernhard Casper, 1. Bd. 1900-1918 (= Franz Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk, Gesammelte Schriften; Bd.I), Haag: Martinus Nijhoff 1979, S.490. 

  16. Die in der Literatur zur Spengler-Rezeption bisher vollkommen übergangen worden ist. Einordnung bei: Wolfgang Ullmann, Die Entdeckung des neuen Denkens. Das Leipziger Nachtgespräch und der Briefwechsel über Judentum und Christentum zwischen Eugen Rosenstock und Franz Rosenzweig, in: stimmstein. Jahrbuch der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft, Bd.2, hrsg.v. Bas Leenman, Lise van der Molen, André Sikojev, Eckart Wilkens, Moers: Brendow Verlag 1987, S.175ff. 

  17. Lenin, Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, Berlin-Wilmersdorf: Verlag der Wochenschrift Die Aktion (Franz Pfemfert) 1918. Der Zusammenhang von Weltkrieg und Weltrevolution war schon von Karl Marx und Friedrich Engels blutrot an die Wand gemalt worden. 

  18. Hans Thieme, Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973), in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, 106. Bd. (1989), S.9. zuerst in: Hans Thieme, Die Epochen des Rechts, in: JZ, 8.Jg., Nummer 14/15, 31. Juli 1953, S.418/419. Der Aufsatz von Eugen Rosenstock-Huessy zur Periodisierung erschienen zuerst in der Zeitschrift der Volkshochschulbewegung: Rosenstock, Eugen, Der Neubau der deutschen Rechtsgeschichte, in: Die Arbeitsgemeinschaft, 1.Jg., H.5, (1919, Nov.), S.133-140; Ders., Der Neubau der deutschen Rechtsgeschichte, in: Die Arbeitsgemeinschaft, 1.Jg., H.6, (1919, Dez.), S.172-181. 

  19. Eugen Rosenstock-Huessy, Die Einheit des Europäischen Geistes, in: ders., Das Geheimnis der Universität. Wider den Verfall von Zeitsinn und Sprachkraft. Aufsätze und Reden aus den Jahren 1950 bis 1957, hrsg.v. Georg Müller, Stuttgart: W.Kohlhammer Verlag 1958, S.71. 

  20. Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus. Schriften 1915-1920, hrsg. von Helwig Schmidt-Glintzer (= MWG I/19), Tübingen: J.C.B.Mohr(Paul Siebeck) 1984, S.226. Meins Wissens harrt seine Deutung einer „niederländischen“ Revolution noch einer Ausdeutung als länderübergreifende Reformation. 

  21. Siegmund Hellmann,, Die großen europäischen Revolutionen. Eine Gegenwartsstudie, München und Leipzig: Duncker & Humblot 1919. 

  22. Georg Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung, Berlin: Verlag von O. Häring 1906, S.29. 

  23. Gustav Radbruch, Wilhelm Meisters sozial-politische Sendung. Eine rechtsphilosophische Goethe-Studie, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, 8.Jg., H.2 (1919-20), S.159. 

  24. Imanuel Geiss, Vorwort, in: Ansichten einer künftigen Geschichtswissenschaft 2. Revolution – Ein historischer Längsschnitt, hrsg.v. Imanuel Geiss; Rainer Tamchina, München: Carl Hanser Verlag 1974, S.7. 

  25. Eugen Rosenstock, Die europäischen Revolutionen. Volkscharaktere und Staatenbildung, Jena: Eugen Diederichs Verlag 1931, S.23. 

  26. Eugen Rosenstock, Wie lange noch Weltgeschichte, in: ders., Das Geheimnis der Universität. Wider den Verfall von Zeitsinn und Sprachkraft. Aufsätze und Reden aus den Jahren 1950 bis 1957, hrsg.v. Georg Müller, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 1958, S.216. 

  27. Eugen Rosenstock, Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, Sonderausdruck aus der Festgabe der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät in Breslau für Paul Heilborn zum 70. Geburtstag, Breslau: M.u.H. Marcus 1931, S.83-124, hier S.36. Der Beitrag erschien auch als Sonderabdruck mit anderer Seitenzählung. 

  28. Richard Lefebvre des Noettes, La Force Motrice Animale à traverse les ages, Nancy; Paris; Strasbourg: Berger-Levrault 1924; Richard Lefebvre des Noettes, La „Nuit“ du Moyen Age et son Inventaire, in: Mercure de France, 43 Année, No. 813 (1932, Mai), S.572-599. 

  29. Eugen Rosenstock, Wie lange noch Weltgeschichte, in: ders., Das Geheimnis der Universität. Wider den Verfall von Zeitsinn und Sprachkraft. Aufsätze und Reden aus den Jahren 1950 bis 1957, hrsg.v. Georg Müller, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 1958, S.216. 

  30. Eugen Rosenstock, Der Datierungszwang und Giuseppe Ferrari (1812-1876), in: ders., Das Geheimnis der Universität. Wider den Verfall von Zeitsinn und Sprachkraft. Aufsätze und Reden aus den Jahren 1950 bis 1957, hrsg.v. Georg Müller, Stuttgart: W.Kohlhammer Verlag 1958, S.43. 

  31. Eugen Rosenstock-Huessy, Out of Revolution. Autobiography of Western Man, New York: William Morrow 1938, S.8. 

  32. Eugen Rosenstock, Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, Sonderausdruck aus der Festgabe der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät in Breslau für Paul Heilborn zum 70. Geburtstag, Breslau: M.u.H. Marcus 1931, S.40. 

  33. Eugen Rosenstock-Huessy, Out of Revolution. Autobiography of Western Man, New York: William Morrow 1938, S.710. 

  34. ebenda S.712 

  35. ebenda S.717 

  36. ebenda S.718 

  37. ebenda S.719 

  38. ebenda S.719 

  39. ebenda S.730 

  40. Eugen Rosenstock, Die europäischen Revolutionen. Volkscharaktere und Staatenbildung, Jena: Eugen Diederichs Verlag 1931, S.529ff.