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Sven Bergmann: Um Eugen Rosenstock-Huessys Taufspruch

Unter dem Bann der Philologie, der Liebe zur Sprache hat Eugen Rosenstock-Huessy seine Jugendzeit beschrieben. Dieses Fach markierte zu seiner Zeit die „Königsdisziplin” der deutschen Universität, vielleicht noch mehr als die der Historiker. Die Entdecker Olympias und „Trojas” waren Philologen, Barthold Georg Niebuhr, Ernst Curtius und Theodor Mommsen leuchtende Vorbilder. Die Schätze der kanonischen Texte des Altertums und der vorbildlichen griechischen und römischen Geschichte für die allgemeine Bildung wurden von Philologen gehoben. Homer, Tacitus oder Seneca setzten die Maßstäbe menschlichen Handelns. Textfragen spornten Eugens Geist an. Er hat von seiner Begeisterung für die evangelischen Choräle seiner Schulzeit gesprochen, in Aufführungen seines Musiklehrers Hermann Kawerau, der gleichzeitig die Berliner Singakademie leitete und damit die Tradition der Bachpflege seit 1800 fortführte. Franz Rosenzweig hat ihn als „anima naturaliter christiana” benannt und Eugen Rosenstock-Huessy hat diesen Namen gerne angenommen und auf sich sitzen lassen. Aber welche Bewandtnis hat es mit seinem Taufspruch, Lukas 6.5?

An demselben Tage sah er jemanden am Sabbat arbeiten und sprach zu ihm: Mensch, wenn du weißt, was du tust, so bist du selig zu preisen; weißt du es aber nicht, so bist du verflucht und ein Übertreter des Gesetzes.

Weder in der Lutherbibel noch in modernen Bibelausgaben ist dieser Spruch zu finden. Warum wählte Eugen Rosenstock dann gerade diesen Text und keinen anderen?

Fritz Herrenbrück hat nach intensiven Quellenstudien das Taufdatum feststellen können und die Textstellen zum Taufspruch zusammengeführt (Herrenbrück, Fritz, Eugen Rosenstocks Taufdatum und Tauftext, in: Ins Kielwasser der Argo. Herforder Studien zu Eugen Rosenstock-Huessy. Festschrift für Gerhard Gillhoff zum 70. Geburtstag, hrsg.v. Knut Martin Stünkel, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S.31-57.). Aber warum schreibt Eugen Rosenstock, daß selbst der Pfarrer den Spruch nicht verstanden habe? Gibt es Indizien dafür, warum der Täufling gerade diesen Spruch wählte?

Einen Hintergrund bildet die gerade in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts intensive theologische Diskussion um die Quellen zu Lukas, den Arzt und griechisch gebildeten Evangelisten. Welche Quelle, welcher Papyrus ist zuverlässig? Die Quelle Q wie Adolf von Harnack nicht müde wurde zu betonen, oder kann daneben auch der sogenannte Codex Bezae Codex D bestehen? Immerhin handelte es sich bei diesem um eine der ältesten erhaltenen Papyryhandschriften aus dem 6. Jahrhundert. Der Papyrusforscher James Randel Harris hatte sich intensiv mit dessen Geschichte befaßt: Codex Bezae. A study of the so called western text of the New Testamment, 1891. Und bei Johannes Beza handelte es sich immerhin um den engsten Vertrauten Johannes Calvins. Und Beza hatte diese Handschrift aus Frankreich nach Cambridge gebracht.

In seinem Austausch mit Bas Leenman hat Eugen Rosenstock festgestellt, alle wissenschaftlichen Studien zu Jesaja studiert zu haben. Warum sollte er ausgerechnet zu seinem Taufspruch nicht die namhaften Lukas Kommentare konsultiert haben?

Zur Zeit vor Eugens Taufentscheidung beschäftigte diese Frage die Altertumsforscher und Theologen Julius Wellhausen, Johannes Weiß, Adolf Jülicher, Bernhard Weiss und Eduard Meyer. In seinem Kommentar zum Neuen Testament hatte Johannes Weiß festgehalten: „Hinter 6.5. bietet Codex D noch eine interessante Sabbatgeschichte, die etwa aus dem Hebräer-Evangelium stammen könnte.” (Johannes Weiß, Kommentar, in: Die Schriften des Neuen Testaments, hrsg.v. Johannes Weiß, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1906, S.411). Die Bedeutung der Sabbatstelle deutet Adalbert Merx an:

Nach dem dort mitgeteilten talmudischen Satze gestatten die Rabbinen das Brechen eines Sabbatgesetzes wegen des menschlichen Bedürfnisses oder der menschlichen Würde. Nach dem Satze, den D erhalten hat, soll es aber das subjektive Urteil des Menschen sein, das über die Verbindlichkeit des Sabbathgesetzes – und damit natürlich über die Verbindlichkeit der Ceremonialgesetze überhaupt – zu entscheiden berechtigt ist, und darin liegt der gewaltige Unterschied zwischen dem talmudischen Satze und der Lehre des Textes von D. (Adalbert Merx, Die Evangelien des Markus und Lukas nach der syrischen im Sinaikloster gefundenen Palimpsesthandschrift, Berlin: Verlag von Georg Reimer 1905, S.221.)

Und genau auf diese Sabbatgeschichte und die dort angedeutete „Grenzüberschreitung”, auf den Kreuzweg zwischen Judentum und Christentum zielte auch Eugen Rosenstock ab. Aber damit nicht genug. Es gibt noch eine mögliche Quelle für diesen Taufspruch. Im Jahr 1903 war ein weiterer Band der nachgelassenen Werken Friedrich Nietzsches erschienen. Fragment 233 bot ausgerechnet diesen Taufspruch und das mit der expliziten Autorisierung „Jesus von Nazareth”: „Heil dir, so du weisst, was du thust. Doch weisst du es nicht, so bist du unter dem Gesetze und unter des Gesetzes Fluch.” (Nachgelassene Werke. Unveröffentlichtes aus der Umwerthungszeit (1882/83-1888) (= Nietzsches Werke; 2. Abt., Bd. XIII.), Leipzig: Nauman 1903, S.98). Zum damaligen Zeitpunkt glaubte man noch an ein Originalwerk Nietzsches mit dem Titel „Vom Willen zur Macht”. Tatsächlich kompilierten Nietzsches Schwester und ihre Helfen diesen Text aus unsortierten Fragmenten. Es ist aber mehr als wahrscheinlich, daß der Büchersammler Eugen diesen Band für seine Bibliothek erwarb. Seine intensive Nietzsche Lektüre ist vielfach belegt.

Eine weitere Facette ergibt sich über die Verbindung zu Calvin. Immerhin hatte die Beschäftigung mit dem Calvinismus durch Max Webers Studien zur protestantischen Ethik nach 1904 einen rasanten Aufschwung erlebt, der im 500. Geburtstag 1909 kulminierte. „Seit Troeltsch und Max Weber vom Ursprung des modernen Kapitalismus gehandelt haben, ahnt die Welt, daß hier ein religiöses Problem vorliegt.” (Eugen Rosenstock, Unternehmer und Volksordnung (zuerst veröffentlicht 1924), in: Werner Picht und Eugen Rosenstock, Im Kampf um die Erwachsenenbildung 1912 – 1926 (Schriften für Erwachsenenbildung; 1.Bd.), Leipzig: Quelle & Meyer 1926, S.176.). In den Jahren vor der Taufe hatte Ernst Troeltsch in der Historischen Zeitschrift fast ein Glaubensbekenntnis der modernen Kultur abgelegt:

„Die moderne Kultur ist hervorgegangen aus dem großen Zeitalter der kirchlichen Kultur, die auf dem Glauben an eine absolute und unmittelbare göttliche Offenbarung und auf der Organisation dieser Offenbarung in der Erlösungs- und Erziehungsanstalt der Kirche beruhte. Nichts ist mit der Macht eines solchen Glaubens zu vergleichen, wenn der Glaube wirklich naturwüchsig und selbstverständlich ist. Dann ist überall Gott, sein unmittelbarer, genau erkennbarer und von einem unfehlbaren Institut getragener Wille gegenwärtig. Dann kommt alle Kraft zu höherer Leistung und alle Sicherung des letzten Lebenszieles aus dieser Offenbarung und aus ihrer Organisation in der Kirche.” (Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, in: HZ, 97.Bd. (1906), S.4ff.) Es darf als sicher gelten, daß Eugen Rosenstock jeden Aufsatz in der Historischen Zeitschrift zur Kenntnis nahm, zumal da es sich um den Eröffnungsvortrag auf dem Historikertag 1905 handelte. 1914 sollte er eine Calvinistin heiraten.

Aber genug der Anknüpfungspunkte und Spuren, die Eugen Rosenstock möglicherweise bewußt zu diesem Spruch greifen ließen, denn im Kern geht es ihm ja um die Bedeutung der Christusworte. Zeit seines Lebens haben ihn die Zusammenhänge von Regel und Ausnahme beschäftigt, er ist immer wieder auf diese Zusammenhänge zurückgekehrt, so in der „Werkstattaussiedlung”, im „Industrierecht” und in der „Soziologie”. Den Rhythmen des Lebens und der Arbeit, der Arbeitszeit und der Feiertage ist er in unzähligen Schriften nachgegangen.

Und genau dies ist Thema von Lukas 6.5. Natürlich soll niemand am Sabbat arbeiten. Diese Regel bleibt unangetastet. Aber es gibt auch Notlagen und in diesem Notlagen sind Ausnahmen möglich, solange dem Menschen bewußt ist, daß es sich um eine solche handelt und nicht um Leichtsinn oder Mißachtung. Es gibt nicht den einen verbindlichen Kalender, der für alle Menschen gleichermaßen gilt, deshalb verbietet sich eine sklavische oder sinnwidrige Bindung an das Gesetz, selbst am Sabbat. Und es gibt auch die Möglichkeit, zwischen diesen Kalendern zu wechseln. „Ich habe meinen eigenen Glauben aufgebaut auf das Wort bei Lukas, das dem 5. Kapitel zugesetzt ist, wo der Herr die Mehrheit von „mehr als einem Kalender” einsetzt. Seltsam ist, daß die erste freie Wahl, die uns Christus anbietet, die der Kalender betrifft und daß ebenso dieser Pluralismus geeignet ist, den modernen monistischen Menschen zu verwundern.” (Eugen Rosenstock-Huessy, Was proklamieren unsere Kalender?, in: ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 1. Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1963, S.523f.) Das bedeutet aber nicht „anything goes” oder heute so und morgen so. Es gibt Maßstäbe von denen man abweichen kann, aber trotzdem bleiben sie maßstäblich. Erst an den Früchten wird das richtige Handeln zu erkennen sein. Aber der Einzelne hat nur den guten Willen, nicht den Erfolg in seiner Hand! Eugen Rosenstock hat dies in seinem „Kreuz der Wirklichkeit”, in der „leibhaftigen Grammatik” an vielen Beispielen durchbuchstabiert. Natürlich kann es hauptberufliche Pflegerinnen oder Schwestern geben, aber die Maßstäbe setzen die pflegenden Angehörigen. Natürlich kann es hauptberufliche Fachlehrer geben, aber den Maßstab für die Erziehung von Kindern setzen die Eltern und nicht umgekehrt. Seelsorger und Theologen bilden eine ähnliche Stufung. In der „Umwandlung” kommt Eugen Rosenstock am Ende seines Werkes erneut auf die Evangelien zurück, die er in ihrer Verschränkung als Abfolge zu einem gemeinsam gesprochenen Wort versteht. In seinen „Gleichnisreden Jesu” hatte Adolf Jülicher von der „reizvollen Aufgabe” gesprochen, „die Stellung der einzelnen Evangelien in dem stufenweis fortschreitenden Prozess der Parabelaufzeichnung, der ja zugleich ein Prozess der Parabelumschaffung ist, zu zeichnen” (Jülicher, Adolf, Die Gleichnisreden Jesu, 2 Bde. 1888 und 1899.) Ob Eugen Rosenstock-Huessy sich dieser Aufgabe in seiner „Umwandlung” gestellt hat?

aus: Mitgliederbrief 2020-12