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Sven Bergmann: Ecclesia Depopulata reanimata

Die Ankündigung vom „Ende” der Amtskirche vor 100 Jahren

Die Kirche war schon immer am Ende. Der Tod geht dem Leben voraus und Eschatologie als die Lehre von den letzten Dingen ist die christliche Botschaft über 2000 Jahre. Jesus war kein Olympier, sondern ist als Lamm Gottes den Kreuzestod gestorben. Das paßt weniger denn je in eine Zeit, in der die Dinge des Tages geleckt, gelackt, gefönt, gepudert, gegeelt, gestrafft gepolstert sprich optimiert erscheinen. Der richtige Filter biegt das krummste Holz zurecht. Aber kann ein oberflächenversiegeltes Teflon-Christentum funktionieren? Funktionieren vielleicht, aber sicher nicht wirken. Friedrich Nietzsche hatte diese Stellungnahme zur geistigen Situation der Zeit schon vor mehr als hundert Jahren mit dem Bann belegt, der letzte Mensch blinzele, denn er sei zum bloßen Abklatsch seiner Äußerlichkeiten verkommen. Mit dem Anpassungsdruck der sozialen Kontroll- und Überwachungsmedien könnte man von einer notorischen Dauergrinsmaskenkultur sprechen. Und natürlich ist das eine zutiefst deutsch-idealistische Sicht auf Mensch und Welt. Aber man sollte sich auch nicht täuschen lassen, schließlich vertiefte Max Weber Nietzsches Apercu auf die Alternative Europas zwischen russischer Knute und angelsächsischer Konvention und man könnte seit 30 Jahren hinzufügen: auch zwischen chinesischer Harmonie und arabischer Dekadenz. Es muß wohl doch angeführt werden, daß „Konvention“ just jene Arrangierung mit den Dingen und der Anpassung an Zeitgeist meint, den Verzicht auf Empörung, den Verzicht auf emotionales Übersprudeln. Alles hat irgendwie die gleiche Berechtigung und wieso soll man sich aufregen. Das eine könne ebenso das Rechte sein, wie das andere, Relativismus die Zukunft.

Es scheint, daß die Amtskirche, wie sie sich der Zweckkommunikation, Eventkultur, Marketing und PR anbiedert, nicht einmal verstanden hat, wie sehr sie gerade sie in ihrer „Modernität“ in die Irre geht. Wenigstens Protestanten sollten Luthers feine Unterscheidung zwischen „opus operatum“ und „opus operantis“ verstehen können. 1 Gemachtes Werk oder Werk des Handelnden? Aber wer die großen kirchlichen Etappen der letzten Jahrzehnte Revue passieren läßt, kann seinen Zweifel kaum verhehlen.

Nur wenn die Scheinheiligkeiten triumphieren sprießen Formulierungen wie „Der Islam gehört zu Deutschland“ (Der PR beraten und verkaufte Ex-Bundespräsident Wulff) oder „Demokratie braucht Religion“ (Hartmut Rosa). Natürlich „gehören“ weder der Protestantismus noch der Katholizismus oder das Judentum zu Deutschland und allein damit entlarvt sich schon alles weitere als bloße Scharlatanerie. Und das eine zweckrationale Religion keine gläubige Religion sein kann, dürfte sich auch schlichteren Gemütern erschließen. Die beiden deutschen Agenda-Christen, Wolfgang Huber und Joachim Gauck, jubelten dem schröderschen Ausverkauf der deutschen Wirtschaft ins Ausland zu (Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne). Wen wundert es da, daß der Buß- und Bettag als einziger gesetzlicher evangelischer Feiertag auf dem Altar des Marktradikalismus geopfert wurde und die Berater von McKinsey der siechen Amtskirche auf die Sprünge helfen sollten. Hauptsache man ist „in dieser Welt“ gut vernetzt in Hauptstadtkreise. Dann steht am Ende auch der Wiederauferstehung der Potsdamer Garnisonskirche nichts im Weg.

Der Festkalender des Reformationsjubiläums 2017 jedenfalls war eine fein getaktete Marketing-Offenbarung, für die Agenturen ihr Bestes gaben und Millionen Staatsknete nahmen, vom Event bis zum Hochglanzmagazin. Die ganze Veranstaltung war ja die Strafarbeit für die weltlichen Verfehlungen von Margot Käßmann. Stand viel Luther drauf, war aber wenig Gnade drin. „Gemachtes Werk“ statt „Werk des Handelnden“. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Karrierestamm. Und diesen Glaubwürdigkeitsverlust, diesen Schein ohne Sein, riechen und merken die einfachen Gläubigen oder die noch nicht Gläubigen meilenweit.

In postkonfessionellen Zeiten

Wie weit es die Kirchen inzwischen gebracht haben, dokumentiert die evangelische Kirche seit einigen Jahren in der „Kirchenmitgliederuntersuchung“. Die neueste sozialwissenschaftliche Studie im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und unter Beteiligung der katholischen Bischofskonferenz liefert 2023 ein Stimmungsbild wie es drastischer nicht ausfallen könnte. Die FAZ sprach von einem „historischen Kipppunkt“ für die christlichen Kirchen in Deutschland. Rein statistisch betrachtet bildet die Anzahl der Konfessionslosen mit 43 Prozent inzwischen die größte Bevölkerungsgruppen in Deutschland und hat fast gleichgezogen mit Katholiken (25 Prozent) und Protestanten (23 Prozent) zusammen. Und von diesen Gläubigen geben gerade einmal 15 Prozent an, täglich zu beten. Ein weiteres interessantes Detail der Studie besagt, daß sich die beiden großen christlichen Konfessionen in Deutschland nahezu vollständig aneinander angenähert haben. Im Blickwinkel der großen Mehrheit der Kirchenmitglieder ist die Ökumene längst Wirklichkeit, gerade in den Einstellungen zum christlichen Miteinander. Hier geht der Bruch eher zwischen Hierarchie und Kirchenvolk als durch die Konfessionen. Im Fazit hält die Studie fest, daß Deutschland in eine postkonfessionelle Ära eingetreten sei. Dabei sagt die äußere Konfessionszugehörigkeit natürlich nichts über den unsichtbaren Glauben, wie schon der Staatsrechtslehrer Rudolph Sohm immer wieder betont hatte. Natürlich kann man auch ohne Kirche christlich handeln, vielleicht sollte man vor allem auch ohne kirchliche Ausrichtung christlich handeln. Es scheint allerdings fraglich, wie eine Erziehung zum christlichen Handeln ohne eine mindestens elementare institutionelle Verankerung gelingen kann.

Warum überhaupt hat das Christentum vor 2000 Jahren triumphiert? Als „Theorie“, als „Theologie“, oder weil die Christen ihren Glauben durch Taten und durch den Einsatz ihres Lebens beglaubigt haben, „auf Schlangen und Skorpionen“? Wann waren Deutsche bewundert in der Welt zwischen 1517 und 1914. Warum waren sie da Vorbild und Maßstab für Kindergärten, Schulen, Bildung, Wissenschaft? Das war die Zeit als Deutsche und Juden sich nahe waren, als die deutschen Protestanten Reuchlin, Melanchthon und Luther das alte Testament studiert haben. Das war eine harte Lehre, gerade im Konfirmationsunterricht. Was machen wir heute? Religionsmarketing? Bunte Bildchen? Scheinwerfer? Bibel in einfacher Sprache? Alle haben recht und alles ist gut?

Denn wo das Exempel nicht mehr würde vorgehalten, würde die Gemeinschaft auch bald vergessen, wie wir jetzt leider sehen, daß viele Messen gehalten werden und doch die christliche Gemeinschaft, die da sollte gepredigt, geübt und in Christi Exempel vorgehalten werden, ganz untergeht, so sehr, daß wir fast nicht mehr wissen, wozu dies Sakrament diene und wie man sein brauchen solle, ja leider durch die Messen vielmals die Gemeinschaft zerstören und alles verkehren. 2

Kommt diese säkulare Entwicklung aus heiterem Himmel oder war diese Entwicklung absehbar?

Religio Depopulata 1923 reloaded

Die Diagnose der „religio depopulata“ wurde bereits vor fast genau einhundert Jahren gestellt. Gerade im Freundeskreis von Eugen Rosenstock-Huessy, Ernst Michel, Joseph Wittig oder Robert Grosche bestand nicht des geringste Zweifel darüber, daß das Zeitalter der Amtshierarchie auslaufe und zugunsten eines erneuerten Laienpriestertums zurücktreten müsse. Und schon Rudolph Sohm hatte mit seinem berühmten Fanfarenstoß die Stoßrichtung benannt: Das Kirchenrecht steht im Widerspruch mit dem Wesen der Kirche. Und so waren es vor allem die Kritiker der Amtskirche, der Patmos-Kreis, der Kreis um die Kreatur oder die Rhein-Mainische Volkszeitung oder der Volksbund für das katholische Deutschland am Niederrhein, die mit ihrer Kritik nicht hinter dem Berg hielten. Nur wenig beeindruckt hielt die Amtskirche ihr Gnadenbrot fest in der Hand.

1923 gab der politisch engagierte katholische Laie Ernst Michel, ein Kollege von Eugen Rosenstock an der Akademie der Arbeit in Frankfurt, den überkonfessionellen Sammelband „Kirche und Wirklichkeit. Ein katholisches Zeitbuch“ im Eugen Diederichs Verlag heraus. Mit von der Partie waren Joseph Wittig, Robert Grosche, Romano Guardini, Albert Mirgeler sowie Eugen Rosenstock mit zwei Aufsätzen. Ein kurzer Blick in den Aufsatz von Joseph Wittig, „Das allgemeine Priestertum“ bestätigt die alte Lebensweisheit: Wissen schützt vor Neuentdeckungen. Fast keine der aktuell diskutierten Fragen eines Laienpriestertums in der katholischen Kirche wurde damals ausgespart (in: Kirche und Wirklichkeit. Ein katholisches Zeitbuch, hrg.v. Ernst Michel, Jena: Eugen Diederichs Verlag 1923, S.21-43). Und die anderen Beiträge sind nicht weniger erhellend.

Einige Jahre später spitzte sich der Konflikt zwischen Hierarchie und Volkskirche weiter zu. Im Berliner Verlag Lambert Schneider erschienen zunächst Eugen Rosenstocks Kampfschrift „Religio depopulata“ und schließlich von 1926 bis 1928 als Gemeinschaftswerk mit Joseph Wittig „Das Alter der Kirche“, das neben Beiträgen zur Kirchengeschichte im dritten Band „Akten und Gutachten“ zum Verfahren gegen den Volkschristen dokumentierte.[^6} „Religio depopulata“ sprach vom „Erschöpfungszustand“ der Papstkirche, von einer „Kirche ohne Volk“.3 Kaum erkannt wurde, daß der Autor hier an die Kriegsschrift von Léon Bloy, „Jeanne d’Arc und Deutschland“ von 1915 anknüpfte und damit die Anklage gegen den Breslauer Bischof metaphorisch auf die Spitze trieb. Bloy hatte als „Religio depopulata“ die „kriminelle Taubheit“ des Erzbischofs von Reims und den „unerbittlichen Ungehorsam dieses Hohepriesters“ charakterisiert. 4 Implizit rückte Eugen Rosenstock Wittigs Schaffen in Parallele zur Volksnähe Jeanne d’Arcs. In welche Nähe Eugen Rosenstock schon bald geraten sollte, konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen. Viel später teilte er seinem engsten Freund und Kollegen in Breslau, dem Historiker Peter Rassow, mit, daß er sich nicht hätte vorstellen können, in die gleiche Lage wie Wittig zu geraten.5

Ein Jahrhundert später scheinen sich die ehedem formulierten Kritikpunkte als die wirklichen Zeitansagen zu bewahrheiten. Ob Bewegungen wie die Kirche vor Ort, Maria 2.0, Proteste gegen die Amtskirche und die persönlichen Verfehlungen der Priesterschaft im kollektiven Beschweigen sowohl nach weltlichen wie christlichen Maßstäben kriminellen Handlungen sind allgegenwärtig und man gewinnt den Einruck, daß sich inzwischen auch die letzten Bischofs-Bataillone in eine feste Burg zurückzuziehen wünschen, weiter geschützt durch das Mantra rechtsverbindlicher Statute, Abkommen, Konkordate und Paragraphen. Daß diese Strategie nicht funktionieren kann, belegt die Masse der Kirchenaustritte in Deutschland, unabhängig von der Konfession.

Zu dem Befund der Kirchenmitgliederuntersuchung gesellte sich wenige Wochen später ein weiteres Indiz. Nach einer medialen Schlammschlacht über den Rücktritt der amtierenden EKD Ratsvorsitzenden Annette Kurschus kommentierte der ehemalige Präsident des nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichts, Michael Bertrams, die Entscheidung als Vertrauensentzug von „erschreckender Lieblosigkeit und Kälte“ und trat von seinem Ehrenamt als Mitglied der Kirchenleitung zurück.

Ironisch könnte man sagen, die Kirche müsse sich „professionalisieren“ und aktiver in „sozialen“ Netzwerken kommunizieren! „Kommunikation“ gilt als Schlüssel für Reichweite und Relevanz, inzwischen auch in den Führungsetagen der christlichen Kirchen, die den hohlen Marketingjargon nachblöken. Nur mit dem Schlüssel zum christlichen Glauben hat dieses zweckrationale Handeln nicht das geringste zu schaffen. Wie wäre es wieder mit McKinsey und technischen Innovationen: Man könnte an der Himmelspforte eine Lichtschranke einbauen. Warum auf Petrus vertrauen, wenn man seine Schäfchen schwarz auf weiß zählen kann. Endlich lassen sich caritative Leistungen messen, evaluieren und reporten. Sola fide just in time. So gnade uns Gott!

aus: Mitteilungen 2023-12

  1. Martin Luther, Sermone vom heiligen Abendmahl <1519>, hrsg.v. Otto Dietz, München: Chr. Kaiser Verlag 1929, S.17. 

  2. Martin Luther, Sermone vom heiligen Abendmahl <1519>, hrsg.v. Otto Dietz, München: Chr. Kaiser Verlag 1929, S.9. 

  3. Eugen Rosenstock-Huessy, Religio depopulata, in: ders. und Joseph Wittig, Das Alter der Kirche, Bd.III, neu hrsg. von Fritz Herrenbrück und Michael Gormann-Thelen, Münster: agenda Verlag 1998, S.128. 2022 klingen diese Einschätzungen sehr retro! 

  4. Léon Bloy, Das Heil durch die Juden. Jeanne d’Arc und Deutschland. Zwei Schriften (= Bibliothek der Reaktion), hrsg.v. Peter Weiß, Wien und Leipzig: Karolinger 2002, S.129. 

  5. Peter Rassow und Eugen Rosenstock-Huessy kannten sich seit 1908 aus dem gemeinsamen Studium in Heidelberg.