Sven Bergmann: Berliner Jugend unter wilhelminischer Kuppel
Der „Chorknabe“ Eugen Rosenstock
Sein Freund Franz Rosenzweig hat Eugen Rosenstock im September 1918 scherzhaft vorgeworfen, „der letzte Monarchist“ geblieben zu sein, obwohl die Monarchen selbst nicht mehr an ihr Gottesgnadentum glaubten. Vor dem Hintergrund seiner preußischen Lehrjahre ist diese Einstellung wenig überraschend. Bevor Eugen Rosenstock im Mai 1906 zum Studium in Zürich wechselte, besuchte er in der Hauptstadt der Hohenzollern zunächst das Kaiser-Wilhelm-Gymnasium nicht weit vom Potsdamer Platz und dann das Joachimsthaler Gymnasium. Seine Mitschüler kamen aus den höchsten Kreisen der Gesellschaft. Geboren im 1888 noch selbständigen Steglitz zog die neunköpfige Familie nach der Jahrhundertwende in die Hauptstadt. Die Königin-Augusta-Str. 44, direkt am Landwehrkanal, lag nur wenige Schritte vom Kaiser-Wilhelm-Gymnasium entfernt. Im Haus wohnten außerdem der Generalfeldmarschall von Haeseler und der Generaladjutant Wilhelm von Hahnke, der wichtigste Militärberater des Kaisers. Bezeichnend war von Hahnke mit 67 Orden der meistdekorierte Preuße. Eugens Vater Theodor war solches Gehabe verpönt: „der hat den Großen Adlerorden abgelehnt und den Kommerzienratstitel selbstverständlich abgelehnt und alles andere, was an Titeln abzulehnen war. Der hat gesagt: Was, von diesen Leuten soll ich mich ehren lassen, von einem Kaiser, der zu seinem Volk „Kanaille“ sagt? Damit habe ich nichts zu tun. Darauf bin ich sehr stolz!“ (Eugen Rosenstock-Huessy, Die Gesetze der christlichen Zeitrechnung. Gastvorlesung an der theologischen Fakultät der Universität Münster/Westfalen Sommersemester 1958, hrsg.v. Rudolf Hermeier und Jochen Lübbers, Münster: agenda Verlag 2002, S.104).
Die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg waren prägende Jahre für die rasant wachsende Stadt. 1905 überschritt Berlin die Marke von zwei Millionen Einwohnern. Oft hat Eugen Rosenstock an das „amerikanische Tempo“ seiner Jugend erinnert:
Wir sind Kinder einer wirtschaftlich materiellen „realistischen“ Zeit. Von Idealismus wurde zwar reichlich geredet in deutschen Landen zwischen 1870 und 1914. Aber das schwamm nur wie Schneeschaum auf der Biersuppe des Alltags. Der Alltag, aus dem wir kommen, war so „real“, daß er stumm, unverklärt, nackt, formlos, stillos, materiell war: er hieß PS PS PS, Soldaten Soldaten Soldaten, Schiffe Schiffe Schiffe, Telefon Telefon Telefon, Großstadt, Großmacht, Größenwahn. Und heute überschlägt sich dieser stumme, unverklärte Realismus in Radio, Kino, Zeppelin. (Eugen Rosenstock-Huessy, Hegel und unser Geschlecht (1924/25), in: ders., Friedensbedingungen der planetarischen Gesellschaft. Zur Ökonomie der Zeit, hrsg. von Rudolf Hermeier, Münster: Agenda- Verlag 2001, S.288)
Als Eigentümer einer Privatbank drehte sich das Berufsleben seines Vaters rund um die Börse der Hauptstadt. An Handelstagen versammelten sich dort mehr als 4000 Kaufleute. Auf dem gleichen Grundstück war 1906 an der Spandauer Straße 1 die von der Kaufmannschaft getragene Handelshochschule eröffnet worden und nur eine Querstraße weiter befand sich die alte Synagoge an der Rosenstraße. Gleich gegenüber der Börse, auf der Spreeinsel, wuchs in diesen Jahren die größte Baustelle der Stadt, der Dom zu Berlin. Lange bevor der neue Dom 1909 eröffnet wurde, veränderte er als Bollwerk des Protestantismus in der Welt bereits markant die Silhouette der Stadt: „Der Dom beherrscht mit seiner Baumasse nicht nur den Lustgarten und seine Umgebung, sondern bestimmt durch seine hohe Kuppel den Charakter des ganzen Stadtbildes.“ Der Schüler Eugen Rosenstock konnte Tag für Tag verfolgen, wie der Dom in den Himmel wuchs. Sicher wird der Vater dem Pennäler seinen Arbeitsplatz gezeigt haben. Dabei war die Architektur des Doms heftig umstritten: „Der Bau, den wir vor uns haben, ist ein protestantischer Dom, kein katholischer; und der Stil, in dem er ausgeführt wird, ist ein katholischer, kein protestantischer. Mit dem theatralischen Reichtum der Renaissance ist ganz von selber die Vorstellung der katholischen Kultur verbunden. Hat sich dazu der Protestantismus losgerissen, daß er nach vierhundert Jahren in seiner deutschen Hauptkirche wieder die Sprache derer spricht, von denen er sich losriß?“ In der Innengestaltung spiegelte sich das protestantische Selbstbewußtsein: „Der Haupteingang befindet sich in einer hohen Rundbogennische, über der zwei Bronzeengel ein Schild halten. Doppelsäulen begrenzen die Nische; davor in Kupfer getrieben, über bronzenen Sockelreliefs, die Evangelisten: l. über Luther in Worms Matthäus und Markus, von Janensch, r. über Luthers Bibelübersetzung Lukas und Johannes, von Götz; auf dem Kämpfergesims Gnade und Wahrheit, bronzene Engelgestalten von Widemann.“ „Am Fuß der Kuppel acht 4m hohe Standbilder: Luther und Melanchthon neben der Apsis; nach l. Zwingli, Philipp der Großmütige, Friedrich der Weise; nach r. Calvin, Albrecht von Preußen und Joachim II. Der 1960 Sitzplätze enthaltende Kirchenraum hat die Gestalt eines ungleichseitigen Achtecks.“ Erster Organist des neuen Doms war der Musikpädagoge Hermann Kawerau, Eugens Musiklehrer am Kaiser-Wilhelm-Gymnasium:
Von Sexta ab oder von der Nona – das weiß ich auch nicht mehr – nahm ich am christlichen Religionsunterricht und vor allem vom ersten Tag an auch am Choralsingen teil. Wir hatten einen herrlichen Chororganisten, Kaverau, bei dem mein Herz heute noch lacht: die Händel- und Bach-, die höchst christlichen Weihnachts-, Ostern- und Pfingstfeiern zu Hause waren höchst eindringlich.
Der mehrstimmige Choralgesang war gerade deshalb geschaffen worden, weil sich der katholische Ritualgesang nicht für den protestantischen Gemeindegottesdienst eignete. Er lehnte sich deshalb an das Volkslied an, das er hymnenartig bearbeitete. Der Choral mit seinen Höhepunkten bei Bach und Händel wurde zum Mittelpunkt des Gottesdienstes und bildet den Inbegriff protestantischer Musik. Die Berliner Sing-Akademie ist bis heute eine der weltweit führenden Institutionen der Bachpflege. Hermann Kawerau hat sich in dieser Tradition große Verdienste erworben. Mehrfach aufgelegt wurde sein Choral-Buch zu den Melodien für das Evangelische Gesangbuch. Im Jahr 1891 war er führend an der Säkularfeier der von Carl Friedrich Fasch gegründeten Sing-Akademie beteiligt und gab anschließend einen Bericht über die Feierlichkeiten. Als Dank für das erfolgreiche Jubiläum führte der Chor Händels Dettinger Te Deum sowie dessen Komposition zum 100 Psalm auf. 1900 verzichtete Kawerau, für das Amt als Direktor der Singakademie zu kandidieren. Der Choralgesang hat Eugen Rosenstock tief geprägt. Im Abschlußkapitel seiner Soziologie „Im Kreuz der Wirklichkeit“ spricht er von der Geschichte des Menschengeschlechts als einem großen Sang. „Die Partituren dieser Komposition, die Geschichten, müssen in so vielen Auflagen umgeschrieben werden, wie es Geschlechter der Menschen gibt. Denn die Komposition wird ja in jedem Geschlecht von denen umkomponiert, deren Lieben ein Morden oder Sterben überwindet.“