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Sven Bergmann: Eugen Rosenstocks „Kreuz der Wirklichkeit“

Entdeckung, Konzeption, Verständnis, Perspektive

Erik Voegelin hat den Zustand der Wissenschaft an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert plastisch beschrieben: Die enormen Ausdehnungen unseres historischen Horizontes durch archäologische Entdeckungen, kritische Textausgaben und eine Flut monographischer Interpretationen ist so bekannt, daß sich weitere Ausführungen dazu erübrigen. Die Quellen liegen bereit, und die konvergierenden Interpretationen durch Orientalisten und Semitisten, durch klassische Philologen und Historiker der Antike, durch Theologen und Mediävisten laden geradezu zu dem Versuch ein, eine philosophische Studie der Ordnung auf der Grundlage der Primärquellen selbst durchzuführen. Die Lage der Wissenschaft in den verschiedenen Disziplinen, wie auch meine eigene Position bezüglich fundamentaler Fragen, wird im Verlauf der Studie selbst zur Sprache kommen.1

Das durch alle Fakultäten zur Verfügung gestellte Wissen erreichte Ausmaße, die eine Aufnahme absolut unmöglich machte. Aber was waren die Konsequenzen? Achselzuckende Beliebigkeit? Beschränkung auf die eigene Schublade und weiter voranzutreibende Spezialisierung unter Preisgabe möglicher Relevanz? Einige Denker boten Alternativen zur Lage von zu viel Wissen und zu wenig wissen. So entwickelte Max Weber seinen „Idealtypus“ als regulatives Prinzip ja gerade vor diesem Hintergrund, um die Masse des zur Verfügung stehenden Materials zu bändigen und das charakteristische herauszuarbeiten, um es „deutend zu verstehen“: „Endlos wälzt sich der Strom des unermeßlichen Geschehens der Ewigkeit entgegen. Immer neu und anders gefärbt bilden sich die Kulturprobleme, welche die Menschen bewegen, flüssig bleibt, damit der Umkreis dessen, was aus jenem stets gleich unendlichen Strome des Individuellen Sinn und Bedeutung für uns erhält, „historisches Individuum“ wird. Es wechseln die Gedankenzusammenhänge, unter denen es betrachtet und wissenschaftlich erfaßt wird. Die Ausgangspunkte der Kulturwissenschaften bleiben damit wandelbar in die grenzenlose Zukunft hinein, solange nicht chinesische Erstarrung des Geisteslebens die Menschheit entwöhnt, neue Fragen an das immer gleich unerschöpfliche Leben zu stellen. Ein System der Kulturwissenschaften auch nur in dem Sinne einer definitiven, objektiv gültigen, systematisierenden Fixierung der Fragen und Gebiete, von denen sie zu handeln berufen sein sollen, wäre ein Unsinn in sich“2. Der von ihm skizzierte Idealtypus war nur ein Werkzeug, die Wirklichkeit zu befragen, nicht die Wirklichkeit selbst!

Eine wirklich kritische Vergleichung der Entwicklungsstadien der antiken Polis und der mittelalterlichen Stadt (vgl. z.B. die Bemerkungen darüber in Eberhard Gotheins Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwalds S.61ff.) wäre ebenso dankenswert wie fruchtbar, - natürlich nur, wenn sie als Ziel nicht, nach Art der heute modischen Konstruktionen von generellen Entwicklungsschemata, nach „Analogien“ und „Parallelen“ jagt, sondern gerade umgekehrt nur dann, wenn ihr Zweck die Herausarbeitung der Eigenart jeder von beiden, im Endresultat so verschiedenen, Entwicklungen und so die Leitung der kausalen Zurechnung jenes verschiedenen Verlaufs ist.3

Auch die Konferenzen 1910 in Baden-Baden, bei denen es zum Bruch zweier Lager von Philosophen und Historikern kam, rührte gerade von dieser Frage her. Franz Rosenzweig unternahm seinen Versuch einer dialektischen Deutung der Geschichte des 19 Jahrhunderts als einer Synthese aus den Haupttendenzen des 17. und 18. Jahrhunderts mit der kardinalen Französische Revolution als Durchbruch, um der Vielfalt der historischen Vorkommnisse eine Richtung zu geben. Gerade gegen diese „Geschichtsmetaphysik“ erhob sich der Protest der angehenden Historiker aus der Schule Friedrich Meineckes. Jede Art von Geschichtsphilosophie war für sie des Teufels. Dabei hatte schon Max Weber betont, daß Historiker oft den gleichen Schemata unterlägen, die sie bei anderen geißelten, namentlich auch Meinecke selbst.

Fast zeitgleich faßte Eugen Rosenstock-Huessy seinen Plan einer Soziologie im Sinne einer „Universalrechtsgeschichte“, den er seit seinem Studium fast 50 Jahre lange verfolgte. Ein erster Band erschien schon 1925, blieb aber Torso. Auf Anregung des Verlegers de Gruyter war wohl eine Einführung in Studium der Soziologie für einen wachsenden Markt gedacht. Aber es sollte ganz anders kommen. Nach vielen Widrigkeiten mit Verlegern und den schwierigen Zeitverhältnissen konnten Ende der fünfziger Jahre zwei voluminöse Bände vorgelegt werden. Ein Projekt das sowohl Verleger als auch Rezensenten überforderte.4

Eugen Rosenstock-Huessys Weg aus der alexandrinischen Unübersichtlichkeit setzte an zwei Stellen an: Zum einen wies er auf die Bedeutung der Namen für die Geschichte hin und warnte vor einer Verwechslung von Namen, Begriffen und Dingen:
Der Wirklichkeit, die uns aus Namen entgegentritt, kommen wir also niemals durch abstrakte Begriffe näher. Das ist eine Erkenntnis von großer Tragweite. Viele Soziologen haben dagegen verstoßen, indem sie mit Vorliebe unbenannte Beispiele einer A-Kraft und einer B-Beziehung eines Herrn X, der den Herrn Y trifft, konstruieren (ähnlich der Sitte der Juristen und ihr wohl entlehnt). Die Wirklichkeit kennt aber keine Wenn und Aber, keine X und Y! Erst muß der Zustand, die Begebenheit, das Leben nach Nam’ und Art, Ort und Datum vergegenwärtigt werden, ehe man hinterher aus ihnen irgendwelche Erkenntnisse ableiten kann. Die benennende, die Dinge beim wirklichen Namen nennende Vergegenwärtigung ist also die Voraussetzung all unserer Gedanken über die Wirklichkeit. Vorher sind wir eben in der Unwirklichkeit.5

Hatte er so schon die Priorität menschlichen Handelns hervorgehoben, faßte er die Konstellation jedes menschlichen Handelns als „Kreuz der Wirklichkeit“, ein vierpoliges Spannungsfeld zur Beschreibung von Raum und Zeit. Und er ging nicht einfach von einem gleichberechtigten Nebeneinander von Zeit und Raum aus, wie es häufig vorzufinden war. Für ihn ist die Zeit die eigentlich existentielle Kategorie. Den Raum kann man wechseln, der Zeit entgeht der Mensch erst mit dem Tod. Demnach ist die eine Achse des Kreuzes definiert durch die Zustände vorher nachher. Die andere Achse beschreibt räumlich innen und außen: Meine Wahrnehmung der Wirklichkeit außer mir und mein inneres Auge, die beide nicht immer, ja sehr häufig schwer zur Deckung zu bringen sind:

Wir können sagen, daß ein Mensch unfähig wird zu denken oder zu sprechen, es sei denn, er habe die Freiheit, alle vier Bestandteile auf sich zu berufen. Nicht die Bestandteile sind in Dichtung, Wissenschaft, Politik oder Religion verschieden, sondern ihre Anordnung. Des Menschen Geist ist immer komplex, weil er das Kreuz unserer Wirklichkeit widerspiegeln muß. Des Menschen Geist ist verwurzelt in einer Seele, die vier verschiedene Formen wie Trajekt, Objekt, Subjekt und Präjekt annehmen kann, weil sie auf allen diesen vier Fronten des Lebens zu jeder Zeit kämpfen muß. Herkunft, Zukunft, Eigenart und Schauplatz verlangen immerdar Gehör.6

Demnach steht jeder Mensch in jedem Augenblick in einem Spannungsfeld, in einem Koordinatensystem, zwischen innen und außen, sowie auf dem dünnen Grat zwischen Vergangenheit und Zukunft. Objekt, Subjekt, Präjekt, Trajekt bilden die vier Modi menschlicher Existenz. Der Mensch ist wie jedes lebendige Geschöpf den vier Richtungen von Zeit und Raum – vorwärts, einwärts, auswärts, rückwärts – ausgesetzt in jedem Denk- oder Sprachvorgang.7

Inwiefern er hier das Kapitel „Kreuzung sozialer Kreise“ aus Georg Simmels Soziologie von 1908 im Hinterkopf hatte, ist bisher schwer zu bestimmen. Den beabsichtigten Titel „Das Kreuz der Wirklichkeit“ trugen aber weder seine Soziologie von 1925 noch die beiden Bände aus den 50er Jahren, sondern erst die 2009 veröffentlichte posthume dreibändige Fassung, die wiederum andere Editionsprobleme mit sich brachte.8 Sein Bielefelder Freund Georg Müller hat das Ringen um sein mutmaßliches Hauptwerk auf den Punkt gebracht: Eugen Rosenstocks Lebenswerk ist nicht leicht zu überschauen, und die hierauf gerichteten Bemühungen sind nicht dadurch erleichtert worden, daß sich zu mehr als vierzig Buchtiteln in den letzten Jahren zwei Bände „Soziologie“ – Die Übermacht der Räume, Die Vollzahl der Zeiten – gesellt haben. Der Autor selbst möchte sie mit den „Europäischen Revolutionen“ als ein dreiteiliges Hauptwerk angesehen wissen und hätte sie gern unter dem unverfänglicheren Titel „Das Kreuz der Wirklichkeit“ veröffentlicht. Vielleicht wäre das Werk verständniswilliger aufgenommen worden, wenn Rosenstock in der Titelfrage dem Verlegerwunsch sich nicht gefügt hätte. Vielleicht überschätzt er auch die Fähigkeit unserer Zeit zu geduldigem Lesen und meditierendem Hinhören auf mitgeteilte Tatsachen, wenn er meint, daß sein Triptychon auch ohne die dem Wesen der Sprache nachspürenden Veröffentlichungen zugänglich sein müßte.9

Wurzeln

In ihrem Briefwechsel kündigte Eugen Rosenstock seinem Freund Franz Rosenzweig 1916 seinen „erlösenden Schritt ins System“ an und am 19. Juli des gleichen Jahres unterbreitete er ihm erstmals das Skelett dieses „Systems“, aus dem sein Leben währendes Ringen um seine Soziologie „Kreuz der Wirklichkeit“ erwuchs.10 Seiner Frau Margrit hatte er bereits im Januar des Jahres seine existentielle Spannung bei diesen Überlegungen geschildert: Für mich gibts jetzt nur: Entweder ich erreiche mit Anspannung der äußersten Kraft dies Werk auszuführen, oder es ist ein für allemal mit meiner geistigen Würdigkeit aus.11

Gerade in der Kriegszeit und in seinen Aufsätzen aus dieser Zeit erkannte er die Korrespondenzen der europäischen Nationen, ihr Gespräch untereinander. Gerade in der Höchstspannung des Kriegs hätten sie ihre innigsten Glaubensüberzeugungen herbeigerufen. Der Aufsatz „Der Kreuzzug des Sternenbanners“ aus dem Sommer 1918 reflektierte den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten und beschrieb das veränderte Verhältnis des „Alten Europa“ zur „Neuen Welt“. Er erkannte das Kriegsjahr 1917 als große Wendung vom europäischen zum Weltkrieg: „Ein ganz neuer Krieg ist im Gange, ein amerikanisch-europäischer, mit anderen Zielen, um andere Fragen als der dreijährige Krieg der europäischen Großmächte.“12 Und damit verwandele sich der europäische „Bruderkrieg“ in einen Glaubenskrieg, in einen „Kreuzzug“ Amerikas gegen den „deutschen Militarismus“13. Die Losung Amerikas laute: „Der Mensch ist gut!“ und müsse von Tyrannei und Zwangsherrschaft befreit werden.14 „Ein Kreuzzug, ein uneigennütziger, selbstloser Krieg ist nun der Kampf gegen die Sultane und Kaiser der alten Welt.“15 Im Westen stehe der britische Vorwurf des Militarismus gegen Deutschland und in den USA die Anklage des Autoritarismus.16 Der Präsident verlange eine einheitliche Weltordnung freier Staaten. Und Europa habe in seinem Irrwahn nicht das Recht, Amerika den Spiegel vorzuhalten. Allein die Freiheit der Kirche könne dem amerikanischen Irrglauben an das Sternenbanner den rechten Glauben entgegenhalten, „die Lehre vom Kreuz als mit seinem ewigen Widerspruch zwischen Gesetz und Liebe.“17 Er bezeichnete das Kreuz als „Offenbarung der menschlichen Zerrissenheit“ und „der höchsten, der menschlichen Qual.“18 Deshalb sei es im Zuge des allgemeinen Formenschwundes auf allen Gebieten des Lebens verdrängt worden, ja selbst aus dem christlichen. Erst das äußere Ereignis des Krieges habe die Menschen „nach innerer Notwendigkeit schreien“ lassen19. „Die Formen des Lebens wurden plötzlich wieder ernsthaft.“ Auf dieser von ihm im Weltkrieg erkannten Korrespondenz der Völker ist dann später sein Werk über die „Europäischen Revolutionen“ gereift und sein „Kreuz der Wirklichkeit“.

Eine erste Form haben seine Vorsätze erst Jahre später gefunden wie er selbst schreibt. Er datierte seine Entdeckung auf einen Urlaub in Beatenberg am Thuner See in der Schweiz von August bis September 1924, in dem es auch zu Treffen mit Karl Barth und Hans Ehrenberg gekommen war.20 Seinem Freund Rudolf Ehrenberg teilte er nach dem Zweiten Weltkrieg in einem umfangreichen Brief mit: „Das Kreuz der Wirklichkeit ist kein Schema. Es ist eine Entdeckung, 1924 gemacht, und nach Beatenberg in mein bestes Buch eingeschrieben „Die Kräfte der Gemeinschaft“ (das in Deutschland neu erscheinen sollte). A. Meyer hat es dann in derselben Weise auf die Biologie angewendet wie ich im letzten Kapitel auf Kant. Lies dies mal bitte nach. Es beruht auf der folgenschweren Entdeckung, daß Zeit und Raum von uns in umgekehrter Art erfahren werden und daß die beliebte Parallele „Zeit und Raum“ unhaltbar ist. Es wird nämlich der Raum als Universum, die Zeit als Moment empirisch angetastet, und wir müssen zum Universum Innenräume, zum Moment Zeiträume hinzutun bevor aus diesem ersten Schritt – hier in der Zeit, dort in dem Raum – Erfahrung werden kann. Jedes Innen ist kleiner, jeder Zeitraum ist größer als das Erinnern dartuen! Häuser und Zeiten sind die menschlichen Taten, die aus dem panischen Moment und der panischen Welt erfahrbare Tatsachen machen! „Der Fortschritt der Wissenschaft“ ist ein geschaffner Zeitraum, „die Erde“ eine geschaffne Unterteilung des Raums. Daher kommt es nun zweitens, daß Raum und Zeit nur in der Doppelung von Innen und Außen, Vergangenheit und Zukunft gegeben sind. Wir entstehen zwischen ihnen. Das ist kein Schema, sondern gilt für jede historische Gruppe. Drittens, diese Doppelpoligkeit des Kreuzes ändert die Begriffe Innen und Außen, Vergangenheit und Zukunft aus auf die Gruppe zustrahlenden in von der Gruppe ausstrahlenden Richtungen. Aus Vergangenheit wird rückwärts, aus Zukunft wird vorwärts, aus Innen wird einwärts, aus Außen wird auswärts. Das ist aber revolutionär. Sieh das letzte Kapitel der Soziologie darüber! Denn nun gibt es keine Romantik oder Utopie! Viertens, nun wird eine Diagnostik kranker und gesunder Gruppen möglich. Ich habe eben an einen Briten in Bonn darüber geschrieben. Wenn’s Dich interessiert, schicke ich Dir die Abschrift. Jede Gruppe zeigt Kreuzverkrüpplungen! Und sie heilen einander. Fünftens, die Sprache dient der Begründung der historischen Zeit- und Raum-Koordinaten. Namen sind eben dies. Das Verhalten von Namen und Pronomina, von Hochsprache und Dialekt, zeigt die ständige Spannung. Darüber, daß die Stämme den Namenshochraum gestalteten, die Ägypter aber den pronominalen Hausraum, habe ich eben wunderschöne Entdeckungen gemacht. All dies kommt zu seiner Erfüllung in der ersten wissenschaftlichen Grammatik, die nun möglich wird. Endlich kann Grammatik auf empirisch Wahrnehmbares basiert werden. „Du“, „ich“, „wir“, „es“ sind die vier Richtungen vorwärts, inwärts, rückwärts, auswärts (präject, subject, traject, object). Das ist kein Schema, sondern Gesetz des Sprechens, wie mein „Wort des Menschengeschlechts“ darlegt. - Dabei gebe ich Dir übrigens freudigst zu, daß Israel und die Kirche sprachmächtig sind, Laotse und Buddha sprachohnmächtig. Aber das Kreuz ist kein Schema; es entdeckt wie jede Arbeitshypothese dieses: historische Gruppen und ihr Befinden. Deshalb regt mich doch unsre Untreue gegen Patmos auf. Ich habe eben die Korrektur meines Aufsatzes über die Kreatur gelesen (Chicago 1947). Die Conprocessio des Geistes in verschiedenen Sprachen (Goethe – Schiller, Nietzsche – Dostojewski) ist das Problem der Zeit.21

Mächte und Kräfte

Die Vierzahl seiner Entdeckung führte er schon in der strukturellen Gliederung seiner frühen Soziologie konsequent durch: Eugen Rosenstock-Huessy, Soziologie I: Die Kräfte der Gemeinschaft, Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter 1925. Ob dies zum Verständnis seiner Entdeckung beigetragen hat, mag bezweifelt werden. Zumal er im letzten Abschnitt von „Kants Schöpfung der soziologischen Disziplin“ schreibt. Während der Verleger und wohl auch die zu erwartenden Kunden einem übersichtlichen Abriß der Soziologiegeschichte und eine Einführung in die wesentlichen Theorien erwarteten, lieferte Eugen Rosenstock eine vollkommen eigenständige, in ihrem Zugriff auch völlig neuartige Soziologie. Zwar kunstvoll strukturiert, mußten die Stichworte doch verwirren. Da war von Todesüberwindern die Rede, von den „Handlungen vom Tode her“, von Sport und Kampf, von Lebensaltern und den Sprachen der Völker. Einerseits war von Saint-Simon als dem ersten Soziologen die Rede, dann wieder von Kants Schöpfung der Disziplin. Das war harte Kost, nicht nur für Studenten, die sich Orientierung erwarteten. Der schärfste Kritiker der frühen Soziologie, der Freiburger Historiker Georg von Below, zollte dem Werk Respekt, sah dessen Meriten aber eher in der kunstvoll poetischen Sprache als im Zugriff auf die Wirklichkeit. Von einer Rezeption der ersten Soziologie kann bis heute nicht gesprochen werden. Gerade bei einem Autor wie Eugen Rosenstock-Huessy, der äußerst sparsam Fußnoten setzte, hätte man wenigstens den Hinweisen nachgehen müssen, die er selbst in den Text aufnahm. So spricht er von einigen „genialen Forschern“, namentlich James George Frazer, Heinrich Schurz und Max Weber.22 Von Max Weber war schon die Rede. Der Ethnologe Frazer beschäftigte sich mit dem Grenzgebiet von Ethnologie und Religion und wurde mit seinen Schriften über Totemismus und „Der goldene Zweig“ u.a. Anreger von Sigmund Freud. Der Völkerkundler Heinrich Schurz prägte den Begriff „Männerbünde“ und beschäftigte sich mit „Urkulturen“, Speisevorschriften und legt 1893 einen „Katechismus der Völkerkunde“ vor. Aber zurück zur Soziologie. Mit der Vierzahl stellte er sich ausdrücklich in die Tradition Goethes und Augustinus und bezeichnete seinen Ansatz als „Ausweg aus der philosophischen Denkweise“.23

„Eins und zwei und drei erzählt wohl auch der Märchenerzähler! Mit diesen Punkten entscheidet sichs noch nicht, ob der Erzähler phantasiert oder berichtet, dichtet oder erforscht. Wissenschaftlich hat daher das Erzählen nie sein wollen noch können. Denn zur Wissenschaft gehört Nachprüfbarkeit. Daher ja soviel Lügen über menschliches umlaufen: Erzählen kann man viel. Die Geschichte als Wissenschaft hat daher noch Punkt 4, die Erkenntnis des Ursprungs, hinzugenommen, und räumt bekanntlich tausendjährigen Schutt weg, um „die Quellen“ und „Ursprünge“ klarzulegen. Das war ein großer Fortschritt. Aber das Lügen hat nicht aufgehört. Die Historiker von heute lügen entweder mit oder sie hören auf zu vergegenwärtigen und bleiben in den Quellen stecken. Es muß also noch ein Moment hinzukommen, eine Frage, die der Historiker nicht ausdrücklich beantwortet, die aber die Frage aller Fragen ist, muß der Soziologe fragen, ehe er seine Vergegenwärtigungsaufgabe gelöst hat. Die entscheidende Frage, durch die Erzählen kontrollierbar wird, ist die nach der Stunde, in der erzählt wird. Das ist nicht zu verwechseln mit dem Standpunkt des Erzählers. Denn über den täuscht sich der Erzähler allzu gern selbst. Nein, die Stunde der Erzählung von Wirklichem gibt an, ob das Erzählte selber der Erzählung mit zuhört oder ob es als alte versunkene Märchenwelt, oder auch als fremdes Rätselland vor dem Erzähler steht. Wir werden dies Grundgesetz aller Soziologie, daß man nur mit Angabe der Stunde jede Vergegenwärtigung recht hören kann, wegen seiner Wichtigkeit durch das ganze Buch hindurch immer neu prüfen und kennen lernen.“24

Die zentrale Passage zum Kreuz der Wirklichkeit auf die er sich in seinem Brief an Rudolf Ehrenberg bezog ist überschrieben: „Die Mythen um die Zahl Vier und die Metaphysik“:

„Und doch müssen wir einen solchen zahlenmäßigen Vergleich unserer Grundkategorien mit den vorher aufgeführten als unfruchtbar, ja als die eigentliche Verkehrung unseres Beginnens ins Mythologische bezeichnen. Es haben nämlich die Vierzahlen in allen diesen Fällen und dem unseren nur etwas Negatives unter sich gemeinsam! Das Auftreten der Vierzahl bedeutet an sich nichts als die Hinwendung zur Fülle der Erscheinungen, bedeutet ein Hinauswachsen der Betrachtungsweise aus dem rein logischen Bereich! Wenn die Griechen den Kosmos erfassen wollen, so sehen sie in ihm vier Elemente: Wasser, Feuer, Erde und Luft. Und die Chinesen, ein Volk der Soziologie vor allen Völkern, treiben die Bedeutung der vier Himmelsrichtungen aufs äußerste! Der soziale Raum wird hier von der Mitte her in Norden, Süden, Osten und Westen so einseitig aufgeteilt und ausgedeutet, wie bei Spengler die Jahreszeiten der geschichtlichen Zeit den Rhythmus geben. Auch für die Kosmodizee, die Schöpfungslehren der kirchlichen Theologie, ist die Vier grundlegend. Sie ist das „Sinnbild des nach vier Seiten ausgedehnten Raumes, der in vier Jahreszeiten geteilten Zeit, des in vier Altersstufen ablaufenden Lebens“. Daher die Symbolik der vier Erzengel, der vier Kardinaltugenden, der vier Flüsse, die vom Kreuze in die Welt verlaufen.“25

In der menschlichen Geschichte gebe es keinen Ruhepunkt und auch keinen Sehepunkt, von dem aus man die Entwicklung „objektiv“ betrachten könne. Das gelte selbst für die Naturwissenschaften nicht mehr: „Wer die Erde aus den Angeln heben will, sagte Archimedes, der muß außerhalb der Erde Posto gefaßt haben. Das gilt genau so von den Zeiten. Wer aus vier Kalendern einen machen will, der muß aus seiner von diesen vier Kalendern besessenen Zeit erst einmal heraustreten. Das Leiden Jesu ist also der vollständige Inhalt des Lebens Jesu zu seiner „eigenen“ Zeit. Dieser Zeit hat er sich entäußert, als er weder Priester noch Prophet noch Feldherr noch Künstler wurde. Es war daher das erste Anliegen der Liberalen, dieser angeblich vorurteilslosen Erfinder der „Leben Jesu“, ihn in seine eigene Zeit zurückzustoßen und ihn für einen Revolutionär, einen Lehrer, einen Künstler, ein religiöses Genie auszugeben. Wäre er einer von diesen „Typen“, dann gehörte er in das Konversationslexikon für die Neugier des Publikums.“26

„Alle Gewalten und Gestalten des geschichtlichen Lebens hingegen verändern sich eben dadurch, daß ich in die Zahl derer eintrete, die sich mit ihnen befassen. Und deshalb gehört die Erkenntnis, wie sie auf mich wirken und wie gerade ich zu ihnen stehe, als notwendiger Bestandteil in das Verstehen dieser Mächte hinein. Nicht wegen meiner Person, sondern um den Machtbereich jener Gewalt kennenzulernen, ist das interessant. Sie hat also auch mich, oder sie hat mich nicht!.“27 Ähnlich verhält es sich übrigens auch mit der Quantenmechanik!

Im Zentrum der graphischen Darstellung des „Kreuzes der Wirklichkeit“ die Eugen Rosenstock-Huessy in seine „Angewandte Seelenkunde“ aufgenommen hat, steht als zweite Person das Recht mit Gesetzgebung und Rechtsprechung28. Der Mensch sei in einem viel höherem Maße ein politisches Lebewesen, „als es der Metaphysiker Aristoteles geglaubt hat. Denn auch der Philosoph und die Seele des Philosophen streckt sich nicht nur nach dem abstrakten Wahren, Guten, Schönen.“29 Deshalb findet sich auch kein Werk von Eugen Rosenstock-Huessy, weder „Das Alter der Kirche“, „Die Sprache des Menschengeschlechts“, „Die Europäischen Revolutionen“ oder die „Soziologie“ ohne einen deutlichen Bezug zum Politischen. Selbst die „Angewandte Seelenkunde“ schließt mit dem den Worten:

„Die Lappen haben an ihrem Schlitten vorn eine lange Stange, an deren Spitze eine Wurst hängt. Die Hunde laufen nun wie irrsinnig hinter der Wurst her. So die Idealisten hinter ihrer selbst aufgehängten Idealwurst. Dies sture Verhalten gilt in Deutschland als grundsatzfester Ideendienst, als Politik. Wir erfuhren es anders bei unserer Übersetzung. Hinüber zu setzen auf ein anderes Ufer – dies Wagnis ist Politik. Zu übersetzen ist dabei Gestalt in Gestalt, Satz in Satz. Alle grammatische Methodenlehre ist daher selbst nicht logische oder mathematische Theorie, sondern mutige Übersetzung, ein Vorstoß und Vormarsch ins ungeschaute Land.“30

In seinem existentiellen Verständnis von Soziologie traf er sich mit dem von ihm als „genialen Forscher“ eingestuften Max Weber. Dieser hatte in seinem Vortrag von 1917 über Wissenschaft als Beruf festgehalten: „Nichts ist für den Menschen als Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann.“31 Und so pflichtete der 24 Jahre jüngere Eugen Rosenstock ihm bei: „Soziologie entspringt aus der Leidenschaft, nicht aus der theoretischen Gleichgültigkeit. Damit ist sie nun allerdings in Gefahr, nicht mehr als Wissenschaft sich behaupten zu können. Und diese Gefahr ist in der Tat riesengroß vor den Soziologen aufgetaucht.“32

aus: Mitteilungen 2023-08

  1. Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte, Bd.1: Die kosmologischen Reiche des Alten Orients – Mesopotamien und Ägypten, hrsg.v. Jan Assmann, München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S.30. 

  2. Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen: J.C.B.Mohr(Paul Siebeck) 1985, S.184. 

  3. Max Weber, Agrarverhältnisse im Altertum, 3.Aufl. <1908>, in: ders., Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Altertums. Schriften und Reden 1893-1908, hrsg. von Jürgen Deininger (= MWG I/6), Tübingen: J.C.B.Mohr(Paul Siebeck) 2006, S.747. 

  4. Etwa: Otto Heinrich von der Gablentz, Metapolitik - Zur Soziologie Eugen Rosenstocks, in: Zeitschrift für Politik, 6. Jg. (1959), S.277-284. 

  5. Eugen Rosenstock, Soziologie I: Die Kräfte der Gemeinschaft, Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter 1925, S.10ff. 

  6. Eugen Rosenstock-Huessy, Die Einsinnigkeit von Logik, Linguistik und Literatur, in: ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 1. Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1963, S.564. 

  7. Eugen Rosenstock-Huessy, Die Einsinnigkeit von Logik, Linguistik und Literatur, in: ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 1. Bd., Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1963, S.564. 

  8. Fritz Herrenbrück, Altachtundsechziger Vatermord. Gibt es Heilkraft? Gibt es Argonautik? Zur Neuedition der »Soziologie« I (1925/1956/1968) und II (1958) von Eugen Rosenstock-Huessy; Bearbeitungsstand: 21. Dez. 2012: http://www.fritz.herrenbruck.de/rosenstockhuessy.html. 

  9. Georg Müller, Die neue Wissenschaft vom Menschen und der neue Sprachstil. Anläßlich von Eugen Rosenstock-Huessys historischer Soziologie, in: Frankfurter Hefte, 15. Jg., H.10 (1960), S.687. 

  10. Franz Rosenzweig, Briefe, hrsg.v. Edith Rosenzweig unter Mitwirkung v. Ernst Simon, Berlin: Schocken Verlag 1935. Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock: Judentum und Christentum, S.641ff. 

  11. Eugen an Margrit, 12.1.1916, ERHFDA. 

  12. Eugen Rosenstock, Der Kreuzzug des Sternenbanners, in: Hochland, 16.Jg. (1918, November), S.12ff. 

  13. Eugen Rosenstock, Der Kreuzzug des Sternenbanners, in: Hochland, 16.Jg. (1918, November), S.15. 

  14. Eugen Rosenstock, Der Kreuzzug des Sternenbanners, in: Hochland, 16.Jg. (1918, November), S.14. 

  15. Eugen Rosenstock, Der Kreuzzug des Sternenbanners, in: Hochland, 16.Jg. (1918, November), S.15. 

  16. Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin: Akademie Verlag 2003, S.240ff. 

  17. Eugen Rosenstock, Der Kreuzzug des Sternenbanners, in: Hochland, 16.Jg. (1918, November), S.122. 

  18. Eugen Rosenstock, Der Kreuzzug des Sternenbanners, in: Hochland, 16.Jg. (1918, November), S.114. 

  19. Eugen Rosenstock, Der Kreuzzug des Sternenbanners, in: Hochland, 16.Jg. (1918, November), S.114. 

  20. Gottfried Hofmann, Chronik. 

  21. ERH an Rudolf Ehrenberg, 26.III.1947, in: Jenseits all unsres Wissens wohnt Gott. Hans Ehrenberg und Rudolf Ehrenberg zur Erinnerung, hrsg.v. Rudolf Hermeier, Moers: Brendow-Verlag 1987, S.150ff. 

  22. Eugen Rosenstock, Soziologie I: Die Kräfte der Gemeinschaft, Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter 1925, S.33. 

  23. Eugen Rosenstock-Huessy, Ein Wort von Augustin und eins von Goethe, in: Rosenstock-Huessy, Eugen und Wittig, Joseph, Das Alter der Kirche, Bd.I, neu hrsg. von Fritz Herrenbrück und Michael Gormann-Thelen, Münster: agenda Verlag 1998, S.24. 

  24. Eugen Rosenstock, Soziologie I: Die Kräfte der Gemeinschaft, Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter 1925, S.11/12. 

  25. Eugen Rosenstock, Soziologie I: Die Kräfte der Gemeinschaft, Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter 1925, S.231fff. 

  26. Eugen Rosenstock-Huessy, Soziologie, 2. Bd.: Die Vollzahl der Zeiten, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 1958, S.270. 

  27. Eugen Rosenstock, Soziologie I: Die Kräfte der Gemeinschaft, Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter 1925, S.16/17. 

  28. Eugen Rosenstock, Angewandte Seelenkunde. Eine programmatische Übersetzung (Bücher der deutschen Wirklichkeit), Darmstadt: Roetherverlag 1924, S.55. 

  29. Eugen Rosenstock,, Soziologie I: Die Kräfte der Gemeinschaft, Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter 1925, S.224. 

  30. Eugen Rosenstock-Huessy, Angewandte Seelenkunde, in: ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, Bd.1, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1963, S.810. 

  31. Max Weber, Wissenschaft als Beruf <1919>, in: ders., Wissenschaft als Beruf, 1917/1919. Politik als Beruf, 1919, hrsg.v. Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schluchter (= MWG I/17), Tübingen: J.C.B.Mohr(Paul Siebeck) 1992, S.81. 

  32. Eugen Rosenstock,, Soziologie I: Die Kräfte der Gemeinschaft, Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter 1925, S.18.