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Rudolf Kremers: Die Sprachlehre Eugen Rosenstock-Huessys und die Predigt

Stimmstein 11, 2006

Die Sprachlehre Eugen Rosenstock-Huessys und die Predigt

„Diese Bände habe ich mir nicht ausgedacht. Sie geben kein Bild eines Augenblickes oder ein System zeitloser Wahrheiten wieder. Sie sind das wunderbare Geschenk von drei Vierteln eines Jahrhunderts an einen Liebhaber des Wortes.” So schreibt Eugen Rosenstock-Huessy in der Vorrede zu seinem großen Werk “Die Sprache des Menschengeschlechts”.1 Es handelt sich also bei dieser Veröffentlichung, neben dem anderen großen Werk der “Soziologie” um die Ernte seines Lebens, die er nach seiner Emeritierung (1957) eingefahren hat. Diese Ernte liegt nun bereit. und wartet darauf, überprüft und genutzt zu werden, was bisher nur ansatzweise geschehen ist. Das Folgende ist der Versuch von dieser Sprachlehre her das besondere Problem der Predigtsprache zu beleuchten.

1. Der lebensgeschichtliche Hintergrund der Sprachlehre

Eugen Rosenstock ist am 6.Juli 1888 in Berlin geboren. Er enstammt einer jüdischen Familie, ließ sich aber mit 18 Jahren evangelisch taufen. Das geschah nicht aus Opportunitätsgründen, aber auch nicht auf Grund einer besonderen Bekehrung, sondern ergab sich folgerichtig aus seiner geistigen Entwicklung. An den Freund Franz Rosenzweig schrieb er einmal darüber: „Ich glühe deutsche und jüdische Besitztümer ein, beim Versuch ein Christ zu werden”. Die Taufe war eine wichtige Etappe auf diesem Weg — nicht mehr. Rosenstock nennt sie einmal das „formelle Bekenntnis eines als Christ aufgewachten Gläubigen”. Das ist bezeichnend für ihn, erst gläubig, dann Christ. Dass diese Entwicklung schon während der Schulzeit begonnen hat, ist einem Interview zu entnehmen, das Rosenstock anlässlich der Herausgabe seiner Sprachlehre für den Rundfunk gegeben hat. Darin heißt es: „Ich habe seit meinem 15. Jahr Geistlicher werden wollen, aber immer gewusst, ich müsste das als Laie werden. Das war eine sehr merkwürdige Geschichte. Weshalb ich das gewusst habe, weiß ich nicht. Ich habe gesagt: ich will Pfarrer werden, aber nicht als Theologe. Eigentlich nur, was der Pfarrer tat, hat mich interessiert, die Gemeindebildung. Aber ich hatte irgendwie ein dumpfes Gefühl, mit der Theologie sei das noch viel komplizierter wegen der Sprache, wegen des Logos. Man braucht ja nur eine Weile Pfarrern zuzuhören, dann weiß man , dass sie nicht die Wahrheit sagen. Ich aber wollte die Wahrheit sagen. Das ist sehr schwierig.”2

An dieser Äußerung wird deutlich, wie früh Rosenstock schon von der Frage umgetrieben wurde, was es denn heißt, die Wahrheit zu sagen. Und die Predigten, die er zu hören bekam, haben diese Frage offenbar nur vertieft. - Wie die Wahrheit zur Sprache kommen kann. Diese Frage war für ihn gleichbedeutend mit der anderen, was überhaupt Sprache ist. Im selben Interview heißt es darüber: “Meine erste Erkenntnis ist gewesen, dass wir nur da sprechen, wo wir uns dafür auch in Stücke hauen lassen, und all das sogenannte Nachdenken und Bedenken der Philosophen daran gemessen werden muss, ob das Wort auch wahr gemacht, ob es bewährt wird. In „bewähren” steckt nun einmal das Wort „wahr”. Es gibt überhaupt nur bewährte Wahrheit, andere Wahrheit gibt es gar nicht. Von daher hat Eugen Rosenstock sein ganzes Leben lang mit dem Problem der Sprache gerungen. Er studierte zwar nach dem Abitur auf Wunsch des Vaters Jurisprudenz, aber seine ganze Liebe, ja Leidenschaft gehörte der Sprachwissenschaft. „Seit 1902 hat mein bewußtes Leben unter dem Kennwort ‘Sprache’ gestanden” schreibt er in seine „Autobiographischen Fragmenten”3

Den höchst dramatischen Lebensweg Rosenstocks, der später seinem Namen den Familiennamen seiner Frau Margrit Huessy hinzugefügt hat, können und brauchen wir hier nicht weiter zu verfolgen. Es genügt, sein Lebenswerk insgesamt als „Lehre” zu charakterisieren, und zwar als Lehre im umfassenden Sinn. Er war Lehrer an verschiedenen Universitäten in Deutschland und den USA, in der Volksbildung, in der Industrie, an der von ihm mitbegründeten „Akademie der Arbeit” in Frankfurt und in den von ihm konzipierten „Arbeitslagern” bzw. „Workcamps” in Schlesien und den USA. Immer ging ihm die Lehre vor der Forschung und immer wollte er dabei die Spaltung des Volkes in Gebildete und Ungebildete, Akademiker und Nichtakademiker, überwinden.

Am 24. Februar 1973 ist Eugen Rosenstock-Huessy in Vermont (USA), wo er sich nach seiner Emigration im Dritten Reich niedergelassen, gestorben.

2. Das Werk: „Die Sprache des Menschengeschlechts”

„Wer spricht? - Die Bestimmung der Sprecher”. Diese Frage steht programmatisch über dem ersten Teil des Rosenstockschen Sprachwerkes. Die Welt ist angefüllt, ja überschwemmt, mit Worten. Es wird gedichtet und kommandiert, berichtet und doziert, gemurmelt und gebrüllt usf. wer aber spricht wirklich und wie wird wirklich gesprochen? D.h. was ist das eigentliche Ween der Sprache? Das ist die Frage, die Rosenstock umtreibt. Und die Antwort, die er darauf findet lautet im Kern: Nur der spricht, der Antwort gibt auf einen gehörten Anruf und sich selbst damit bindet bzw. verwandelt. Das ist der Ursprung nicht nur aller Religion, sondern aller menschlichen Kultur und Gesittung. Es ist ihr göttlicher Grund, wie das Neue Testament gegenüber aller heidnischen Sprachlehre bezeugt. „Denn das Christentum hat den Logos aus der Natur heraus auf die Seite Gottes zurückgerissen. Das ,Wort war bei Gott’, soll rufen: Das Wort ist nicht ein Teil der Natur.”4 Das ist eine spezifisch christliche Erkenntnis.

„Der Ursprung der Sprache ist im Himmel, ihr Weg aber führt nach unten unter die Menschen, die sie aufnehmen müssen in ihre Herzen und Glieder. Wo aber das Wort nicht mit dem Herzen aufgenommen wird, da wird die Sprache bloß als Gehirninstrument misverstanden”.

So kann man sagen: Die ganz Sprachlehre Rosenstocks ist eine Auslegung und Entfaltung des johanneischen Satzes: „Im Anfang war das Wort”. - Nicht systematisch wird das da entfaltet, sondern, wie schon im Eingangswort gesagt, in Form von verschiedenen Erkenntnissen bzw. Aufsätzen, die dem Verfasser zu ganz verschiedenen Zeiten seines Lebens zuteil wurden. - Es ist natürlich unmöglich, in dieser Betrachtung der Fülle dessen, was in diesem Lebenswerk Rosenstocks ausgebreitet ist, auch nur annähernd gerecht zu werden. Ich möchte nur versuchen vom Kern, von den zentralen Ausssagen, dieser Sprachlehre her eine Schneise durch den Wald zu schlagen, die, wie ich hoffe, zu dem besonderen Problem der Predigtsprache hinführt.

Dass am Anfang der menschlichen Geschichte ein Anruf steht, bedeutet: der Mensch ist nichts „Natürliches”. Er ist nicht erklärbar und also kein Produkt der sog. Evolution. Denn er wird erst dadurch zum Menschen, dass er angesprochen wird und Antwort geben kann und muss. Darum gehört für Rosenstock der Erschaffung des Menschen 1. Mose 5 unbedingt hinzu; denn da heißt es: „Gott rief sie bei ihrem Namen ‚Mensch’ zur Zeit, da sie geschaffen wurden.” „Ein noch nicht angesprochener Mensch”, schreibt Rosenstock, „ist noch gar nicht der Mensch, den Gott geschaffen hat, und dem er sich offenbart, und dem er sein Erlösungswerk anvertraut. Aus der Gemächlichkeit derer, die einen Paragraphen nach dem anderen kommentieren, ist jener Adam der Bibelkritik und des Darwinismus erwachsen als namenloses Ungeheuer, als sprachloses Ich”.5

Dieser Ursprung des Menschen in der Sprache wird uns verdeckt durch die Grammatik, die wir in der Schule lernen. Denn da heißt es: „ich denke, du denkst, er denkt…” und „ich spreche, du sprichst, er spricht …”, so als könnte ein Mensch denken und sprechen bevor er angesprochen ist. Davon geht auch die gesamte akademische Wissenschaft aus. Da ist zuerst der Gedanke - cogito ergo sum - der dann in Worte gefasst wird. Da ist zuerst ein „Ich”, das denkt und dann spricht, indem er seine Gedanken zum Ausdruck bringt. Diese Vorstellung erscheint uns ganz selbstverständlich; aber sie ist eben falsch und macht wirkliches Sprechen unmöglich. Das kann man schon sehen, wenn man die Entwicklung eines Kindes beobachtet. Das Kind lernt ja erst „ich” sagen, wenn es angesprochen ist, d.h. es muss erst „du” genannt werden, bevor es „ich” sagen kann. Ja das „Ich” kommt sogar zuletzt, zunächst kommt noch das „Er” und „Sie”. Das Kind sagt zunächst nicht: „Ich habe Hunger” oder „ich bin müde”, sondern „Hans hat Hunger” oder „Erna ist müde Hunger”. Das kann es sagen, nachdem es namentlich als „Hans” und „Erna” angerufen wurde. Dann erst lernt es auch „ich” sagen. Darin ist aber die geistige Entwicklung des Menschen abgebildet. Der Mensch erwacht erst zum Bewußtsein seiner selbst dadurch, dass er angesprochen wird und Antwort geben muss.

Diese Sicht der Sprache und ihrer Bedeutung für die Entstehung und Entfaltung menschlichen Lebens hat umwälzende Folgen. Rosenstock spricht hier von einer „kopernikanischen Wende der Grammatik”, die wir vollziehen müssen. „Im ptolemäischen Sprachall steht jeder Sprecher in der Mitte, wie einst der Planet Erde in der Mitte der der Welt geglaubt wurde. - Das ist ungeheuerlich. Wir sprechen nur, weil wir hören müssen. Lasst uns also die Wendung des Kopernikus vollziehen. Und wir wollen nun auf Grund dieser Wendung die exzentrische Grammatik aufbauen.”6 Wer spricht, wer wirklich spricht, antwortet immer immer auf das, was zuvor zu ihm gesprochen wurde. Er tritt in den großen Sprachstrom ein, der in der Menschheitsgeschichte fließt, von Adam bis zum „jüngsten Tag”.

Wer spricht, ist also nicht ein ruhender Pol, um den die Dinge und Ereignisse der Welt kreisen, die er gemächlich betrachten und beschreiben kann. Wer spricht, wird selbst in eine Bewegung hineingerissen. „Wer spricht, wird abgewandelt” sagt Rosenstock; denn sprechen im Ursinn heißt: sich selber binden. Es ist verbindliche Rede. Natürlich gibt es auch unverbindliches Reden, das ist dann Gerede, Kindergeschwätz oder auch akademische Rede, die ja bekanntlich zu nichts verpflichtet. „Baby quasseln nur zum Spiel; Gelehrte aber sprechen nur vorläufig und bis auf weiteres, freibleibend und bis zur nächsten Hypothese. Babysprache und Gelehrtensprache sind daher halbe Sprachen.”7 Volle Sprache aber ist verbindlich. „Wir erkennen: volle Sprache prägt ihren Sprecher, weil sie ihn ergreift. Schulsprache ergreift ihren Sprecher nicht, denn er soll nur begreifen.”

Von daher, von diesem Verständnis der Sprache her, sind wir genötigt, einen völlig neuen Denkweg einzuschlagen. Anstelle des „cogito ergo sum”, das die Grundlage aller akademischen Wissenschaft bildet, sollte, wie Rosenstock vorschlägt, treten „respondeo etsi mutabor” - ich antworte auch wenn ich dadurch verwandelt werde, bzw. auf die Gefahr hin, mich wandel zu müssen. Nur so, als dieser Angerufene und zur eigenen Antwort Aufgerufenen kann der Mensch überleben und den rechten Platz in seiner Zeit und Gesellschaft finden. Der Mensch ist weder Subject noch Objekt, er ist wie Rosenstock sagt, „Trajekt” und „Präjekt”. Dass er „Trajekt” ist, bedeutet er ist von der Vergangenheit in die Gegenwart hineingeworfen; er ist von der Tradition her angerufen her angerufen durch den Sprachstrom, in den er von Kindesbeinen an hineingestellt wurde. Und dass er „Präjekt” ist, bedeutet: er ist von der Gegenwart in die Zukunft vorausgeworfen; er ist aufgerufen, ein neues Wort zu sagen, seine eigene Antwort auf den Anruf der Vergangenheit zu finden und so die Zukunft zu schaffen. Die Zukunft kommt nämlich nicht, wenn sie nicht angerufen bzw. ausgerufen wird. Ohne das gibt es nur Vergangenheit, die sich fortsetzt nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung. - Das neue Denken, das Rosenstock fordert, müsse sich diesem Wandel durch Sprache zuwenden. Es müsse sich selbst als wirksames Teil dieses Wandels verstehen, d.h. es müsse sich von der bloßen Erforschung der Vergangenheit hinwenden lassen zur Erschaffung der Zukunft. Dazu verhilft die Wiederentdeckung des Wesens der Sprache, die Entdeckung, dass Sprache Gestaltenwandel ist und Gestaltenwandel bewirkt.

3. Die Predigt: Sprache oder Lehrvortrag?

Was bedeutet das alles nun für die Predigt? Rosenstock hat sich des öfteren sehr kritisch über gehörte Predigten geäußert (siehe obiges Zitat!). Er hat aber m.W. nie etwas dazu gesagt, wie denn der arme Mann auf der Kanzel es anstellen soll zu „sprechen”, d.h. die Wahrheit zu sagen. Diese Frage müssen wir also selbst zu beantworten versuchen.

Zunächst legt es sich nahe zu sagen: Predigt kann echte Sprache im Rosenstockschen Sinne gar nicht sein. Denn sie entsteht dadurch, dass ein Prediger sich über eine Bibelstelle Gedanken macht, diese Gedanken schriftlich niederlegt und dann am Sonntag Morgen der Gemeinde vorträgt. Das ist das typische akademische Verfahren. Es bezieht sich auf ein vergangenes Sprachgeschehen ist aber selber keines. Es ist ein Nach-Sprechen. Erst wird wirklich gesprochen, d.h. Menschen antworten unmittelbar auf den gehörten Anruf; dann wird darüber nachgedacht; dann wird das Nachgedachte in Worte gefasst. Das ist das Wesen eines Lehrvortrages. - Lehre muss sein; aber sie ist eben nicht - noch nicht - Sprache. Der Lehrende und die Belehrten müssen sich bewusst bleiben, dass durch das, was zwischen ihnen geschieht, die Wahrheit noch nicht in Erscheinung treten kann. Lehre ist im besten Fall Erinnerung daran, dass die Wahrheit zur Sprache gekommen ist, und Vorbereitung darauf, dass sie wieder zur Sprache kommen soll.

Den Unterschied zwischen ursprünglicher Sprache und nachträglicher Denk-Sprache macht Rosenstock an folgendem Beispiel deutlich. Augustin hat einmal im Blick auf das rechte Tun des Christen gerufen: „Ama et fac quod vis!” Das ist vollmächtige Sprache, ein Zuruf, der einen in Gesetzesskrupeln gefangenen Menschen befreien, trösten, ermutigen kann. Nun kommt der Theologe, denkt über diesen Satz nach und legt ihn so aus: „Die Liebe ist an kein Gesetz gebunden”8. - Das ist eine ganz andere Redeweise und es ist sehr wichtig den Unterschied klar zu erkennen. Der Satz des Theologen ist eine gleichsam abgekühlte Sprache. Es ist „Schulstil, der eine Wahrheit außerhalb des Augenblicks darstellt, in dem sie mit vollem Einsatz bezeugt wird.” Die Wahrheit wird dabei in Begriffen festgestellt, die angeblich immer und überall gelten. Nur angeblich ist das so - denn es ist gar nicht gesagt, dass es nicht auch Situationen gibt, in denen die Liebe an Gesetze gebunden ist oder sich selbst an Gesetze bindet. Nur im Allgemeinen ist das nicht der Fall.

Es gibt viele Predigten, die überwiegend oder ganz und gar aus solchen abgekühlten Sätzen bestehen. Sie sind alle richtig theologisch einwandfrei aber sie sind eben nach-gedacht. Sie enthalten keinen unmittelbaren Anruf und bewirken darum meist auch nichts Sie erzeugen kein neues Leben höchstens neue Gedanken. Einen wirklich angefochtenen Menschen vermögen sie nicht zu trösten oder aufzurichten. Sie sind eben nur richtig. Man kann sie kopfnickend oder kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen oder, was bei treuen Kirchenbesuchern häufiger der Fall ist, man versinkt darüber ihn andächtige Langeweile.

Doch nun verweigern sich die Bibeltexte selbst, wenn sie nur recht verstanden werden, solch einer akademischen Bearbeitung. Sie sind ja alle entstanden aus einem unmittelbaren Anruf Gottes, der zu Gehör gebracht oder beantwortet wird. Rechte Auslegung kann daher nur heißen, diesen Anruf aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu ziehen und so zur eigenen Antwort bzw. Entscheidung aufzurufen. Wie kann das geschehen? Luther hat bekanntlich in der Bibel vor allem den Zuruf Gottes gehört, der den sündigen Menschen rechtfertigt. Von da-her hat sich ihm die ganze Bibel neu erschlossen. Und von da her sahen es in der Folge lutherische Prediger als ihre Aufgabe an, diese „Botschaft” in allen Texten auf zu spüren und in der Gemeinde neu zu Gehör zu bringen. Ganz folgerichtig wurde dann die Kanzelrede in der diese „Botschaft” verkündet wird zum zentralen Ereignis des Gottesdienstes. Das ist sicher nichts Verkehrtes. Aber genügt das? Wird man da mit den biblischen Texten wirklich gerecht? Ist die Rechtfertigung des Sünders wirklich die Botschaft der Bibel? Schon Karl Barth dies bestritten. Er sah darin eine lutherische Engführung und Hat in seiner Versöhnungslehre auch die Rechtfertigung des Sünders seine Heiligung Berufung und Sendung als ebenso wichtige Teile des Heilshandelns Christie bezeichnet. Welcher Aspekt diese umfassenden Versöhnung des Menschen mit Gott jeweils besonders aufleuchtet, hängt von der Zeit und den Umständen ab. Und Bluetooth Umstände sind nicht mehr die unsrigen.

Die Kritik an der lutherischen Hinführung wird nun doch deutlicher, wenn man die Bibel von ihrer sprachlichen Gestalt her betrachtet, wie dies Rosenstock-Huessy tut. Für ihn sind die biblischen Zeugnisse das entscheidende menschliche Sprachereignis; Denn es geht Ihnen darum, dass Gott den Menschen ins Gespräch zieht. Und solch ein Gespräch kann nie auf eine einzige Botschaft reduziert werden. In ihm öffnet sich vielmehr eine Person der anderen, ein „Ich”, in diesem Fall das göttliche „Ich”, tritt in Beziehung zu einem „Du”, in diesem Fall dem menschlichen „Du”. In der Predigt bzw. dem Gottesdienst der Gemeinde geht es da dann darum dieses Sprachereignis der Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Welche Aspekt dieser personalen Begegnung dabei jeweils zur Sprache kommen muss, hängt wie bei Barth von der Zeit und den Umständen ab.

Wie kann nun solche Vergegenwärtigung geschehen? „Ein Ereignis wird nur dann gemeistert”, schreibt Rosenstock, „wenn es zugleich hinter unserer und über unsere Zeit hinaus und in ihr drinnen liegt. Dann erleben wir es tief genug, um ihm seinen vollen Sinn abzugewinnen.” Und wie die „Meisterung eines Ereignisses” sprachlich geschieht, macht er an einem Chorlied des spartanischen Dichters Tyrtaios klar. In diesem Lied „singen drei Gruppen: die Ältesten, die Krieger, die Knaben. Ihr Thema ist Krieg. Dieses Thema liegt hinter den Ältesten, aber es steht vor den Knaben und es umbringt die Krieger. Das Thema entlockt daher den Ältesten Einsicht, den Knaben Anfeuerung, den Männern Entschlossenheit. Und so eben wir dem Thema Krieg sein voller Sinn abgewonnen”: es sind dazu drei verschiedene Chöre notwendig, die „einander hervorrufen”. „Dem Krieg können erst alle Aspekte zusammen Genüge tun. Dann ist also in vollmächtiger Rede kein Satz selbstständig gemeint”.9

Es ist wohl unmittelbar einleuchtend, dass diese Sicht von Sprache von großer Bedeutung für die Predigt bzw. den christlichen Gottesdienst ist. Denn da geht es ja darum, dem Ereignis der Gottesoffenbarung in der Welt „seinen vollen Sinn abzugewinnen”, indem es nicht nur als vergangenes, sondern auch als gegenwärtiges und zukünftiges Geschehen zur Sprache kommt. Und es wird auch klar, dass das durch die Predigt allein nicht geschehen kann, sondern nur durch den ganzen Gottesdienst. Die christliche Liturgie ist das Sprachgeschehen, in dem die biblischen Sprachereignisse vergegenwärtigt werden sollen. Da können die verschiedenen Stimmen, die verschiedenen Chöre zu Gehör kommen, da kann so das Offenbarungsgeschehen in seinen verschiedenen zeitlichen Aspekten – hinter uns, unter uns, vor uns, – aufleuchten. Die Predigt ist ein Teil dieses Geschehens, ein wichtiger Teil, aber nicht wichtiger als andere Teile.

Aber es ist denn möglich, unsere normalen Gottesdienste entsprechend diesem Tyrtaischen Chorlied zu gestalten? Ist das nicht eine Utopie? Nun alles das ist in jeder Liturgie wenigstens ansatzweise enthalten. Wir müssen es nur wieder entdecken und der Gemeinde zum Bewusstsein bringen. Den „Ältesten”, die den Krieg hinter sich haben und denen er deshalb „Einsicht” entlockt, entspricht im Gottesdienst das Zeugnis der Väter – etwa in den Liedern, die wir singen oder in einem überlieferten Glaubensbekenntnis. Die Einsicht der Ältesten ist das, was man in der Kirche Tradition nennt. – Den „Kriegern”, denen die Ankündigung des Krieges „Entschlossenheit” entlockt, entspricht im Gottesdienst die gegenwärtige Gemeinde, die zugerüstet werden soll für den Kampf des Glaubens. Dies geschieht durch gegenseitigen Zuspruch des Evangeliums in Predigt, Lied und Gebet, etwa durch die Psalmen. Der sogenannte „parallelismus membrorum” der Psalmen ist, wie Rosenstock deutlich macht, nicht ein poetische Stilmittel. Vielmehr geht es darum, dass dem Beter das, was er spricht, selbst von anderen zugesprochen wird. „Die Brüder, das Volk der Priester, das wahre Israel hält den einzelnen Beter umschlossen. Es erlöst den einzelnen Beter eben dadurch, dass sein Gebet auf ihn zurückkommt, dass er hören darf, was er gesagt hat, und dass er es hören muss”10. Den „Knaben” schließlich, denen der Krieg „Anfeuerung” entlockt, entsprechen im Gottesdienst die Jugendlichen, aber auch alle Gemeindeglieder, insofern sie nicht nur in der Gegenwart ermutigt, sondern auch für zukünftige Kämpfe und Herausforderungen vorbereitet und zugerüstet werden sollen. Dies geschieht durch die biblischen Verheißungen.

Das also steckt in jeder Liturgie und kann, je nach den Möglichkeiten einer Gemeinde, auch durch verschiedene Chöre und Sprecher verdeutlicht werden. In der Predigt wird dann dieser gottesdienstliche Sprachstrom aufgenommen und vertieft. Das kann anhand eines „Predigttextes” geschehen, braucht das aber nicht. Der Prediger kann auch einen zuvor gesungene Liedvers aufgreifen oder ein gesprochenes Gebet oder eine gehörte Schriftlesung. Hier sollte größere Freiheit herrschen. Entscheidend ist, dass die Predigt der Gemeinde hilft, sich im Sprachgeschehen des Gottesdienstes ergreifen zu lassen. Der Prediger wird dadurch von dem Anspruch entlastet, dass für den Gottesdienst entscheidende beitragen zu müssen, indem er das Wort Gottes verkündet. Das Wort Gottes ist längst verkündet, bevor der Prediger den Mund aufmacht. Predigt ist nur ein Teil des ganzen Verkündigungsgeschehens. Der Prediger darf mit seinem Instrument in die große Symphonie des Gottesdienstes einstimmen.

  1. Erschienen 1963/64 im Verlag Lambert Schneider 

  2. Mitteilungsblatt der Rosenstock-Huessy-Gesellschaft 1984 

  3. „Ja und Nein”, Veröffentlichung der Rosenstock-Huessy-Gesellschaft (1968) „Sprache des Menschengeschlechts” I, S. 360 

  4. „Sprache des Menschengeschlechts” I, S. 360 

  5. „Atem des Geistes” (1951), neu hrsg. 1990, S. 76f „Sprache des Menschengeschlechts” Bd.I, S. 357 ebda S. 362. 

  6. „Sprache des Menschengeschlchts” Bd. I, S. 357. 

  7. ebda S. 362 

  8. „Der Atem des Geistes” (1951), neu herg. 1992, S.32. 

  9. „Sprache des Menschengeschlechts” Bd. I S. 367f 

  10. „Atem des Geistes” S.69.