Sven Bergmann: Eugen Rosenstock als Gast im Hegel-Club
Der akademische Nachwuchs im Meinecke-Rausch
Als Hannah Arendt ihrem Doktorvater und Liebhaber Martin Heidegger zum 80. Geburtstag gratulierte und sein 50. Jubiläum als Lehrer hervorhob, war sie sich ganz sicher: Allein der Name Heideggers sei unter dem studentischen Nachwuchs weitergeflüstert worden, er allein habe eine gänzlich neue Philosophie angestoßen: „Denn Heideggers Ruhm ist älter als die Veröffentlichung von Sein und Zeit im Jahre 1927, ja es ist fraglich, ob der ungewöhnliche Erfolg dieses Buches – nicht das Aufsehen, das es sofort erregte, sondern vor allem die außerordentlich nachhaltige Wirkung, mit der sich sehr wenige Veröffentlichungen des Jahrhunderts messen können – möglich gewesen wäre ohne den, wie man sagt, Lehrerfolg, der ihm vorausgegangen war und den er, jedenfalls in der Meinung derer, die damals studierten, nur bestätigte.“1
Zwar begrenzte Hannah Arendt ihre Aussage auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, aber an ihrer Wertschätzung für den „heimlichen König“ des Denkens hielt sie fest. Anders als Stefan George habe Heidegger kein Geheimnis um seine Philosophie gemacht. Erst er habe ein weitverbreitetes „Unbehagen an dem akademischen Lehr- und Lernbetrieb“ zur Sprache gebracht. Erst er sei wieder ein Lehrer gewesen, bei dem man das Denken habe lernen können, und der die Philosophie wieder zu einem Anliegen denkender Menschen gemacht habe, „und zwar nicht erst seit gestern und heute, sondern seit eh und je, und der, gerade weil ihm der Faden der Tradition gerissen ist, die Vergangenheit neu entdeckt.“ Daß dieses Unbehagen bereits vor dem ersten Weltkrieg eingesetzt hatte, überging Hannah Arendt geflissentlich: den „Dialog“ von Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock im Umfeld ihrer Freunde und Kritiker, der 1919 in Würzburg seine Fortsetzung mit der Initiative zu „Patmos“ hatte und dann zum Kreis um die Zeitschrift „Kreatur“ hat sie nie wirklich rezipiert.
Dabei machte Eugen Rosenstock schon in der 20er Jahren eine deutliche Aussage. In seiner Rezension der gerade erschienenen Hegel Ausgabe „Der Staat“ durch den Journalisten Alfred Merbach räumt er gerade seinem Freund Franz Rosenzweig eine besondere Bedeutung für die „Hegel Renaissance“ ein:
Am Anfang seines Wirkens (1802) steht der Aufschrei: „Deutschland ist kein Staat mehr“. Am Ende steht die geistige Ausrüstung Preußens für seine neue Hegemonie und damit für die preußische Spitze in Bismarcks Kaiserreich. Wie Hegel das zuwege gebracht hat, lese man in dem Bande nach, der übrigens ohne Franz Rosenzweigs Standardwerk „Hegel und der Staat“ nicht möglich gewesen wäre. Rosenzweigs zwei imponierende Bände sind eben nicht zufällig die einzige voll ausgereifte Frucht jenes Neuhegelianismus von 1910 bis 1914, von dem wir eingangs sprachen.2
Mehr als erstaunlich führte ausgerechnet die nur wenige Jahre später erschienene Monographie zur „Hegel-Renaissance“ Franz Rosenzweig nicht einmal mehr im Register auf:
Die beherrschende Stimmung wendete sich, wie hier nur mit Schlagworten angedeutet werden kann, von einer geistigen Welt, von den echten Totalitationsproblemen ab, sie war durchschnittlich naturalistisch, positivistisch, historistisch, relativistisch und erreichte ihr die breiten Massen, auch der Gebildeten, ergreifendes Extrem in einem groben Materialismus und Hylozoismus.3
Nun ist die Hegel-Renaissance und auch der Beitrag von Franz Rosenzweig in der Forschung alles andere als übersehen worden, etwa von Wolfgang Ullmann. Vor allem der Kasseler Soziologe Wolfdietrich Schmied-Kowarzik hat sich im Anschluß an die große Franz Rosenzweig Tagung in Kassel diesem Umfeld gewidmet. Seine Ausführungen sollten hier ergänzt werden.
Bisher wurden vor allem die Erinnerungen von Viktor von Weizsäcker, die Briefe Franz Rosenzweigs und Hans Ehrenbergs sowie der dokumentierte Briefwechsel Siegfried A. Kaehlers beachtet. Einige Hinweise aus dem Umfeld Max Webers fehlten in dieser Einordnung. Und das, obwohl Hans Ehrenberg als einer von nur wenigen Briefpartnern Max Webers in der frühen Sammlung seiner Briefe durch seine Gattin Marianne vertreten war: Gesammelte Politische Schriften, München: Drei Masken Verlag 1921. Im gleichen Verlag erschienen dann auch Hans Ehrenbergs kritische Dialoge „Drei Bücher vom deutschen Idealismus“ zu Fichte, Schelling und zuletzt Hegel. Außerdem war Hans Ehrenberg Leiter und Hauptherausgeber der Reihe „Frommanns philosophische Taschenbücher“, deren erste Folge Franz Rosenzweig rezensierte.
Diese Einschätzung läßt sich vor allem damit rechtfertigen, daß Max Weber, im Schatten der offiziellen Heidelberger Universitätspolitik, seismographisch die politischen und sozialen Strömungen seiner Zeit registrierte. Ihn interessierten keine Denkverbote oder Rassenvorurteile, ihn interessierten kluge und wegweisende Denkanstöße, egal, ob seine Gesprächspartner in oder außerhalb der offiziellen Lehre standen, egal aus welchen Land sie kamen, egal, ob sie George, Spengler, Lukács oder Bloch hießen. Er suchte konträre Standpunkte über vermeintliche Gräben des Zeitgeistes hinweg ins Gespräch zu bringen: „Mir schiene es daher doch der Mühe werth, ihn hier mit einigen Herren bekannt zu machen (namentlich den Neo-Metaphysikern Hegel‘scher und verwandter eschatologischer Richtung).“4 Und seinen marxistischen Gesprächspartner Georg von Lukács ermunterte er:
Nachdem ich ihm einiges Wenige, in meiner Beleuchtung gesagt hatte, war er darauf capriziert, Sie zu sehen – zufällig nannte ich Ihren Namen als einen der Typen deutschen „Eschatologismus“ u. als Gegenpol Stefan George‘s. Ich halte es für möglich, daß es Ihnen nicht zu lästig fällt, ihm eine Stunde Unterhaltung zu schenken.5
Deshalb hatte er ein waches Auge auf die „Hegel-Renaissance“, in die seine philosophischen Gesprächspartner Wilhelm Windelband oder Heinrich Rickert als philosophische Fachvertreter zuvorderst als Exponenten der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus verwickelt waren.
Deshalb sei hiermit ein Versuch unternommen, die verschiedenen Kreise und Initiativen, an denen Eugen Rosenstock beteiligt war, voneinander abzuheben: 1. Die soziologischen Diskussionsabende, die auch unter dem Begriff „Max Weber Abende“ firmierten, 2. Die Baden-Badener Gesprächskreise und 3. Die Hegel-Renaissance, die ihren Niederschlag auch in der Zeitschrift „Logos“ fand oder im WS 1908 ein Gesprächsthema auf dem 3. internationalen Kongreß für Philosophie in Heidelberg war, bei dem Eugen Rosenstock erstmals die Stimmen von Max Weber und Wilhelm Windelband hörte.
Die „Soziologischen Diskussionsabende“ in Heidelberg
Der jugendliche Eugen Rosenstock war stets „neuer Dinge begierig“ und daher oft dabei, wenn sich Deutschlands Nachwuchsakademiker zu Gesprächen, Treffen oder Kreisen zusammenfanden. Eine klare Ausrichtung hatte der Patmos-Kreis, der sich 1919 erstmals bei einer Veranstaltung in Würzburg der Öffentlichkeit präsentierte. Weniger konturiert sind die „Baden-Badener“ Treffen oder der „Max Weber-Kreis“, die gelegentlich miteinander verwechselt worden sind. Der „Max Weber Kreis“ ist identisch mit den Heidelberger „Soziologischen Diskussionsabenden“, die zwar im Bann des „Soziologen Max Weber“ standen, aber nicht von ihm veranstaltet oder besucht wurden. Deshalb ist auch kein Vortrag oder Referat von ihm an einem dieser Abende bekannt oder überliefert. Diese Veranstaltungen wurden von den Studenten selbst organisiert und dabei lebhaft von den Professoren der volkswirtschaftlichen Fakultät Eberhard Gothein und Alfred Weber unterstützt. Man wird sich diese Treffen als Doktorandenkolloquien der noch gänzlich unbürokratisierten deutschen Universität vorstellen können. Fast kein Semester der Diskussionsabende endete ohne eine künstlerische oder dramaturgische Aufführung der Studenten. Darüber hinaus hatten nicht wenige der Teilnehmer große Sympathien für Stefan George und seinen Kreis, der seit 1910 regelmäßig in Heidelberg logierte. Wir könne von der letzten Studentengeneration vor der bereits in der Weimarer Republik einsetzenden „Massenuniversität“ sprechen. Elementare Voraussetzung dieser „akademischen Freiheit“ war die finanzielle Unterstützung durch die vermögenden bürgerlichen Familien der Studenten.
Der „Freiburger Kreis“
Demgegenüber ging der Impuls zu den Baden-Badener Gesprächen von Studenten der benachbarten Freiburger Universität aus. Es waren vor allem fortgeschrittenere Semester, die bei dem Philosophen Heinrich Rickert oder den Historikern Friedrich Meinecke und Georg von Below studierten, die als „Freiburger Kreis“ Grundfragen ihrer Fächer zur Sprache bringen wollten (nicht zu verwechseln mit dem Freiburger „Widerstandskreis“-Kreis der vierziger Jahre). Mit seinem in Straßburg geschriebenen und 1909 erschienenen Buch „Weltbürgertum und Nationalstaat“ hatte Meinecke einen Nerv der Zeit getroffen und zog viele Studenten an seine neue Wirkungsstätte. Viele Söhne etablierter Professoren kamen in diesem Kreis zusammen:
Seit dem Sommersemester 1907 sammelte sich um mich nun auch ein engerer Schülerkreis, wie ich ihn so noch nicht gehabt hatte. Denn es blieb nicht, wie bisher, bei der Einzelbeziehung des Schülers zum Lehrer, sondern die Schüler unter sich bildeten zugleich eine freie Gemeinschaft, in der man mindestens ebensoviel voneinander, wie von mir lernte. Drei anspruchsvolle, aber zugleich, wie sich bald herausstellen sollte, sehr liebenswerte Professorensöhne traten da mit einem Male gleichzeitig in mein Seminar ein und haben die folgenden Jahre durch den Kern jener Gemeinschaft gebildet, - der schon einmal erwähnte Siegfried Kaehler, Sohn des Hallenser Theologen, Willy Mayer, Sohn des Leipziger, früher Straßburger Verwaltungsrechtlers Otto Mayer, und - die sonnigste Erscheinung unter den Dreien – Walter Sohm, der Sohn des berühmten Leipziger Juristen Rudolf Sohm. Seine Freunde waren kühn genug, die Wirkung dieses strahlenden und hochbegabten jungen Menschen mit der des jungen Goethe au seine Umgebung zu vergleichen.6
„Ausgangspunkt für Baden-Baden (Vorbild) waren die sommerlichen Treffen der Professoren: Einmal an einem Sonntag im Juni jedes Jahres kamen die Professoren und Dozenten vom Oberrhein, aus Heidelberg, Straßburg, Freiburg, Basel, auch Karlsruhe, - auch Tübingen und selbst schon Frankfurt waren zuweilen vertreten – in Baden-Baden zusammen, um im vornehmsten Hotel, Stephanie, zu tafeln. Tags vorher, am Samstag, trafen sich schon die einzelnen Freundespaare. So habe ich damals mit Marcks im Hotel Grethel auf der Höhe schöne Stunden verlebt. Und die Lichtentaler Allee auf und ab wandelten dann die Paare, so daß man schon an ihren Gruppierungen beobachten konnte, was sich einander suchte und was einander mied.“7
Die badischen Universitäten galten im Kaiserreich ausdrücklich als Sommeruniversitäten, die mit Landschaft, Wanderungen, Skifahren und Wein, Weib und Gesang anlockten. Diesen Treffen wollten die aufstrebenden Doktoranden aus den Seminaren von Friedrich Meinecke, Heinrich Rickert oder Georg von Below nacheifern. Eugen Rosenstocks Akademikergeneration war vielleicht die letzte, die mit einem ungebrochenen Führungsanspruch ihr Studium begann. Wie selbstverständlich waren sie im Glanz der deutschen Weltmachtgeltung aufgewachsen und beabsichtigten nun, als die zu einem Studium auserwählten Jahrgangsbesten in die Schaltstellen des Staates einzurücken. Schon die Studenten waren sich ihres Ranges zu tiefst bewußt wie sich an den zeitgenössischen Photographien ablesen läßt. Bei dem ersten Treffen kam es zu einer bunten Mischung philosophischer und historischer Provenienz. Gerade zu der damaligen Zeit wurden bisher unhinterfragte Prämissen des etablierten Historismus problematisch und in der Herausforderung des Marxismus wurden die philosophischen Systeme von Kant und Hegel problematisiert. Der Freiburger Nationalökonom Gerhard von Schulze-Gaevernitz widmete seine öffentliche Rede bei der Übergabe des Prorektorats dem Thema „Marx oder Kant?“. Als eine wichtige Stellungnahme wurde 1911 Johann Plenges Schrift „Marx und Hegel“ registriert. Zum Kristallisationspunkt vieler der damaligen Diskussionen wurde die Zeitschrift Logos, die als „Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur“ ab 1910 erschien und vor allem von Freiburger Schülern Heinrich Rickerts wie Georg Mehlis oder Richard Kroner getragen wurde. Auf der Titelseite wurden als Mitwirkende erwähnt: Rudolf Eucken, Otto Gierke, Edmund Husserl, Friedrich Meinecke, Heinrich Rickert, Georg Simmel, Ernst Troeltsch, Max Weber, Wilhelm Windelband und Heinrich Wölfflin. Die Zeitschrift erschien zugleich in russischer Sprache und wurde sehr von Studenten beachtet, denen mehr als ein reines Brotstudium vorschwebte. Den Kontrapunkt setzte die traditionelle „Historische Zeitschrift“, die seit 1896 vom Herausgeber Friedrich Meinecke geprägt wurde. Zwar gab Meinecke seiner Zeitschrift einen geisteswissenschaftlichen Spin, blieb aber der faktenbasierten und detailfixierten Linie der historischen Tradition treu. Gegen diesen Historismus bezogen dann vor allem die Vettern Franz Rosenzweig und Hans Ehrenberg Position:
Auf Betreiben von Ehrenberg – von Rosenzweig unterstützt – kommt es zu einem Zusammenschluß junger Doktoranden der Philosophie und der Geschichtswissenschaft aus Heidelberg, Freiburg und Straßburg, die ein erstes Treffen für Januar 1910 in Baden-Baden vereinbaren. Dieser Gruppe gehören die Philosophen Hans Ehrenberg, Richard Kroner und die Historiker Franz Rosenzweig, Siegfried A. Kaehler, Eduard Wilhelm Mayer, Erich Marcks, Walter Sohm, Kurt Breysig, der Rechtshistoriker Eugen Rosenstock, der Romanist Ernst Robert Curtius, der Pädagoge und Schriftsteller Werner Picht sowie die Mediziner Rudolf Ehrenberg und Victor von Weizsäcker an. Beim ersten Treffen am 9. Januar 1910 in Baden-Baden referieren Richard Kroner über Henri Bergson, Hans Ehrenberg über die „Entwicklung des christlichen Standpunkts der christlichen Dogmengeschichte der Gegenwart“ und Franz Rosenzweig über die „Hegel-Renaissance. Geschichtskonstruktionen der Gegenwart“. Anschließend kommt es zu einem Eklat.8
Der Eklat führte zu einer Spaltung der Meinecke-Schülerschaft in die eher konservativer eingestellten Historiker, die bis in die 60er Jahre die deutschen Lehrstühle dominieren sollten und den eher philosophisch oder lebensweltlich ausgerichteten Doktoranden, die ihre Handlungsschwerpunkt später eher außerhalb der akademischen Welt suchten: „Überhaupt läßt sich das Baden-Badener Programm als Manifest im Interesse einer neuen Sachlichkeit im Bereich der Philosophie verstehen. Aber eben dieser Ton einer neuen Sachlichkeit wohl war es, der nach einem programmatisch gemeinten Vortrag von Rosenzweig über das 18., 19. und 20. Jahrhundert die Opposition der anderen Meineckeschüler auf den Plan rief, an der das Baden-Badener-Programm schließlich scheitern sollte. So jedenfalls berichtet Viktor von Weizsäcker in seiner Autobiographie (Natur und Geist, Göttingen 1955, 26)“9
Zum Teil trugen die Kombattanten tiefe seelische Verletzungen mit sich: „Rosenzweig ist ganz ausgeschieden aus dem Kreis, ein Semester lang dahin lebend, den ehemaligen Bekannten auf Schritt und Tritt begegnend und ausweichend, ein peinliches Erlebnis für alle Teile.“10 Von daher ist die Einschätzung des Wissenschaftshistorikers Rüdiger von Bruch, der die Schülerbildung Friedrich Meineckes erst ab 1918 datieren wollte, wenig plausibel:
Erst nach 1918 strahlte er wirklich aus, war er der bedeutendste Lehrer unter deutschen Historikern in der Weimarer Republik, wie sein früherer Schüler Gerhard Masur 1954 vermerkte. Erst jetzt sammelte sich ein junger intellektueller Sauerteig um ihn, Schüler mit unterschiedlichen politischen Optionen, von sozialistischer bis zu nationalkonservativer Einstellung, und der Lust an methodischen Experimenten, nicht selten auch aus jüdischem Großbürgertum, die den Lehrer verehrten, der keine eigene Schule bilden wollte.11
Das Treffen erregte schon vorab gehörige Aufmerksamkeit in den akademischen Kreisen Badens und Gerüchte machten die Runde. Vor allem wurde gerügt, daß die Doktoranden ihre Konferenz ohne Abstimmung mit den Ordinarien angekündigt hatten. Die ausführlichste Schilderung dieser Atmosphäre verdanken wir Paul Honigsheim, einem Doktoranden Max Webers:
Am meisten aber sind damals, wenigstens für eine Zeitlang, die Webers und ihr Kreis durch zwei Begebenheiten, die sich innerhalb der Sphäre der Philosophie abspielten, berührt worden. Etliche jüngere dortige Akademiker hatten nämlich mit Freunden aus Freiburg und Straßburg monatliche Treffen in Baden-Baden mit kulturwissenschaftlichen Vorträgen und Diskussionen vereinbart. Einige unter den stärker hervortretenden Persönlichkeiten waren in ihrer ausgesprochen antiliberalen Haltung stark auf „neue Bindungen“ aus und in der Tat recht hegelianisch eingestellt. Allerdings von Heidelberg abwesend war in jenen Tagen der damals prononcierteste Hegelianer Julius Ebbinghaus. Er war der Sohn eines stark empirisch eingestellten Philosophen und Psychologen und wurde deshalb von Driesch unter Verwendung hegelianischer Terminologie „Die Idee des Vaters in ihrem Anderssein“ genannt, hat sich aber später einem strengen Kantianismus zugewandt. Wohl aber lebten zwei, zum mindesten damals recht hegelianisch eingestellte Leute in jenen Tagen in der Neckarstadt. Es waren Hans Ehrenberg und sein Vetter Franz Rosenzweig. Beide waren jüdischer Abstammung, fühlten sich aber ganz außerhalb der israelitischen Kultur stehend. Ehrenberg hat das später bekundet, indem er sich bald danach auch positiv-protestantischer Religiosität zuwandte, und Rosenzweig, indem er sein Buch „Hegel und der Staat“ schrieb, das viel diskutiert wurde. Friedrich Meinecke, mit dem wir schon als Verfasser des Buches „Weltbürgertum und Nationalstaat“ bekannt wurden, und der damals einer der aufgeschlossensten unter den deutschen Historikern war, wurde derart von dem Werk eingenommen, daß er dem Verfasser die Habilitation als Privatdozent an der Universität Freiburg anbot, die jener aber ablehnte. […] Wegen der geschilderten damaligen hegelianisierenden Einstellung etlicher Mitglieder wurde nun aber die ganze Baden-Badener Veranstaltung von einigen Mißgünstigen unrichtigerweise als Hegel-Klub bezeichnet. Nun gab es zudem selbst im damaligen Heidelberg etliche recht professoral gesinnte Leute. Sie waren entrüstet und heischten, man hätte doch „die ganze philosophische Fakultät zur Eröffnungssitzung einladen müssen“. Nicht so Max Weber. Trotzdem oder gerade weil er Hegel und Hegel-Klubs nicht liebte, fühlte er sich verpflichtet, sich für das Recht anderer einzusetzen, sich zu Hegel zu bekennen und ihn zu propagieren. Diese echt Webersche Haltung ist mir aus seinen persönlichen mündlichen Bemerkungen noch deutlich in Erinnerung. Alle derartigen Auseinandersetzungen traten nun aber für eine allerdings nur relativ kurze Zeit zurück gegenüber dem Aufsehen, das zwei „Gestalten vom Gegenpol“ erregten, wie sie Marianne in ihrer Biographie ihres Gatten genannt hat. Es waren Georg von Lukács und sein damaliger Freund Ernst Bloch. Ersterer war schon zu jener Zeit prononciert gegen Bürgerlichkeit, Liberalismus, Verfassungsstaat, Parlamentarismus, revisionistischen Sozialismus, Aufgeklärtheit, Relativismus und Individualismus eingestellt.12
Diesen wesentlich breiteren Kontext sollte man daher im Hinterkopf behalten, um die Reichweite der Gedanken einzuschätzen, mit denen sich Eugen Rosenstock während seines Studiums in Heidelberg auseinandersetzte. Und man sollte seiner Einschätzung noch genauer nachgehen, die er in einem Brief am 17.6.1947 an seinen Freund Ernst Michel aus der katholischen Sozialbewegung festhielt: „Ich habe Deine Darstellung der Geschichte des Du oder der Du-Entdeckung im „Partner Gottes“ gelesen. Da Du sie so schriebst, so muß sie wohl für Dich wahr sein. Ich sehe es natürlich anders an. Sowohl Franz Rosenzweig wie Hans Ehrenberg wären ohne meinen Vorgang niemals sprachbewußt oder Du-kundig geworden. Im Briefband von Rosenzweig kannst Du das ja ganz bündig lesen, und das war ja die Bekehrung von Franz durch mich, und die Übersendung meiner „Sprachlehre“ ist im „Neuen Denken“ von ihm ausdrücklich festgestellt. In dieser „Sprachlehre“ aber steht die ganze Grammatik ausführlich drin. Wenn man aber Deine Seite liest, so trotte ich als Outsider neben den anderen einher, obwohl ich die zentrale Einsicht seit 1912 jedem, der es hören will, predigte, und Rosenzweig war eben der erste, der wollte. Hans Ehrenberg war ganz ahnungslos und lernte es von uns beiden. Sein Plan in Baden-Baden scheiterte genau an dieser Unkenntnis, daß die Sprache nichts Natürliches ist.“13
Die Baden-Badener Konferenz war eine Art Nukleus für viele der späteren Initiativen der Teilnehmer, vielleicht auch ein erstes Aufscheinen des späteren „Stern der Erlösung“, so wie Rosenzweigs „Hegel und der Staat“ das Hegelkapitel aus Meineckes „Weltbürgertum“ ausdeutete. Franz Rosenzweig sowie Hans und Rudolf Ehrenberg waren Vettern und als gleichaltrige Studenten ohnehin im Gespräch. Franz Rosenzweig und Viktor von Weizsäcker kannten sich seit 1906 aus dem Medizinstudium in Freiburg. 1909 hatte Weizsäcker Eugen Rosenstock beim Säbelfechten sekundiert, dessen Freunden begegnete er 1910 zum ersten Mal. Viele ihrer Baden-Badener Opponenten wurden angesehene Historiker, die nach dem zweiten Weltkrieg die Lehrstühle der Bundesrepublik dominierten. Aus dem geistigen Ringen von 1910 wurde nach 1930 blutiger Ernst. Von daher bietet sich eine „symblysmatische“ Betrachtung (die Wissenschaft argumentiert „prosopographisch“) dieser Kreise an, in vergleichender Betrachtung anderer dominanter Gesprächszirkel: der Marxisten und der George-Jünger. Auch Georg Lukács und Ernst Bloch trafen, wenn auch in Budapest, 1910 erstmals aufeinander und schon bald stürmten sie zu Max Weber nach Heidelberg. Vom Rickert-Schüler und engen Freund der Webers, Emil Lask, verbreitete sich schon bald der Witz von den vier Evangelisten, Matthäus, Markus, Lukács und Bloch durch das Weltdorf am Neckar. Ein solch breiter Ansatz könnte auch einer Tendenz entgegenwirken, die Eugen Rosenstock-Huessy der Meinecke-Schule nach der deutschen Katastrophe gemacht hat: die „Flucht in die Biographie“: „Diese Kondensierung der Geschichte in die Biographie ist also der dem Publikum (den Griechen) schon mit Jason, Achill, Odysseus vorgespielte Individualitätstraum. Heut seit 1890 ist die ganze Meinecke-Schule aus der Historie in die Biographie ausgerissen. Der eine Lamprecht blieb der Geschichte treu, Oncken, Brandenburg, Meinecke, Marcks, Ritter – alle flohen in die Biographie! Wie überzeugend ließe sich doch dieser „Fall“ ins reine Griechentum, in das Sonnenjünglingsdasein des Hyperion, in einer Zeitschrift zur Sprache bringen!“14
1910 jedenfalls war ein historischer Knackpunkt von symbolischer Bedeutung für die Ideenkreise der unmittelbaren Vorkriegszeit, die gleichzeitig eine Zeit unvergleichlichen Wohlstands und technischen Fortschritts war. Und so eklatant das Scheitern des Treffens ausfiel, umso bedeutungsvoller waren die Neuformierungen die sich später daraus ergeben sollten, ob bewußt erstrebt oder unbewußt vollzogen. Vor diesem Hintergrund bewiesen die gescheiterten Initiatoren Hans Ehrenberg und Franz Rosenzweig wohl ein feineres Sensorium für die Zukunft als die „Traditionalisten“:
„Zusammen mit Franz Rosenzweig und dessen Vetter Hans Ehrenberg gehörte Weizsäcker einer kurzlebigen Gesellschaft an, die „die zeitgenössische Kultur zum Gegenstand historischer Betrachtung zu machen suchte“. Die erste Sitzung dieser Gesellschaft, die nach den Herausgebern der Briefe Rosenzweigs (1935) „Badener Gesellschaft“, laut Weizsäcker „Baden-Badener Gesellschaft“ hieß, fand am 9.1.1910 in Baden-Baden statt. Diese Sitzung endete laut Weizsäcker nach einem allzu hegelianisch- spekulativen Referat Rosenzweigs mit dem „Austritt“ einer Gruppe von Meinecke-Schülern. Dabei wurde nach Weizsäcker auch ein antisemitischer Unterton gegen Ehrenberg und Rosenzweig deutlich. Er habe sich zur Partei der Gründer gehalten und habe sich „nichtsahnend in der Gruppe der angeblichen Philosemiten wiedergefunden“. Sicher ist, dass die Gesellschaft nicht lange existierte, aller Wahrscheinlichkeit nach fand keine weitere Sitzung mehr statt.“15
Baden-Baden war nur eine erste von weiteren Etappen:
So aber, wie Rosenzweigs Scheitern an der Aufgabe einer religiösen Erneuerung seines Volkes aussah, so sahen auch die christlichen und weiterhin die geistigen Versuche gleicher Art aus. Da waren zunächst seine zwei Vettern Hans und Rudolf Ehrenberg, sein Freund Rosenstock, die gleichaltrigen; Werner Picht, der Volksbildungsmann, Leo Weismantel, der Dichter, Carlo Philips, der Übersetzer, und etwas entfernter noch ich selbst. Es lag nahe genug, daß die so Bestrebten auch Fühlung mit den aus der Kirche hervorgehenden Bewegungen bekamen, und das waren vor allem Karl Barth und seine Freunde Thurneysen, Gogarten und Merz. Ein neuer Kreis entstand so, der sich in Erinnerung an die Insel, auf der dem Johannes die Apokalypse offenbart wurde, als Patmos-Kreis bezeichnete und auch mit einer Schriftensammlung hervortrat; an diesem Kreis habe ich mich nicht beteiligt. Rosenzweig bezeichnete mich als den einzigen seiner Freunde, der die Wissenschaft noch ernst nehme, was sowohl Achtung wie wohl ein kleiner Hochmut von seiner Seite war. Aber er selbst gehörte auch nicht zum Patmos-Kreis; der war ihm wohl zu sehr aus Juden, Christen, Philosophen und unruhigen Geistern zusammengesetzt. Inselartig waren in der Tat diese Kreise, flüchtig aufleuchtend wie Inseln der Sage, aber doch radikal und hart genug gegen die Versuchungen der Zeitpolitik, wie Korallenriffe, die auch, wenn sie bald überflutet werden, die Struktur der geistigen Landschaft stark bestimmt haben, und die auch jetzt noch zum Untergrunde unserer Geschichte gehören.16
Man wird den Protagonisten der angesprochenen Richtungen kaum den Vorwurf machen können, ihre Zeit nicht entschieden herausgefordert zu haben. In einem Brief an Eugen Rosenstock-Huessy stellte Jacob Taubes am 8.6.1953 fest, daß Heidegger der Sprachphilosophie Eugen Rosenstocks und Franz Rosenzweigs „immer“ um fünfzehn Jahre nachhinke. Hannah Arendt, deren Aufsatz über Heidegger 1969 erschien, hielt annähernd das gleiche Tempo.
Sven Bergmann
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Hannah Arendt, Martin Heidegger ist 80 Jahre alt, in: dies., Menschen in finsteren Zeiten, hrsg.v. Ursula Lutz, München; Zürich: Piper Verlag 1989, S.172. ↩
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Eugen Rosenstock-Huessy, Hegel und unser Geschlecht (1924/25), in: ders., Friedensbedingungen der planetarischen Gesellschaft. Zur Ökonomie der Zeit, hrsg. von Rudolf Hermeier, Münster: Agenda-Verlag 2001, S.288. ↩
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Heinrich Levy, Die Hegel-Renaissance in der deutschen Philosophie mit besonderer Berücksichtigung des Neukantianismus (= Philosophische Vorträge; Bd.30), Charlottenburg: Pan-Verlag Rolf Heise 1927, S.10 ↩
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Max Weber an Karl Wolfskehl am 9. März 1913, in: ders., Briefe 1913-1914, hrsg.v. M. Rainer Lepsius, Wolfgang J. Mommsen (= MWG II/8), Tübingen: J.C.B.Mohr(Paul Siebeck) 2003, S.115. ↩
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Max Weber an Georg von Lukács am 6. März 1913, in: ders., Briefe 1913-1914, hrsg.v. M. Rainer Lepsius, Wolfgang J. Mommsen (= MWG II/8), Tübingen: J.C.B.Mohr(Paul Siebeck) 2003, S.107. ↩
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Meinecke, Friedrich, Straßburg / Freiburg / Berlin. 1901 – 1919. Erinnerungen, Stuttgart: K.F. Koehler Verlag 1949, S.94ff. ↩
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Friedrich Meinecke, Straßburg / Freiburg / Berlin. 1901 – 1919. Erinnerungen, Stuttgart: K.F. Koehler Verlag 1949, S.52. ↩
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Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber (= Rosenzweigiana; Bd.1), Freiburg, München: Verlag Karl Alber 2006, S.65. ↩
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Ullmann, Wolfgang, Die Entdeckung des neuen Denkens. Das Leipziger Nachtgespräch und der Briefwechsel über Judentum und Christentum zwischen Eugen Rosenstock und Franz Rosenzweig, in: stimmstein. Jahrbuch der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft, Bd.2, hrsg.v. Bas Leenman, Lise van der Molen, André Sikojev, Eckart Wilkens, Moers: Brendow Verlag 1987, S.147-178; S.150ff. ↩
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Siegfried A. Kaehler an Johannes Kramer, 30. August 1910, in: ders., Briefe 1900 – 1963, hrsg. von Walter Bußmann und Günther Grünthal (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd.58), Boppard am Rhein: Harald Boldt Verlag 1993, S.125. ↩
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Rüdiger vom Bruch, Ein Gelehrtenleben zwischen Bismarck und Ademauer, in: Friedrich Meinecke und seine Zeit. Studien zu Leben und Werk, hrsg.v. Gisela Bock und Daniel Schönpflug (= Pallas Athene; Bd.19), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, S.16/17. ↩
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Paul Honigsheim, Erinnerungen an Max Weber, in: Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit, hrsg.v. René König und Johannes Winckelmann, 2. Aufl. (= Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie; Sonderheft 7), Opladen: Westdeutscher Verlag 1985, S.183/184. ↩
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Mitteilungen der Eugen Rosenstock-Huessy-Gesellschaft, 25. Folge, April 1977. ↩
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Eugen Rosenstock-Huessy an Georg Müller, Juli 1959, in: Mitteilungen der Eugen Rosenstock-Huessy-Gesellschaft, 18. Folge, Mai (1973), S.7. ↩
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Udo Benzenhöfer,, Der Arztphilosoph Viktor von Weizsäcker, Leben und Werk im Überblick, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S.26. ↩
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Viktor von Weizsäcker, Begegnungen und Entscheidungen, Stuttgart: K.F. Koehler Verlag 1949, S.15ff. ↩