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Sven Bergmann: Rudolph Sohm und das Kirchenrecht

„Das Wesen der Kirche ist geistlich, das Wesen des Rechts ist weltlich.“

Der Kölner Kardinal Woelki hat in dem von ihm beauftragten zweiten, streng juristischen Gutachten zum Mißbrauch in der katholischen Kirche eine Entlastung gesehen. Damit hat er gleichzeitig eine Selbstbeschreibung seines Amtes gegeben. Wohl kaum ein anderer Rechtsgelehrter hat dem Verhältnis von Geistlichem und Weltlichem so tief nachgespürt wie Rudolph Sohm. Heute ist der Jurist vergessen. Allenfalls über den Begriff des Charisma wird er als Anreger für Max Weber oder Carl Schmitt angeführt. Dabei war der Jurist des Jahrgangs 1841 (gleichaltrig mit Otto Gierke) wenn nicht der berühmteste Jurist seiner Zeit. Der klassische Germanist hatte 1884 mit seinen Institutionen die führende Einführung in das Römische Recht vorgelegt und bis zum letzten Atemzug 1917 an seinem zweibändigen Kirchenrecht gearbeitet. Damit legte er bahnbrechende Werke in allen drei Kontinenten der Rechtsgeschichte: Romanistik, Kanonistik  und Germanistik vor. Besonders umstritten war seine Feststellung aus dem ersten Band des Kirchenrechts von 1892, daß das Kirchenrecht im Widerspruch zum Wesen der Kirche stehe: „Die Kirche des Urchristentums (Ekklesia) ist eine rein geistliche, die katholische Kirche eine geistlich-weltliche, die evangelische Kirche im Rechtssinn, wie sie heute vor uns steht, eine rein weltliche Organisation.“ Sohm sah sich in der Tradition Martin Luthers, dessen eigentliche Leistung im Bestehen auf der Unsichtbarkeit der Kirche Christi gegen den Katholizismus liege:

Durch die Unterscheidung der unsichtbaren (nur dem Gläubigen sichtbaren) Kirche Christi von der rechtlich verfaßten Kirche befreite Luther sein religiöses Leben von dem römisch-katholischen Kirchenrecht, von der geistlichen Macht der kirchlichen Organisation. (Rudolph Sohm, Wesen und Ursprung des Katholizismus (= Abhandlungen d. Kgl. sächs. Gesellsch. d. Wissenschaften: Phil.-hist. Kl.; Bd. 27,10), Leipzig: B.G. Teubner 1909, S.344.)

Das Aufkommen der katholischen Kirche hat er als den wichtigsten Vorgang „in der ganzen Kirchengeschichte“ bezeichnet, der noch nicht recht verstanden sei. „Durch den Katholizismus ist alles Folgende bedingt, auch die Reformation als die Gegenbewegung gegen das katholische Prinzip.“ Erst durch den Impuls der christlichen Reformbewegung und im Konflikt mit dem Kaiser werde aus der „Griechenkirche“ Altroms die Staatskirche und der Kirchstaat. „Die Welt sollte zu einem Reich Christi werden. Aber das Reich Christi verwandelte sich vielmehr in ein Reich der Welt.“

Auch Sohms Spätwerk über „Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians“ belegt dieses Forschungsinteresse für das „Wesen des Katholizismus“. Schon der Titel verrät das Zwiegespräch mit Adolf von Harnack. Immerhin hatte sich der jüngere Theologe in der sechsten Vorlesung seiner Jahrhundertreihe „Das Wesen des Christentums“ von 1900 eingehend mit dem Verhältnis „Das Evangelium und das Recht“ befaßt und insbesondere mit der These Sohms und der Weltanschauung Leo Tolstois:

Sohm ist so weit gegangen, daß er in seinem Überblick über die älteste Entwicklung der Kirche geradezu einen Sündenfall der Christenheit in dem Momente annimmt, wo sie Rechtsordnung in ihrer Mitte Raum gewährt hat. Indessen hat er doch das Recht auf seinem Gebiete nicht antasten wollen. Jedes Recht hat ihm aber Tolstoi im Namen des Evangeliums abgesprochen. (Adolf Harnack, Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin, 4. Aufl., Leipzig: J.C. Hinrichs‘sche Buchhandlung 1901, S.68ff. Das Zwiegespräch scheint bisher weder bei „Schmittianern“, noch „Weberianern“ unter der Lupe gewesen zu sein.)

Bei aller Kritik an Methode und Ergebnissen des Kirchenrechts im Verständnis Rudolph Sohms hat Walther Schönfeld festgehalten: „niemals seit den Tagen Luthers, in dessen großem Schatten er ficht, ist das Problem von Recht und Religion als Problem des Kirchenrechts mit gleicher Wucht und Leidenschaft uns vor die Seele gerückt.“

Rudolph Sohm war als Mitbegründer des Nationalsozialen Vereins und Berater Friedrich Naumanns ein scharfer Kritiker der sozialdemokratischen „Irrlehre“. Er vermisste deren vaterländische Orientierung. Dabei war der „Sozialaristokrat“ Sohm ein engagierter Kämpfer für die politische, nationale Lösung der sozialen Frage. Das einheitliche Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) hatte er als Repräsentant der Jurisprudenz vor dem Deutschen Reichstag verteidigt. In seinem Nachruf hat sein Freund Friedrich Naumann an den starken Charakter Sohms erinnert, eine „fast verschwundene Art politischer Professoren“. Umstritten sei zwar alles, was er schrieb, „denn überall verwarf er bisherige gangbare Meinungen, aber es scheint, als ob seine kirchen- und rechtsgeschichtlichen Auffassungen durch die weiteren Forschungen jüngerer Arbeitskräfte erfolgreich unterstützt werden.“ Als entschiedener Kritiker der romantischen Idee einer Verschmelzung von Staat und Kirche zu einem christlichen Staat wandte er sich gegen den Hofprediger Stöcker und dessen Bündnis von Thron und Altar. Rudolph Sohms Rede „Der Christ im öffentlichen Leben“ auf der Tagung der „Berufsarbeiter der Inneren Mission“ vom 23. bis 26. September 1895 in Posen hatte tiefen Eindruck auf Friedrich Naumann gemacht, der sich daraufhin grundlegend neu orientierte. „Leidenschaftlich überspitzend griff Sohm die Stahlsche Rechtslehre an“, den autoritären „Christlichen Staat“. Gerade in der Gründungsphase des evangelisch-sozialen Bewegung seit 1896 in Erfurt verliefen hier tiefe Differenzen innerhalb des deutschen Protestantismus. Nur so ist auch die Namensgebung der Bewegung Naumanns als „national-sozialer“, nicht „christlich-sozialer“ Verein verständlich. Die gleichen Bedenken wie Sohm artikulierte auch Adolf von Harnack. Nach dem Grundsatz der Reformation waren Weltliches und Geistliches „streng“ zu trennen. Die sozialdemokratische Ideologie wurde wegen ihres unchristlichen Internationalismus und Revolutionismus abgelehnt.

Rudolph Sohm hatte Eugen Rosenstock 1912 in Leipzig habilitiert:

One of the leading Protestants of my own life was so anti-Catholic that I thought he would not hold with the adoration of the saints. He wasn’t my teacher, but I revered him very much, and I began my career under him. He allowed me to begin to teach in his faculty. And I once talked to him about this problem of the Protestants and their relation to the saints. And he burst forth and said, “Well, if we did not look up to these sacred and saint souls in our sky, we wouldn’t deserve to have been ever led out of Egyptian darkness” (Universal History 1967)

Bei Rudolph Sohm konnte er das „Geburtsgeheimnis der abendländischen Kultur“ studieren. Eugen Rosenstock verfolgte schon während seines Studiums, nach einer „großen Biographie“ und „Institutionenuntersuchungen“ den Plan einer Kirchengeschichte. Seine Dankbarkeit gegenüber Rudolph Sohm hat er nicht nur mit seinem Beitrag zu dessen goldenem Doktorjubiläum dokumentiert, sondern vor allem mit seinem Aufsatz über die „Epochen des Kirchenrechts“. Die umfangreiche Rezension des Opus Magnum von Sohm über Gratian erschien in drei Abdrucken, zuerst im April 1919 in der katholischen Zeitschrift „Hochland“, 1920 im Buch „Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution und schließlich 1927 im Rahmen der Gemeinschaftsschrift mit Joseph Wittig „Das Alter der Kirche“. Schon dies unterstreicht die zentrale Bedeutung dieser „Zeit-Schrift“. Eugen Rosenstock kannte bei Abfassung seiner Würdigung bereits die Fachbesprechung von Ulrich Stutz in der Kanonistischen Abteilung der „Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte“ von 1918. Die Redaktion des „Hochland“ schickte Eugens Rezension die Bemerkung voraus: „(Dieses bedeutende Referat eines nichtkatholischen Mitarbeiters, der tiefer und entscheidender als selbst viele Katholiken das hier vorliegende unabsehbar fruchtbare Problem empfindet, geben wir mit dem Vorbehalt wieder, daß auch ein Vertreter des katholischen Kirchenrechts dazu Stellung nehme, was gegenwärtig zu erreichen nicht gelingen wollte.).“ (Eugen Rosenstock, Die Epochen des Kirchenrechts, in: Hochland, 16.Jg. (1919, April), S.64-78. Ob Carl Schmitt diesen Wink in seinem „Römischer Katholizismus und politische Form“ aufgegriffen hat?) Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Eugen Rosenstock bereits intensiv in die fachübergreifende Diskussion zur Genese der westlichen Welt eingearbeitet:

Seit Troeltsch und Max Weber vom Ursprung des modernen Kapitalismus gehandelt haben, ahnt die Welt, daß hier ein religiöses Problem vorliegt. Jetzt merkt das auch die katholische Welt. Ein junger Katholik, Franz Müller, hat soeben eine Abhandlung über Funktionen und Psychologie des modernen Unternehmertums im 24. Jahrgang der katholischen „Sozialen Revue“ veröffentlicht. Franz Müller nun ist Sombart-Schüler. Es ist eigenartig, wie sich heut die Fäden aus dem Lager der Universität und der christlichen Ecclesia magistra hinüber- und herüberziehen. (Eugen Rosenstock, Unternehmer und Volksordnung (zuerst veröffentlicht 1924), in: Werner Picht und Eugen Rosenstock, Im Kampf um die Erwachsenenbildung 1912 – 1926 (Schriften für Erwachsenenbildung; 1.Bd.), Leipzig: Quelle & Meyer 1926, S.176)

Durch seine Forschungen war Rudolph Sohm zu der Einsicht gekommen, daß zwischen dem ersten und zweiten Jahrtausend ein zentraler Umschwung in der Kirchengeschichte einsetzt:

Die Siebenzahl der Sakramente, die Umbildung der Kirchenrechtswissenschaft aus Theologie in Jurisprudenz, die Entstehung der Papstmonarchie, alles vollzieht sich gleichzeitig und in innerem Zusammenhang miteinander. Um 1200 ist im Abendlande der altkatholische in den neukatholischen Kirchenbegriff, die altkatholische in die neukatholische Kirche, das altkatholische in das neukatholische Kirchenrecht verwandelt worden. Die treibende Kraft aber, welche die ganze Entwicklung herbeiführte, lag, wie aus dem soeben Gesagten von selbst hervorgeht, in der großen kirchlichen Reformbewegung, die um die Mitte des 11. Jahrhundert einsetzte und im 12. Jahrhundert zum Ziel gelangt war. (Rudolph Sohm, Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians, München und Leipzig: Verlag von Duncker & Humblot 1918, S.589.)

Dieser Einsicht ist Eugen Rosenstock-Huessy gefolgt und hat auf dieser Periodisierung sein Werk über „Die Europäischen Revolutionen“ aufgebaut. Gerade 1918 verloschen all die großen Dynastien Welf, Habsburg, Zollern, Wittelsbach, die sich alle um 1100 erhoben hatten. Sein Werk setzt mit der „Papstrevolution“ des 12. Jahrhundert ein und beschreibt die Korrespondenzen der Völker des zweiten Jahrtausends. Der Bruch des Geschichtsbildes durch Renaissance und Reformation werde geheilt, darum habe vor allem Rudolph Sohm gerungen. An Stelle der protestantisch-neuzeitlichen Periodisierung mit Einschnitten bei Konstantin und der Kirchenspaltung rücke nun der Übergang vom ersten zum zweiten Jahrtausend und die Kirchenreform in Verteidigung gegen die theokratische Anmaßung weltlicher Herrscher:
Die Christianisierung des germanischen Staates führt diesen also in rein geistlichen Bereichen zu Machtansprüchen, durch die das pneumatische, sakramentale Gefüge der Kirche durchlöchert zu werden droht. Sohm zeigt, wie die bloße Notwehr es ist, die – im Investiturstreit – das Neue gebiert, das der Kirche die Freiheit gegen den zwar weltlichen, aber doch eben auch christlichen Arm des Staates sichert, das ihr weltliche Handlungsfähigkeit und Selbstverteidigung gegen die Welt, Menschensatzung und Körperschaftsrecht ermöglicht.
Deshalb ist die Verteidigung der Kirche und die teilweise Verpanzerung der Kirche mit der Waffe des Rechts auf einer höheren Ebene aufgehoben und legitimiert: Gegen die Allgewalt der Blutsbande des hohen Adels steht der Papst bewußt als weltlicher Politiker, Staatsmann und Regent im Felde. (Durchführung des Zölibats, Kaiserwahlbeeinflussung, Ehehinderungsgesetzgebung, Ehescheidungsrecht, Bistumsverwaltung durch Koadjutoren, Ausrottung des staufischen Bluts noch in die weibliche Linie [Albrecht von Habsburg] hinein: das alles muß unter diesem einheitlichen Gesichtspunkt gesehen werden.) Gegen das Blut wird nicht nur der Kirchenstaat, sondern auch der Geist heraufbeschworen, gegen das Stammesrecht die Philosophie und Jurisprudenz der Alten.

Karl der Große trete in Nachfolge der Caesaren, während Friedrich Barbarossa in ein neues Reich und eine neue Zeit falle. Dabei sollte nicht vergessen werden, daß der Papst als planetarische Institution zwar nicht in Deutschland, aber zweifellos an vielen Orten der Welt weiter gefestigten Familien- und Geschlechterverbänden gegenübersteht.

Die Kirchenrechtler der Neuzeit haben aus der Kirche eine Anstalt, einen Verein, eine Korporation, eine juristische Person „gemacht“. Rudolf Sohm hat dies 300jährige Trachten der „Ulrich Stutze“ niedriger gehängt, und die Naturrechtler und Aufklärer haben ihm das mit unauslöschlichem Haß und Totschweigen vergolten. Naturgemäß. Denn die Kirche und Rudolf Sohm waren und sind nicht von dieser Welt. Die Aufklärer aber wollten und wollen die Kirche in die Natur der Dinge hinunterzerren. Sie unterhalten Gesandtschaften beim Vatikan, weil das für ihre „Staaten“ klug ist; Mussolini gab dem Papst die Vatikanstadt aus Machiavellismus. Im vierten Aspekt ist also das Papsttum Macht unter Mächten. Das ist die Natur der Kirche, ihre alle Verständigen zum Einhalten zwingende Eigenschaft. Natur ist Raumding. (Eugen Rosenstock, Der Datierungszwang und Giuseppe Ferrari (1812-1876), in: ders., Das Geheimnis der Universität. Wider den Verfall von Zeitsinn und Sprachkraft. Aufsätze und Reden aus den Jahren 1950 bis 1957, hrsg.v. Georg Müller, Stuttgart: W.Kohlhammer Verlag 1958, S.40)

1964 schickte Eugen Rosenstock seinem alten Freund Erwin Jacobi seine im Selbstverlag gedruckte Abrechnung mit der Jurisprudenz „Die Interims des Rechts“ mit der Widmung:

„Kirchenrechten, Staatenrechten
Hast Du nachgedacht
Kirchenunrecht, Staatenunrecht
Hat mich aufgebracht
Weihnachten 1964“

Im gleichen Jahr hatte sich der Leipziger Jurist und Kirchenhistoriker letztmals über „Rudolf Sohm und das Kirchenrecht“ geäußert. Er sprach zum Thema „als Schüler Sohms, als einer seiner Nachfolger in Sohms Professur für Kirchenrecht und vor allem als überlebender Mitherausgeber von Sohms posthumem Nachlaß“. Insbesondere stellte er sich der Aufgabe, die These Sohms aus dem ersten Band des Kirchenrechts: „das Kirchenrecht steht mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch“ zu präzisieren. Er konnte dabei auf eigenen Forschungen aufbauen, die er in Anlehnung an Ulrich Stutz 1913 just zu Gratian, dem vermeintlichen Vater des Kirchenrechts, erstmals veröffentlicht hatte. Sein letztes Wort zu Rudolph Sohm faßte er im Abstand von 50 Jahren zusammen:
Die Anerkennung geschichtlichen echten Kirchenrechts durch Sohm gilt daher nur für die Zeit des christlichen Mittelalters. Von der neuzeitlichen Aufklärung an ist nach Sohm die Volksgemeinschaft, der Staat, die einzige Quelle und der einzige Herr des Rechts. Mit dieser Zeitwende ergibt sich für Sohm der Widerspruch zwischen dem Wesen der Kirche Christi als einer geistlichen Gemeinschaft und der äußeren menschlichen Gemeinschaft des Volkes und Staates als einzigem Ursprung des Rechts. Damit wird für Sohm echtes Kirchenrecht unmöglich. (Erwin Jacobi, Rudolph Sohm und das Kirchenrecht, in: Forschungen und Fortschritte, 38.Jg., H.11 (1964, November), S.347)

An die Stelle echten Kirchenrechts trete „staatliches Religionsgesellschaftsrecht“ für Anhänger christlicher wie nichtchristlicher Religionsgemeinschaften. Für Eugen Rosenstock hatten staatliche Souveränität und kirchliche Hierarchie seit 1918 ihre überragende Macht eingebüßt, oder um es mit Max Weber zu formulieren, die Selbstverständlichkeit ihres jeweiligen Monopolanspruchs psychischer oder physischer Gewaltsamkeit. Das Kirchenrecht Rudolph Sohms bildete einen wichtigen Bezugspunkt des Gesprächs von Eugen Rosenstock und Erwin Jacobi über ein halbes Jahrhundert, bis sich der Kreis 1964 rundete.

Religio Depopulata

In seiner Breslauer Zeit bezog Eugen Rosenstock-Huessy Position im „Fall Wittig“. Der Breslauer Pfarrer Joseph Wittig geriet durch seine „religiös-pädagogische Betätigung“ und seinen Eintreten für eine Volkskirche in Ungnade der katholischen Hierarchie in Person des Fürstbischofs und Kardinals Karl Bertram. Nach der päpstlichen Indizierung seiner Bücher 1925 und dem Entzug der Lehrbefugnis gipfelte das Verfahren 1926 in seiner Exkommunikation. In dieser existenzbedrohenden Lage unterstützte Eugen Rosenstock-Huessy den Verfemten moralisch wie politisch und setzte sich für die Anerkennung von dessen Pensionsansprüchen bei der preußischen Kultusverwaltung ein. Mit dem Katholiken Joseph Wittig konnte er in Breslau an das Leben im Zeichen von Patmos anknüpfen, einer Gemeinschaft, die ihn mit Werner Picht, Hans und Rudolf Ehrenberg, Karl Barth sowie Leo Weismantel verband. Im Berliner Verlag Lambert Schneider erschienen zunächst seine Schrift „Religio depopulata“ und schließlich von 1927 bis 1928 das Gemeinschaftswerk „Das Alter der Kirche“, das neben Beiträgen zur christlichen Kirche und seinem „Sohm-Aufsatz“ im dritten Band Akten und Gutachten zum Verfahren gegen Joseph Wittig dokumentierte. „Religio depopulata“ sprach vom „Erschöpfungszustand“ der Papstkirche, von einer „Kirche ohne Volk“. Kaum erkannt wurde, daß der Autor hier an die Kriegsschrift von Léon Bloy, „Jeanne d’Arc und Deutschland“ von 1915 anknüpfte, die die Anklage gegen den Breslauer Bischof metaphorisch auf die Spitze trieb. Bloy hatte als „Religio depopulata“ die „kriminelle Taubheit“ des Erzbischofs von Reims und den „unerbittlichen Ungehorsam dieses Hohepriesters“ charakterisiert. Implizit rückte Eugen Rosenstock Wittig in Parallele zur Volksnähe Jeanne d’Arcs. In seinem ersten Beitrag zu der Gemeinschaftsschrift mit dem Titel „Das Herz der Welt“ äußerte sich Eugen Rosenstock 1927 bestimmt über die „Armut der heutigen weltlichen Staatswissenschaft“. Das Drama zwischen Staat, Kirche und Volk werde nicht zur Kenntnis genommen, stattdessen beschränkten sich Juristen auf das jeweils geltende Recht des Staates:

Die Rechtswissenschaft kennt nur die Einrechtswelt des Erfolges, da sie dem jeweiligen Machthaber dient. Sie ist ihrem Wesen nach also bislang krasses Heidentum geblieben. Der Sinn der Kirche, die ständige Gegenbewegung des Kreuzes gegen die runden, glatten Tagesgrößen, das Geheimnis der europäischen Kultur also, ist für die Jurisprudenz noch keine Tatsache. (Eugen Rosenstock-Huessy, Das Herz der Welt, in: ders. und Joseph Wittig, Das Alter der Kirche, Bd.I, neu hrsg. von Fritz Herrenbrück und Michael Gormann-Thelen, Münster: agenda Verlag 1998, S.50)

Wie kaum ein zweiter hat Wolfgang Ullmann die Grundgedanken Eugen Rosenstock-Huessys aufgegriffen und im Blick auf das dritte Jahrtausend neu belebt:
Das ist eine Vereinfachung und zugleich eine Verharmlosung der Tatsache, daß auch in unserem pluralistischen Jahrhundert gerade die Religionen es sind, deren Fanatismus das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit zu unterhöhlen oder gar zu beseitigen droht. Denn genau das ist der Punkt, auf den Rosenstocks Analyse der Kirchengeschichte aufmerksam machen will: Auch dort, wo die religiöse Praxis längst aufgehört hat, von einer Bevölkerungsmehrheit getragen zu werden – gerade dort können im völlig irreligiösen säkularen Alltag, Traditionen wirksam sein, die gerade deswegen so schädlich sind, weil sie aus einem moralisch bedenkenlosen Fundamentalismus kommen oder Verhaltensstrukturen weiterführen, deren Äußerlichkeit sie zu keiner kritischen Reflektion mehr gegenüber jenen Traditionen befähigt, von denen sie abstammen.
(Wolfgang Ullmann, Ama quia durissimum. Imperativ der Menschlichkeit inmitten der Gefahr enthnokratischer Regression, in: Eugen Moritz Friedrich Rosenstock-Huessy (1888-1973), Tumult No.20, hrsg.v. Frank Böckelmann, Dietmar Kamper, Walter Seitter, Wien: Verlag Turia & Kant 1995, S.84)

Ob der Kölner Erzbischof noch ein Geistlicher ist?

aus: Mitgliederbrief 2021-07