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Sven Bergmann: Die „graue Eminenz” der Familie

Weiteres zum Protestantismus von Eugen Rosenstock-Huessy

Aus der preußischen Provinz Posen stammten nicht nur die Familien Rosenstock, Ehrenberg und Kantorowicz, sondern auch Paul Waldstein und seine vier Geschwister (Amalie, Charlotte, Dorothea, Julius (Juda)). Der am 5. Mai 1836 geborene Waldstein hatte Philosophie studiert und seinen Doktortitel an der Universität Breslau erworben. Als liberaler 48er wandte er sich dem Journalismus zu und wurde Vorkämpfer der Pressefreiheit. 1868 setzte er sich auf dem 3. Journalistentag in Berlin für eine Statistik aller polizeilichen Beschlagnahmungen und Prozesse gegen Presseorgane im deutschsprachigen Raum ein. Im Deutschland der Konfliktzeit mußte er seine oppositionelle Haltung gegen Bismarck mit einer kurzen Haft bezahlen und orientierte sich auch deshalb Richtung Südosteuropa. Zugänglich ist sein Aufsatz „Posener Zustände” aus dem Jahr 1862, der eine Bestandsaufnahme der preußischen Provinz von 1815 bis zu den Wahlergebnissen d.J. unternimmt. Darin sprach er sich gegen eine Bevorzugung der Deutschen aus. Jeder Bürger solle einen Beitrag leisten, „mag er nun Pole oder Deutscher, Katholik, Protestant oder Jude heißen.” Und im übrigen sei die Provinz Posen „die preußische Türkei.” Die Polen seien „erfahrene Guerillakrieger” und in den ca. 60.-70.000 Juden sah er ein „zukunftsreiches Element”. Als Journalist und Burschenschaftler war Paul Waldstein befreundet mit dem noch unbekannten Korrespondenten der Wiener Freien Presse, Theodor Herzl. Pauls Schwester Charlotte Waldstein (1833-1913) war verheiratet mit dem Schulleiter der gemischtkonfessionellen Samsonschule in Wolfenbüttel: Moritz Rosenstock, dem Vater von Eugens Mutter Paula. Paula hatte drei Schwestern sowie den Bruder Siegfried und besuchte in der Stadt Lessings das Lehrerinnenseminar (Paulas Schwester Agnes, verheiratet mit Justizrat Dr. Leo Wurzmann, hat ihre Memoiren hinterlassen: Lebenserinnerungen der Tochter von Dr. Moritz Rosenstock, Direktor der Samsonschule von 1871- 1887. Familie Wurzmann lebte in Frankfurt. Eugen nächtigte gelegentlich in der Beethovenstr. 55. Sein Cousin Reinhold starb im Kriegsjahr 1917).

Aber warum „graue Eminenz”? Als journalistischer Pionier war Paul Waldstein nicht nur publizistisch, sondern auch ökonomisch erfolgreich. Dank des blühenden Annoncenwesens konnte die neuartige Massenpresse Vermögen aus dem Nichts wachsen lassen oder pulverisieren. Daß sich Waldstein eher auf der Sonnenseite bewegte, zeigen seine Tätigkeiten als Vorstand der ehemals „Fürstenberg‘sche Montanwerke” in Böhmen oder als Aufsichtsrat der Ungarischen Ostbahn, auch wenn der „Budapester Börsenkrach” ihm 1873 schmerzhafte Verluste abverlangte. Jedenfalls konnte der „Großonkel” Eugens Vater Moritz Theodor 5.000 Thaler Startkapital zur Gründung der privaten „Terobank” in Berlin leihen. Ein Thaler entsprach nach 1871 dem Wert von drei Mark. Paul Waldstein war praktizierender Protestant und seit 1882 Mitglied der „Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich”. Auch für die Frauenbildung engagierte er sich. Außerdem verfügte er über viele Kontakte in höchste Kreise der k.u.k. Doppelmonarchie. „Er war einer der gründlichsten Kenner der Balkanverhältnisse und Balkanpolitiker und hatte auch wesentlichen Anteil an der Kandidatur des Prinzen Ferdinand von Sachsen-Koburg und Gotha für den bulgarischen Fürstenthron.” 1906 kurte Waldstein im gleichen Hotel Bauer in Bad Ischl wie Fritz Mauthner, einer der berühmtesten Schriftsteller seiner Zeit. Eugen Rosenstock sollte dessen Schriften zur Sprache und zum Atheismus nicht erst während des Krieges studieren. Als Eugen in seinem ersten Züricher Studiensemester der Blinddarm entfernt werden muß, besuchten ihn seine Mutter und Paul Waldstein aus dem nahen Wien und bestärkten ihn, sich taufen zu lassen. Paula Rosenstock hatte schon die Beschneidung ihres einzigen Sohnes verhindert. Kurz vor seinem Tod am 24.11.1914 berichtete der Junggeselle Eugen Rosenstock von einem Gespräch mit Theodor Herzl:

In Wien lebte mein Großonkel Dr. Paul Waldstein und nach Wiener Art hielt er, damals 58jährig, jeden Vormittag Hof im Café Himmelpfortgasse 25. Es war ein Januartag 1895, daß der damals 34jährige Dr. Herzl zu ihm trat: „Herr Dr. Waldstein, ich komme aus Paris. Was ich da erlebt habe, hat mir die Augen geöffnet. Ich habe als Burschenschaftler fest an die Assimilierung der Juden geglaubt. (Eugen Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2 Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1964, S.209. Es handelte sich um das Café im „Etablissement Ronacher” im 1. Bezirk; vormals das Palais des Prinzen Eugen)

Eigentlich als „Feuilletonist” und Theaterkritiker für die „Neue Freie Presse” nach Paris beordert, hatte Herzl seit 1893 prominent über die Regierungskrisen im Zuge der Dreyfus-Affäre berichtet (Neue Freie Presse: 10535 v. 19. Dezember 1893; 10603 v. 7. März 1894; 106019 v. 17. März 1894; 10874 v. 30. November 1894; 10906 v. 3. Januar 1895; 10939 v. 9. Februar 1895).

Wenn der Preuße Eugen Rosenstock, in einem Brief an Carl Schmitt, den Satz: „Deutschland lebt aus der Mehrzahl seiner Staatlichkeit.” als den wichtigsten Satz des deutschen Staatsrechts bezeichnet, so wird Paul Waldstein eine seiner intimsten Quellen aus der „Österreichischen Staatlichkeit” gewesen sein.

aus: Mitgliederbrief 2021-02