Rudolf Hermeier: Peter Sloterdijk und Eugen Rosenstock-Huessy
Stimmstein 12, 2007
Rudolf Hermeier: Peter Sloterdijk und Eugen Rosenstock-Huessy
Raumzeitliches und zeiträumliches Denken
Andreas Möckel hat im letzten Stimmstein 2006 (S. 136 f.) auf Peter Sloterdijks Wertschätzung für Eugen Rosenstock-Huessy aufmerksam gemacht, die dieser anlässlich der Verleihung des Sigmund Freud-Preises an ihn in erstaunliche Worte gekleidet hat. Seine Worte verdienen Beachtung, weil seit längeren Jahren nicht nur der Name Eugen Rosenstock-Huessy kaum noch von einem bekannteren Intellektuellen ausgesprochen, geschweige denn auf die Bedeutung seiner Sprachsoziologie mit ihrem methodischen Gerüst einer „leibhaftigen Grammatik“ (grundlegend darin die Anrede: „Du!“, der Imperativ) hingewiesen wurde. Allein damit bezeugt Sloterdijk, dass er ein Ohr für Rosenstocks Lehre hat. Wenn er dann letztlich vor der Beherzigung dieser Einsicht praktisch wegen der Pluralität und Widersprüchlichkeit der heute in der Öffentlichkeit vertretenen Imperative zurückgeschreckt ist, weist das sicherlich auf sein Defizit bezüglich des Gespürs für das wechselnde Eine, das in den jeweiligen Stunden unseres Lebens Not tut, hin. In dem Dickicht der Informationen unserer Tage tun sich letztlich alle Nachdenkenden schwer, ein befriedigende Maß für die Notwendigkeiten wechselnder Zeiten zu finden – auch „zeitgenährt“ Denkende (Rosenzweig) sind nicht vor Irrtümern gefeit.
Im folgenden möchte ich in vier Schritten vorgehen: 1. Versuchen, Sloterdijks geistige Position anhand einiger Texte von ihm zu skizzieren. 2. Seine philosophische Grundhaltung mit der sprachsoziologischen von Rosenstock zu vergleichen. 3. Auf die Kritik Sloterdijks an Rosenstocks Geschichtsverständnis, wie er sie insbesondere an dessen Deutung der russischen Revolution festmacht, eingehen, zumal auch ich diese Deutung für fragwürdig ansehe. 4. Abschließend möchte ich auf Erfahrungen mit russisch-sowjetischer Politik hinweisen und an Rosenstocks Dogma von der letztlichen Unerkennbarkeit jedes Menschen erinnern, das m. E. auch etwas mit der Deutung epochaler Ereignisse zu tun hat.
1. Zur geistigen Position Peter Sloterdijks
Da ich kein Kenner von Sloterdijks Gesamtwerk bin, meine Lektüre nur auf einzelne Werke beschränkt ist, ist die folgende Skizzierung seiner Lehre sicherlich lückenhaft. In drei Schritten möchte ich versuchen, auf einige ihrer Grundzüge hinzuweisen, wobei ich mich jeweils auf bestimmte Veröffentlichungen von ihm beziehe: 1) Kritik der zynischen Vernunft (1983), 2) Weltrevolution der Seele (1991), 3) Sphären – I Blasen (1998), II Globen (1999) und III Schäume (2003).
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Mit seiner zweibändigen „Kritik der zynischen Vernunft“ erwarb sich Sloterdijk 1983 schnell einen „Namen“. In diesem Buch fällt der Name Rosenstock nicht, obwohl ich mich erinnere, dass mir nicht lange nach dessen Erscheinen Dietmar Kamper einen kurzen Sloterdijk-Text zugesandt hat, in dem schon der Name stand, der ja dann auch immer wieder in seinen späteren Texten auftaucht. Hier nun ein Zitat zum Zynismus moderner Ausprägung und ein weiteres zur Gestalt des „Großinquisitors“. „Zynismus ist das aufgeklärte falsche Bewusstsein. Es ist das modernisierte unglückliche Bewusstsein, an dem Aufklärung zugleich erfolgreich und vergeblich gearbeitet hat. Es hat seine Aufklärungs-Lektion gelernt, aber nicht vollzogen und wohl nicht vollziehen können. Gutsituiert und miserabel zugleich fühlt sich dieses Bewusstsein von keiner Ideologiekritik mehr betroffen; seine Falschheit ist bereits reflexiv gefedert.“ (37 f.) In diesen Worten klingt schon ein Unterton an, den man bei kritischen Denkern sonst nicht findet.
Den Großinquisitor, wie er von Dostojewskij beschrieben worden ist, hält Sloterdijk für eine epochentypische Figur des 19. Jahrhunderts, die dann von Stalin und anderen totalitären Diktatoren im 20. Jahrhundert verkörpert worden sei. „Sein Denken wird von zwei gegensätzlichen Motiven beherrscht, die einander widerstreiten und zugleich bedingen. Als Realist (Positivist) hat er den Dualismus von Gut und Böse hinter sich gelassen; als Mann der Utopie hält er an ihm um so verbissener fest. Mit einer Hälfte ist er Amoralist, mit der anderen Hypermoralist; einerseits Zyniker, andererseits Träumer; hier von allen Skrupeln befreit, dort an die Idee eines letzten Guten gebunden. In der Praxis schreckt er vor keiner Grausamkeit, keiner Infamie, keiner Täuschung zurück; in der Theorie beherrschen ihn die höchsten Ideale. Die Wirklichkeit hat ihn zum Zyniker, Pragmatiker und Strategen erzogen; doch auf dem Grund seiner Absichten fühlt er sich als das Gute selbst.“ (359) -
Der 1. Band des Sammelwerkes „Weltrevolution der Seele – Ein Lese- und Arbeitsbuch der Gnosis von der Spätantike bis zur Gegenwart“, das Sloterdijk mit Thomas Macho herausgegeben hat, wurde von ihm mit dem Kapitel „Die wahre Irrlehre. Über die Weltreligion der Weltlosigkeit“ eingeleitet. Darin trägt ein Abschnitt die Überschrift: „Eine kurze Geschichte der eigentlichen Zeit“. Doch zunächst ein Hinweis zu seinem Gnosis-Verständnis: Sloterdijk knüpft dabei sowohl an den Apostel Johannes wie an Ernst Bloch an: „Der Geist der Utopie erwacht mit der gnostischen Unterscheidung der Orte. Mit Hilfe des zuvor undenkbaren Unterschieds von In-der-Welt und Von-der-Welt kann der menschliche Geist zum ersten Mal sein eigenes Existieren denken; überspitzt gesagt »gibt es« erst seit dem Aufbrechen der Gnosis das, was wir modern mit Existenz bezeichnen. Das Pneuma, die gnostische Geistseele, die von »oben« kommt, ist das Organ dieses logisch neuartigen Wissens vom Existieren: es ist das Pneuma, welches sich »in der Welt« wie etwas von außen Hineingeratenes sehen kann – etwas Differentes, Nichtzugehöriges, Rückzugfähiges. Gnosis ist Entzündung des menschlichen Selbstbewusstseins durch den Grundgedanken des Existierens »in der Welt«.“ (28 f.) Es ist also ein Absetzen von der Welt durch Beschreiten eines geistigen Weges, der drei Stationen kennt, die man vielleicht so benennen kann: Hinwendung zu einem geistigen Reich, Erkenntnis der wirklichen Welt als Irrtum, Pflege der geistigen Erkenntnis aus individueller Perspektive.
„Es ist leicht zu erkennen, dass die Entdeckung der eigentlichen Zeit durch das gnostische Weltdurchquerungs-Bewußtsein ein Denkmuster vorbereitet, das wir von den sogenannten Geschichtsphilosophien her kennen. Eigentliche Zeit als die wahrheitserzeugende Ereignis-Ordnung von Hinweg-Kehre-Rückweg ist zunächst und zuletzt ausschließlich eine Sache des Einzelnen. Die Gnosis empfindet im Kern scharf individual-eschatologisch. Nur für die Seelen gibt es eine Gesamtbewegung von Erstem durch Mittleres zum Letzten – und Seelen »existieren« per se als lebende Singulare. Wenn die große Hinweg-Rückweg-Schleife die Wegstruktur des Einzelnen »in der Welt« beschreibt, so folgt daraus, dass Dasein in eigentlicher Zeit, das heißt Existieren im Strahl der wesentlichen Geschichtlichkeit der Selbsterkenntnis, nur den zu sich selbst entschlossenen, zur Entweltlichung bekehrten Einzelnen zukommt. Alle »eigentliche« Zeitlichkeit ist somit Heilsgeschichtlichkeit – Selbsterfassungsgeschichtlichkeit der »Seele«. […] Doch nur durch illegitime Projektion lässt sich die eigentliche, die heilsgeschichtliche Zeit auf welthafte Kollektivgrößen übertragen – und die Ergebnisse solcher Projektionen sind in der Regel fatal.“ (42 f.) Mit diesen Worten wird der Zeit ein individualistisches Korsett verpasst, in das eine Heilsgeschichte jüdisch-christlicher Provenienz mit ihrer universalen und zudem volkhaften Ausrichtung nicht passt. -
Sloterdijk hat eine dreibändige Sphärologie vorgelegt, die wohl als sein Hauptwerk anzusehen ist. Es geht in dieser, wie aus dem Klappentext (III) zu entnehmen ist, um den Versuch einer „neuen Erzählung der Geschichte der Menschheit“. Nun liegt mir nur der dritte Band „Schäume“ vor, doch der Autor selbst gibt in diesem einleitend Hinweise auf die ersten beiden Bände, zudem hat er sich auch in seinem Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs („Die Sonne und der Tod – Dialogische Untersuchungen“ Frankfurt/M. 2001) mehrfach zu seiner Sphären-Konzeption geäußert. Im Hinblick auf diese Verfasser-Äußerungen kann zu dem ganzen Werk hier wohl etwas Zutreffendes angeführt werden.
Vorab zum Haupttitel „Sphären“: Sphären ist ein allgemeiner Raumbegriff, der von Sloterdijk in weitere Raumbegriffe untergliedert wird: Blasen, Globen, Schäume. An dieser Titelformulierung ist also schon ablesbar, dass der Verfasser Raumdenken und nicht Zeitdenken primär pflegt. Räumliches, objektives Denken entspricht der abendländischen philosophischen Tradition, wie sie von Parmenides herleitbar ist, und liegt auch nahe für einen Denkenden, der eine besondere Wertschätzung für Gnostiker aufbringt, denn diese zeigen wenig Sinn für größere Zeiträume (Äonen), was ihrer individualistischen Sichtweise entspricht. Nun kurz zu den einzelnen Bänden:- I Blasen: Durch das nahe Zusammensein von Menschen mit Menschen entstehen besondere zwischenmenschliche Beziehungen, die für das menschliche Leben generell sehr viel entscheidender sind als individuelle Existenzweisen. Sloterdijk stellt deshalb heraus, dass das Paar gegenüber dem Individuum die wirklichere Größe ist. Denn durch dyadische Beziehungen entstehe ein Interieur, das bisher zu wenig beachtet worden sei. Von diesem Innen spricht er als „Mikrosphäre“, die ein „sehr empfindliches und lernfähiges seelenräumliches (wenn man will) Immunsystem“ ausbildet. Das bedeutet auch, „dass die Wir-Immunität gegenüber der Ich-Immunität das tiefere Phänomen verkörpert. In einer Zeit, die auf die Elementarteilchen und die Individuen schwört, versteht sich eine solche These nicht von selbst. Wir charakterisieren die menschliche Nähewelt als surreale Räume, um auszudrücken, dass selbst unräumliche Verhältnisse wie Sympathie und Verstehen sich in quasi räumliche Verhältnisse übersetzen, um vorstellbar und lebbar zu werden.“ (III, 13 f.) „Der Humanraum ist […] von Anfang an, buchstäblich ab utero, zunächst bipolar, auf entwickelteren Stufen pluripolar geformt; er besitzt die Struktur und Dynamik eines – um altmodisch zu reden – beseelenden Ineinandergreifens von Lebewesen, die auf Nähe und Teilhabe aneinander angelegt sind; nicht selten löst diese dichte Verschränkung die perverse Nähe der Primäraggression aus – denn was sich wechselseitig beherbergt, kann sich auch reziprok internieren und auslöschen. Zugleich liegen in diesem Verhältnis alle Möglichkeiten, die von der Tradition mit klingenden Begriffen wie Freundschaft, Liebe, Verstehen, Konsensus, concordia und communitas bezeichnet wurden. Selbst der heruntergekommene Ausdruck Solidarität, an den die elanlose Linke unserer Tage ihre Seele gehängt hat (und der aktuell so etwas wie Tele-Sentimentalität bedeutet), kann nur noch, wenn je, von dieser Quelle her regeneriert werden.“ (III, 14)
- II Globen: Im zweiten Band „werden aus der Einsicht in die ekstatisch-surreale Natur des erlebten und bewohnten Raums Konsequenzen gezogen. Dies geschieht in Form einer großen Erzählung über die Expansion des Seelischen im Zuge von imperialen und kognitiven Weltbesetzungen. Man könnte das Unternehmen jetzt einen philosophischen Roman nennen, der die Arrondierung des Äußeren in überschaubaren Etappen nachvollzieht. Hier bewährt sich die Übertreibung nicht nur als Stilmittel, sondern als ein Verfahren, Zusammenhänge zu verdeutlichen.“ Angeknüpft wird bei den Dyaden (Blasen I), wo die ‚Hütte’ Prototyp ist, und der Expansionsverlauf geht dann weiter von Dorf, Stadt, Imperium bis zum finiten Universum. „Das Postulat, im Größten sei die letzte Sicherheit zu finden, und nur in ihm, stiftete die Affaire der Seele mit der Geometrie. Nichts anderes war das Ereignis, das Metaphysik hieß: dass die lokale Existenz sich in die absolute Kugel integriert – und der beseelte Punkt zur Allsphäre anschwillt. In ihr meinte die Psyche, Teilhabe am Unzerstörbaren zu finden. Die rücksichtsloseste Vereinfachung bahnt den Weg zum Heil. […] Wo immer das philosophische Denken nach Plato auf der Höhe war, wurden die zwei Inbegriffe von Totalität, Welt und Gott, als all-einschließende sphärische Volumen vorgestellt, in die zahllose nachgeordnete Weltschalen, Wertsphären und Energiekreise konzentrisch eingebettet sind – bis hinab zum Seelenpunkt, der als die Lichtquelle des Ich-Atoms erlebt wird. Die Existenz ist durch die Immersion in einem letzten Element bezeichnet – sie ist entweder »in Gott« oder »in der Welt«, möglicherweise in beiden zugleich. Sage mir, worin du eingetaucht bist, und ich sage dir, was du bist.“ (III, 16 f.)
Nachzutragen ist noch zu »Globen«, dass Sloterdijk bewusst den Plural gewählt hat, weil lange Zeit in der Überlieferung Erd- und Himmelsglobus unterschieden worden sind (die eine Kugel trug auf ihrer Oberfläche das Abbild der scheinbaren Himmelskugel, die andere das Abbild der Erdoberfläche) – und dieser Unterscheidung auch heute noch große Relevanz zukommt, trotz Exzentrizität der Moderne. „Unter Moderne verstehen wir […] die Epoche, in der sich aus der Alten Welt der Ausbruch aus der metaphysischen Monozentrik vollzog. In ihr wurde der magisch einfache Kreis gesprengt, der vormals allen Lebewesen die Immunität in ihrem Einen Gott – sprich in der glatten Ganzheit – zusagte. Wer eine solche Geschichte erzählt, hat nolens volens die europäische Expansion nach 1492 in Umrissen zu vergegenwärtigen. Diese exzentrische Bewegung, zur Zeit einäugig als »die Globalisierung« bezeichnet (als gäbe es nur deren eine und nicht drei) wird im 8. Kapitel von Sphären II unter dem Titel Die letzte Kugel - Für eine philosophische Geschichte der terrestischen Globalisierung im Stil einer makrohistorischen Betrachtung nachvollzogen. Terrestisch nennen wir die Globalisierung, die auf die metaphysische folgt und der telekommunikativen vorhergeht.“ (III, 20) - III Schäume: Der letzte Band bietet „eine Theorie des gegenwärtigen Zeitalters unter dem Gesichtspunkt, daß das »Leben« sich multifokal, multiperspektivisch und heterarchisch entfaltet. Ihr Ausgangspunkt liegt in einer nicht-metaphysischen und nicht-holitistischen Definition des Lebens: Seine Immunisierung kann nicht mehr mit Mitteln der ontologischen Simplifikation, der Zusammenfassung in der glatten Allkugel, gedacht werden. Wenn »Leben« grenzenlos vielfältig räumebildend wirkt, so nicht nur, weil jede Monade ihre je eigene Umwelt hat, sondern mehr noch, weil alle mit anderen Leben verschränkt und aus zahllosen Einheiten zusammengesetzt sind. Leben artikuliert sich auf ineinander verschachtelten simultanen Bühnen, es produziert und verzehrt sich in vernetzten Werkstätten. Doch was für uns das Entscheidende ist: Es bringt den Raum, in dem es ist und der in ihm ist, jeweils erst hervor. Wie Bruno Latour von einem »Parlament der Dinge« gesprochen hat, wollen wir uns, unter Zuhilfenahme der Schaummetapher, mit einer Republik der Räume befassen. […] die Sache des Lebens (war) weder bei den Vertretern der traditionellen Religionen noch bei den Metaphysikern wirklich in guten Händen. Beide waren dubiose Ratgeber des unschlüssigen Lebens, da sie ihm letztlich nie etwas anderes zu verordnen wussten als das Placebo der Hingabe an eine himmlische Vereinfachung. Trifft dies zu, so ist die Relation von Wissen und Leben noch viel umfassender neu zu denken, als es den Reformisten des 20. Jahrhunderts in den Sinn kam.“ (III, 24 f.) Aus der Sicht Sloterdijks hat eine Biosophie erst begonnen, steckt eine Allgemeine Theorie der Immun- und Kommunsysteme erst in den Anfängen, müsste die Soziologie durch eine Theorie der Netzwerke ersetzt werden.
„Das heitere Denkbild Schaum dient uns dazu, den vormetaphysischen Pluralismus der Welterfindungen nachmetaphysisch wiederzugewinnen. Er hilft, ins Element eines vielfältigen Denkens zu geraten, ohne sich beirren zu lassen von dem nihilistischen Pathos, das während des 19. und 20. Jahrhunderts der unwillkürliche Begleiter der von der monologischen Metaphysik enttäuschten Reflexion war. Es erläutert noch einmal, was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat: Der Satz »Gott ist tot« wird als die gute Nachricht der Gegenwart bestätigt. Man könnte ihn umformulieren: Die Eine Kugel ist implodiert, nun gut – die Schäume leben. Sind die Mechanismen der Vereinnahmung durch simplifizierende Globen und imperiale Totalisierungen durchschaut, liefert das gerade nicht den Grund, warum wir alles hinwerfen sollten, was als groß, beflügelnd und wertvoll galt. Den schädlichen Gott des Konsensus tot sagen heißt bekennen, mit welchen Energien die Arbeit wieder aufgenommen wird – es können keine anderen sein als jene, die in der metaphysischen Hyperbel gebunden waren. Hat eine große Übertreibung ausgedient, erheben sich Schwärme von diskreteren Aufschwüngen.“ (III, 26)
2. Sloterdijks sphärologische Lehre und Rosenstocks sozialgrammatische
Wie skizziert, kann Solterdijks Denkansatz als ein raumzeitlicher angesehen werden, während die Rosenstocksche Denkweise betont eine zeiträumliche ist, die als Hauptmethode eine Vierstationenfolge kennt: das Kreuz der Wirklichkeit. Bezogen auf diese Methodik könnte man einen größtmöglichen Abstand zwischen beiden Denkern konstatieren, nämlich zwischen Anfang und Ende der Folge, in Rosenstocks Begriffen: zwischen Präjekt und Objekt. Doch wie angeführt, kennt der Jüngere durchaus zeitlich geformte Objekte. Blasen, Globen, Schäume sind keine unwandelbare Gegenstände, sondern durchaus auch zeitgeprägte. Die eigentliche Differenz zwischen beiden Denkern dürfte besonders in lebensdynamischer Perspektive zum Ausdruck kommen, in der unterschiedlichen Haltung zur Zukunft. Durch die Betonung der Präjekt-Position, die durch Imperative konstituiert wird, will Rosenstock die Aufmerksamkeit seiner Hörer/Leser, ihren Spürsinn insbesondere auf künftig zu beschreitende Wege, auf zu wendende Nöte hinweisen, wobei er prophetischen Stimmen und epochalen Ereignissen entscheidende Bedeutung beimisst. Sloterdijks Interesse konzentriert sich dagegen auf eine Bestandsaufnahme der bisher beschrittenen Wege, doch, wie angedeutet, ist er auch offen für utopisches Denken, das ja einen konstruktiven Zukunftsbezug mit hohem Irrealitätsrisiko hat, jedoch als denkerisches Konstruktionsmoment auch viel Reiz besitzt, und Ernst Bloch statt Rosenstock für ihn interessant macht.
Bezüglich des gemeinsamen Anliegens von Sloterdijk und Rosenstock, nämlich eine „Biosophie“, eine Erbweisheitslehre zu entwerfen, führt das bei Rosenstock zu einem geradezu paradoxen Imperativ: Er fordert von den Lehrenden und Adepten der Sozialwissenschaft die Überholung der Moderne durch Rückzug in eine langfristige Agrarrhythmik („Dreifelderwirtschaft“), dadurch soll bewusst die bisherige intellektuelle Spitzenposition in weiterer Lebensbeschleunigung aufgegeben und sozusagen künftig eine hinterwäldlerische eingenommen werden. Allerdings versteht er diesen ‚Hinterwald’, wenn man diesen Ausdruck mal akzeptiert, durchaus nicht als Kampfgebiet gegen Technik und Aufklärung, eher als »Schonung«, als viele Begegnungsstätten für extreme Zeit-Ungenossen mit der Chance, zu einer gemeinsamen Zeitgenossenschaft zu finden. Dagegen hat ohne Zweifel Sloterdijks Sphärologie ein entspannteres Verhältnis zur Aufklärung. Nach ihm ist deren Bilanz sehr viel erfolgreicher als Rosenstock das zugeben möchte. Denn letzterer schrieb 1956: „Man kann alles beweisen, wenn man erst einmal für Hitler oder für Christus oder für Stalin oder für Gott oder für die Ideale optiert hat. Die Geschichte der letzten vierzig Jahre hat m. E. dazu stattgefunden, um die Aufklärung ein- und allemal über sich selber aufzuklären: Sie hat in der Logik gesucht, was nur in der gegenseitigen Anerkennung benannter Wesen zu finden ist.“1 Ich kann mir vorstellen, dass diese Aussage sogar für Sloterdijk nicht ganz inakzeptabel ist. Und vielleicht ist es für diesen 68er auch möglich einzusehen, dass seine Blasen-, Globen- und Schäume-Konstruktionen ungeeignete Mittel sind, künftige Gefahrenherde der Menschheit zu vermeiden. Er gesteht in seinem Gespräch mit Heinrichs die Wertschätzung seiner Lehrer Adorno und Bloch ein.2 Mit „Zukunft“ als Traum nach vorwärts hatte es ja besonders der Utopist Bloch zu tun – und von dessen und seiner Bewunderer Träume kann man heute wohl sagen: sie sind großenteils ausgeträumt. Oder noch nicht? Für Sloterdijk auf jeden Fall noch nicht, denn für ihn ist neben Adorno Bloch ein wichtiger Denker geblieben, auch wenn beide in seinem Werk nur noch verdeckt vorkommen. Doch Sloterdijks Orientierungshorizont begrenzen sie nicht, denn der schließt auch indische Gefilde ein, so hat er Anfang der 80er Jahre auf einer Indienreise den Bhagwan Shree Rajneesh aufgesucht, sich also nachhaltig auf eine fremde Kultur eingelassen.
Rosenstocks Zukunftsorientierung gründet auf der Einsicht, dass es gilt, neben Gott noch Götter anzuerkennen: „Gott ruft, die Götter zwingen“. Und dass neben Abraham noch drei weitere Stifter von uns zu beachten sind: Buddha, Laotse und Jesus. Zudem ist Rosenstock der Auffassung, dass in unserer heutigen Industriewirtschaft wir bestimmte Elemente antiken Stammes- und Reichsleben wieder beleben müssten, um „vollzählig“ zu leben und somit einen Weg beschreiten zu können, der zur Einheit des Menschengeschlechts führt bei Bewährung der Mündigkeit jedes Erwachsenen.
Wer in Sloterdijks neueren Werken gar nicht verdeckt vorkommt, ist Martin Heidegger. Er dürfte in den drei Bänden seines Sphären-Werkes der am meisten genannte Denker sein. Bekannt wurde Heidegger durch seinen Versuch, die Zeit in die Ontologie einzuführen. Dadurch zählt er zu der Gruppe der „unreinen Denker“, zu der sich auch Rosenstock selbst bekannt hat. Doch diese Gruppe ist keineswegs homogen, denn durch sie zieht sich ein Spalt, den man altmodisch als einen zwischen Glauben und Unglauben bezeichnen kann – die einen kennen einen Schöpfergott an und damit die Trinität von Gott – Mensch – Welt (neben Rosenstock, Franz Rosenzweig, Martin Buber, Hans und Rudolf Ehrenberg, Ferdinand Ebner u.a.m.) und die anderen halten sich für Atheisten oder Agnostiker. Bei letzteren treffen sich Heidegger und Sloterdijk, denn die „Schäume“ des letzteren und das frohgemute Annehmen von Nietzsches Botschaft „Gott ist tot“ liegen auf einer Reflexionslinie, die ins Selbstkonstruierte führt – und damit für „freie Geister“ in die „Freiheit“. Führt dieser Pfad aber in die offene Zukunft? Der Weg von Juden und Christen führt nicht ins Selbstkonstruierte, sondern letztlich zum Frieden Gottes bei Anerkennung der Hierarchie der drei großen Wirklichkeiten (Rosenzweig: „Urgebirge“ - Gott, Mensch, Welt). Dazu lässt sich nun sehr viel sagen, was in den Werken dieser Gruppe der „unreinen Denker“ auch zu finden ist. Das kann aber keine „fröhliche Wissenschaft“ nach dem „Tode Gottes“ sein, sondern ernste und fröhliche Wissenschaft nach dem Tode vieler „Großinquisitoren“, die sich selbst als Gott wähnten und die ihnen Widersprechenden zum Verstummen brachten.
Sloterdijk hat Zukunftsfragen nicht übergangen. Er hat sich bewußt von der vielfach von kritischen Intellektuellen vertretenen Dekonstruktion-Haltung abgewandt und eine der Konstruktion eingenommen. In „Zorn und Zeit“ sagt er: „Wie gefahrenträchtig die multi-egoistische Lage ist, werden die kommenden Jahrzehnte zeigen. Gehörte es zu den Lektionen des 20. Jahrhunderts, dass Universalismus von oben scheitert, könnte es zum Stigma des 21. Jahrhunderts werden, die rechtzeitige Ausbildung des Sinns für gemeinsame Situationen von unten nicht rechtzeitig zu schaffen.“ 3 Auf der Linie, die Ausbildung eines Sinnes für ein gemeinsames Leben zu bewirken, liegen Rosenstocks Forderungen nach „Dienst“ und „Andragogik“ (wirksame Gespräche zwischen Erwachsenen, die nicht primär auf Wissensvermittlung, sondern auf Zeitgenossenschaft ausgerichtet sind). Die große Gefährdung der Zukunft erblickt er in den Spaltungen der Menschheit, die durch einen rein technologisch-kommerzial geprägten Umgang noch vertieft werden. Er hat deshalb zu einem „Dienst auf dem Planeten“ aufgerufen, um Gleichzeitigkeit zwischen äußerst ungleichzeitig Lebenden bewirken zu können. Das kann durch namentliches Sprechen von Angesicht zu Angesicht in Verbindung mit gemeinsamem Handeln geschehen. Auch für eine neue Führungsschicht an den Hochschulen hat er plädiert, die die Lehre der Synchronisation von Distemporariern vertreten solle, und hat für diese Gruppe die Benennung „Argonauten“ vorgeschlagen. Der Planetendienst ist für ihn keine Sache des Staates, sondern eine Station auf dem Wege zur personalen Mündigkeit in einem strukturierten Zeitgefilde, das auch die ‚Währung’ freiwillige Opferbereitschaft an persönlicher Lebenszeit kennt.
Sloterdijk ist der festen Überzeugung, dass die Geschichte das Christentum widerlegt habe. Unser menschliches Leben verbindet er mit dem Zwang zur Erzeugung eines neurologischen „Treibhauseffektes“4, was weit weg vom „Atem des Geistes“ liegt. Wie zitiert, sieht er durchaus eine große Gefahr in unserem Jahrhundert heraufkommen, deutet aber nicht an, wie man dieser begegnen kann. Das Wort „Opfer“ ist offenbar bei ihm immun, wohl nicht zuletzt im Hinblick auf den zum Himmel schreienden Missbrauchs durch charismatische Großinquisitoren. Jedoch zeigt Sloterdijk auch wenig Sinn für das beispielhafte Handeln einzelner Personen – etwa der Widerstandskämpfer unter Hitler –, denn das marginalisiert er als unbedeutend. Damit teilt er keineswegs Rosenstocks ausgesprochene Abneigung gegenüber Statistik im geistigen Bereich und betonte Hochschätzung von unter Lebensgefahr gesprochenen Worten. Es zählt also für ihn nicht der erste einsame Wegbereiter, sondern erst eine sehenswerte Gruppe. Die Überzeugung Rosenstocks, dass es ohne verehrte Märtyrer keine Geschichte geben könne, muss er deshalb als falsch ansehen.
3. Zur Fragwürdigkeit heilsgeschichtlicher Deutung – das Beispiel Bolschewismus
In „Zorn und Zeit“ weist Sloterdijk insbes. auf den exterministischen Charakter der bolschewistischen Herrschaft hin, für den schon Lenins Handeln als Beispiel gebend angesehen werden kann. Diese Auffassung hat bekanntlich in den siebziger Jahren Alexander Solschenizyn in seinem „Archipel Gulag“ populär gemacht. Aus dieser Sicht und dem zwischenzeitlichen Ereignis der Implosion der Sowjetunion 1991 müssen m. E. verschiedene Aussagen Rosenstocks über die historische Bedeutung der bolschewistischen Herrschaft als Irrtum angesehen werden. Auch Sloterdijk ist über eine derartige Aussage Rosenstocks gestolpert. Ich zitiere den betreffenden Absatz vollständig:
„Daß der Heilige Geist bei seinem freien Wehen gelegentlich hohe Windstärken erreicht, ist ein religionsgeschichtlich gut belegtes Phänomen. Wie er Orkane auf Bestellung liefert: die Demonstration war dem parakletischen Frontmann Eugen Rosenstock-Huessy vorbehalten, als er die Geschichte Europas kurzerhand als das Epos des durch Revolutionen schöpferischen Heiligen Geistes erzählte. Im Jahr 1951 hielt dieser phosphoreszierende Laientheologe es für passend, über die Sowjetunion zu dozieren: »Von Russland werden wir umgeschaffen und revolutioniert, weil dort die Schöpfungsgeschichte weitergeht … in Moskau sitzen die neuen dogmatischen Päpste unseres Lebensheils.« Solche Aussagen sind nur dadurch plausibel zu machen, daß illuminierte Interpreten noch unter schwierigsten Verhältnissen auf ihrem Vorrecht bestehen, die Weltgeschichte bis ins Detail als Heilsgeschichte auszulegen. Profane Beobachter solcher Siege über die Wahrscheinlichkeit gelangen zu dem Schluß, Theologie und Akrobatik müssten eine gemeinsame Wurzel haben.“5
Das von Sloterdijk gebrachte Zitat stand schon in der Erstauflage des Revolutionsbuches von 1931. Doch das ist in diesem Fall weniger von Belang, da davon auszugehen ist, dass Rosenstocks Wertschätzung des Bolschewismus Anfang der 50er Jahre eher noch gewachsen war. Diese Vermutung gewinnt man durch die Lektüre eines Kapitels aus dem Manuskript der um 1950 geschriebenen Soziologie, und zwar für den geplanten 2. Band das 10. Kapitel „Abfall oder Fortschritt?“. Wäre dies Buch 1951 veröffentlicht worden, hätten Rosenstock-Kritiker noch überzeugender auf Irrtümer Rosenstocks hinweisen können.6 Ich zitiere daraus einen Absatz, der m. E. aus empirischer Sicht völlig inakzeptabel ist:
„Die Bolschewiki wollten nicht das tun, was sie liebenswert gemacht hätte. Sie fühlten sich verantwortlich für den Fortgang vom Guten zum Besseren. Die Sozialrevolutionäre erklärten die Zustände für schlecht und wollten sie durch ausgedachte Träume ersetzen, aber die Bolschewiki griffen nur an, weil das Bestehende nicht gut genug war. Also waren sie verpflichtet, seine Leistungen anzuerkennen. Die Sozialrevolutionäre waren so stark, daß sie die Bolschewiki in die Zwangslage versetzten, das Land zunächst zu verteilen. Erst viel später konnten die Bolschewiki diesen romantischen Schritt rückgängig machen, und sie haben dann durch die Ausrottung der Kulaken, der wohlhabenden Einzelbauern, den Schnitt zwischen die vorkapitalistische Ausbeutung des Bodens und die neue industrielle Behandlung der Natur scharf genug gelegt.“
Offensichtlich war Anfang der 50er Jahre Rosenstock der Auffassung, dass die Industrialisierung der Landwirtschaft die „Ausrottung“ der „Kulaken“ letztlich rechtfertigen könne – und das entsprach ja auch der sowjetischen Propaganda bei der Aktion 1929 ff. Doch die Wirklichkeit sah anders aus, und dies andere Bild war Rosenstock nicht fremd geblieben, denn er verrannte sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich in die polemische Haltung, trotz des Risikos des persönlichen Blamierens von der Schattenseite absehen zu können.
Zuzugestehen ist hier sicherlich, dass der heutige Informationsstand über diese Stalinsche Massenmordaktionen so eindeutig ist, dass man davon ausgehen kann, selbst ein hoch erregter Rosenstock würde heute jegliches Risiko des Blamierens vermeiden, zumal er selbst früher und vor allem später andere Wertungen vertreten hat.7
Kurz hingewiesen sei hier auf folgende Sachverhalte der bolschewistischen Kollektivierung der Landwirtschaft: Sie war in ihrer besonders blutigen Form eine regional begrenzte Aktion, die sich allerdings auf die landwirtschaftlich bedeutsame Ukraine und einige weitere südliche Gebiete konzentrierte. Sie traf durchaus nicht nur die „reichen Bauern“ = Kulaken, sondern praktisch alle Bauern, so auch jene in den Kolchosen. Horden von Jungen Pionieren unter Führung von bewaffneten Halbstarken raubten die Bauern völlig aus einschließlich ihres Saatgetreides mit der Lüge, dass die Partei sie künftig versorgen werde, und bewirkten so den Hungertod von Millionen, der auch auf Teile großer Gruppen von zwangsweise umgesiedelten Bauern in Gebieten des ferneren Ostens wartete. Für die angestrebte Industrialisierung der Landwirtschaft hatte die »allwissende« Parteizentrale natürlich nicht vorgesorgt – landwirtschaftliche Maschinen fehlten zunächst bei der Großaktion, so dass weite Gebiete fruchtbaren Landes unbestellt blieben. Erst nach der „Ernte des Todes“ tauchten dann auch Maschinen auf. Dabei hatten die Bolschewiki schon in der ersten Phase ihrer Herrschaft eine Lektion Wirtschaftspolitik lernen müssen, indem sie kein allgemeines Tauschmittel – sprich: Währung – einführten, sondern einfach die Bauern ausraubten. Das führte zum Chaos, zu großen Widerständen der Bauern, und war dann Anlaß für Lenin, Märkte zuzulassen (NEP – Neue Ökonomische Politik, 1921).
Ich muß gestehen, Rosenstocks Wertung und Begründung ist mir einfach unbegreiflich. Lenins Taktik, in der revolutionären Anfangssituation 1917/18 die Parole der Sozialrevolutionäre hinsichtlich der Landaufteilung an die Bauern zu übernehmen, kann m.E. nicht durch sozialrevolutionären Zwang begründet werden. Es war doch primär der Griff nach der Staatsmacht in einem Riesengebiet mit 80% Landbevölkerung, der von der ganzen Situation her geboten war, und den nicht wenige Intellektuelle als genialen politischen Schachzug Lenins angesehen haben. Und tatsächlich wurde er ja zum ersten Schritt in Richtung „Überstaat“, wie Rosenstock das bolschewistische Herrschaftssystem später bezeichnete. Ein Jahrzehnt nach der Machtergreifung und Konsolidierung eines totalitären Systems kann doch nicht eine Massenmordaktion von der Staatspartei ergriffen werden gegen seine größte Volksgruppe, die noch irgendwie als Verlängerung der Revolution gewertet werden kann. Und das erst recht nicht, wenn es „besser gemacht“ werden soll. Die Kollektivierung hat zu keiner besseren Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln geführt. Ein nicht unwesentlicher Anteil dieser Versorgung stammte künftig aus den privat belassenen schmalen Parzellen der kollektivierten Bauern. Nun ist wohl davon auszugehen, dass für diese Fehldeutungen Rosenstocks bezüglich bolschewistischer Aktionen keineswegs nur höchst subjektive Momente eine Rolle spielten, sondern eher wohl sein ganzes Revolutionskonzept der europäischen Mächte ins Gewicht fällt, auf das noch unten eingegangen wird. In diese Reihe, beginnend mit der Papstrevolution im 11. Jahrhundert, passte die russische Revolution als Endakt gut hinein, wenn sie den „gemeinen Mann“ Stimme verliehen hätte, aber das konnte doch nie ein totalitärer Diktator bewirken! Aber offensichtlich hat es lange gedauert, bis Rosenstock das einsah, nachdem er zu lange der russischen Revolution einen Fortschrittswert in der Geschichte zugeschrieben hatte.8 Ich möchte zunächst zwei Zitate bringen, die zwar 40 Jahre auseinander liegen, die m. E. heute noch zustimmungsfähig sind:
„Die Menschheit wird zum einheitlichen Manne, der die Schöpfung draußen zu meistern hat und deshalb in sich Frieden hält. Das bedeutet der Sozialismus, der die ganze Erde zu unserem Vaterlande macht. Nur das kann das Vaterland aller sein, das auch das Vaterland des Geringsten zu sein vermag. Wie immer auf Erden kommt aus dem Geringsten die Erneuerung. Der Proletarier, der Geringste, stellt die Einheit des Erdbodens heute her.“9
„Aber die Revolution unserer Zeit besteht aus zwei ganz unideologischen Weltkriegen, und die Gehirnrevolution des Marxismus ist nur eine Teilreflektion dieser Kriege hinein in eine Anti-Zargruppe, die wir Bolschewiki nennen. — Marx hat immer ein nicht-ideologisches Ereignis, nämlich den Wandel der Produktionsverhältnisse, als die Weltrevolution angesehen. Er hatte recht. Den Weltkriegen kommt daher die Rolle der Marxschen Weltrevolution zu.“10 Beide Zitate sprechen für sich. Rosenstocks Irrtum lag offenbar darin, dass er zu lange ein Wirken für den „Geringsten“ mit bolschewistischer Herrschaft verbunden gesehen und die Industrialisierung der Landwirtschaft zu hoch bewertet hat.
In seinem Buch „Die europäischen Revolutionen“ schildert Rosenstock die Revolutionskette der europäischen Mächte, die mit dem Papst Gregor VII. (Dictatus Papae 1075) begann und mit der bolschewistischen Oktoberrevolution Lenins 1917, nach einem kurzen Vorspiel parlamentarischer Art, endete. Die Glieder dieser Kette waren vorgebildet in der mittelalterlichen Heerschildordnung, wobei ihre Folge von oben nach unten verlief, vom Kaiser bis zum gemeinen Mann (Arbeiterklasse). Demnach war das erste Konfliktpaar Kaiser und Papst und das letzte hätte zwischen Bürgern und freien Bauern einerseits und der Arbeiterschaft andererseits sein müssen (auch nach der Ansicht von Karl Marx). Doch, wie angedeutet, entsprach dies nicht der tatsächlichen Situation vor 90 Jahren in Russland, wo die Industrialisierung erst in den Anfängen steckte.
Alle Revolutionen sind nicht ohne Blutvergießen erfolgt, und das gilt auch für die christlich motivierten. Es ist nicht zu leugnen, dass unserem menschlichen Leben auf Erden prinzipielle Zwielichtigkeit anhaftet, so dass die Feststellung, selbst Unheil könne sich letztlich als heilvoll erweisen, nicht kategorisch verneint werden kann. Zudem können sich zunächst höchst unpopuläre Maßnahmen im Nachhinein als gut und richtig herausstellen. Im Hinblick auf diese Zwielichtigkeit ist schon das Verhalten des ersten europäischen großen Revolutionärs Gregor VII. für Rosenstock maßgebend. Von seinem Parteigänger, dem Kardinal von Ostia Petrus Damiani wurde er als „heiliger Satan“ bezeichnet, um seinen Berserkercharakter zu beschreiben, was Rosenstock zu dem Satz verleitete: „Die Heiligkeit des Teufels ist das Geheimnis jeder Revolution.“11 Und diese Charakterisierung hat Rosenstock auch auf Lenin bezogen, und damit auf einen Mann, der jeglichen Gedanken an Gott für „eine unsagbare Abscheulichkeit“ hielt. (Brief an Gorki) Beispielhaft ist für Rosenstock auch Gregors „Dictatus Papae“, denn in diesem Revolutionsprogramm wurden radikale Forderungen ohne Konzession an die vorgegebene Situation gestellt. „Keine Revolution stammt mehr seitdem von der vorhergehenden ab! Jede »ur-springt Gott unmittelbar«.“12 Selbst wenn man diese beiden Charakteristiken zunächst mal für die bolschewistische Machtergreifung gelten lässt – also die Kombination von Heiligem mit dem Teufel in Gestalt Lenins sowie das Anstimmen des Aufrufs „zum letzten Gefecht“ (Marx selbst hatte sich ja geweigert, ein Kochrezept für die Garküche der Zukunft zu liefern; hinterlassen hat er eine scharfe Kritik des Kapitals, der Ausbeutung, der Anarchie des Marktes etc.), wirft das m. E. schon Fragen auf: ob trotz einiger vergleichbarer dogmatischer Grundzüge zwischen Papstrevolution und bolschewistischer Revolution nicht doch entscheidende Unterschiede im Ansatz gegeben waren? Gregors Totalitarismus war schon vom Ansatz her nicht so umfassend wie der Leninsche, denn der Klerus war nie zu einem so nachhaltig zu einem totalitären Herrschaftsinstrument umzugestalten wie die bolschewistischen staatsparteilichen Institutionen. Er führte zu Kompromissen, zum Dualismus von Kaiser und Papst, von Staaten und der Kirche.
Der Bolschewismus versuchte nach seiner politischen Konsolidierung sich insbesondere auf dem Gebiet der Wirtschaft zu profilieren, indem er die zentrale Planung einführte. Dieser Versuch wurde von nicht wenigen Intellektuellen enthusiastisch begrüßt: endlich verabschiede sich der Mensch vom Markt mit seiner kapitalistischen Ausbeutung und regele seinen Lebensunterhalts nach gerechten Prinzipien. Tatsächlich ist es aber der sowjetischen Planwirtschaft nie gelungen, in angemessener Weise den Bedarf ihrer Bevölkerung zu befriedigen. Und hinsichtlich der Wirtschaftssprache in Statistiken kann man nur sagen: mit diesen wurde viel gelogen. Selbst eine langfristig gute Umweltpolitik blieb auf der Strecke, wobei nicht wenige erwartet hatten, dass diese in einer Planwirtschaft sehr viel besser beachtet würde als in Marktwirtschaften.
Es bleibt die Frage: Wie hätte sich die „Heiligkeit“ Lenins erweisen müssen? Offensichtlich setzte dabei Rosenstock auf langfristig sich als gut erweisende Strukturneuerungen, und das doch wohl nicht zuletzt auf wirtschaftlichem Gebiet. Nach dem tatsächlichen Geschehen vor 1991 kann festgestellt werden: dafür lässt sich kein überzeugendes Beispiel anführen. Heute muss man mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen, dass alte zaristische Züge im Osten wieder belebt werden (Korruption der Beamtenschaft, Rechtssprechung als verlängerte Arm der Herrschenden, Unterminierung der Sicherung eines akzeptablen Lebensstandards für die breite Bevölkerung). Allzu berechtigt hat sich die von Paul Scheffer während des „Kulaken“-Krieges 1930 ausgesprochene Vermutung erwiesen, dass sich diese Aktion allgemein gegen potentielle unternehmerische Kräfte in Russland richte (Scheffer wurde damals umgehend des Landes verwiesen).13
Nun war es nicht zuletzt Rosenstocks Anliegen, die Verkettung der einzelnen Revolutionen aufzuzeigen. Im Falle Russlands stellte er fest, dass die vier großen europäischen Gaben – Aufklärung, Kapitalismus, Nationalismus, Bürgertum – dort Sumpfblüten gezeitigt hätten: Nihilismus, freche Ausbeutung, plumpe Russifizierungspolitik in einem Vielvölkerstaat und den Sumpf von Petersburg.14 Allein deshalb gab es im Osten genügend Gründe für eine radikale Änderung, und die Mobilmachung des Heeres 1914 durch den Zaren - das erste ernsthafte Kriegssignal einer Großmacht -, wurde dann zum ersten Schritt auf dem Weg zum Umsturz der zaristischen Regierung 1917 und bald darauf zur bolschewistischen Machtergreifung. Und letztere gab Josef Stalin Gelegenheit, eine Blutspur anzulegen, die alle Zaren in den Schatten stellte. Einerseits gelang es unter Stalin schon, Erstaunliches an militärischem Arsenal auf die Beine zu bringen, andererseits konnte von sichtbarem Wohlstand der Massen der Werktätigen in Russland nie die Rede sein. Der Gulaschkommunismus, den Chruschtschow 1956 lauthals auf dem 20. Parteitag verkündete, erwies sich als leeres Versprechen. In wirtschaftlicher Hinsicht hat Rosenstock recht klar gesehen. So vermutete er bezüglich der Einführung der Planwirtschaft, dass sich diese gerade als das stärkste Hindernis „einer vollen Erdwirtschaft“ entpuppen könnte.15
Sloterdijk kann entgegengehalten werden, dass er durch seinen alleinigen Hinweis auf den „Heiligen Geist“ offenbar bewusst nur eine unvollständige Skizze von Rosenstocks Revolutionslehre gegeben hat. Korrekt hätte er vom „heiligen Satan“ sprechen müssen, und das hätte ihn vielleicht auf die vom ihm herausgestellte Gestalt des „Großinquisitors“ geführt. M. E. hat gerade Stalin diese sehr viel überzeugender verkörpert als Hitler, denn letzterer hat sein Teufels-Handeln auch in seinen Worten anklingen lassen, während Stalin sich mit „abstraktem Humanismus“, Mimikry persönlicher Bescheidenheit, Initiierung von Mordaktionen, die auch seine gehorsamen Mordgesellen einschloß, etc. wortreich tarnte. Doch Sloterdijk, der das Christentum für eine durch die Geschichte widerlegte Sache hält, und unsere menschliche Lebensorientierung wohl vornehmlich als eine Frage nach der „Wahrscheinlichkeit“ ansieht, kam es wohl besonders darauf an, dem Heilshistoriker Rosenstock himmlische „Akrobatik“ und „Märchenerzählung“ anzulasten. Das kann aber nicht die korrekte Bezeichnung für Rosenstocks Europäische Geschichte mit seiner Fehleinschätzung des Bolschewismus sein. Seine Geschichtserzählung hat einen unübersehbaren empirischen Bezug auf Worte und Taten der Handelnden. Anlasten kann man ihm sicherlich, dass er den orientalischen Despotiecharakter eines Stalins nicht frühzeitig durchschaute, auch nicht den institutionellen Fehlansatz Lenins, der eben Stalins Karriere ermöglichte. Er hat damit auch das Gewicht „orientalischer Despotie“ (Wittfogel) im Osten unterschätzt. Letztlich – vermute ich – dürfte aber auch Rosenstocks polemische Neigung ihn zu mancher irrtümlichen Aussage verleitet haben. Doch in dieser Hinsicht zeigte er auch immer wieder Hörbereitschaft auf Gegenstimmen.
Generell kann von Rosenstock als Heilshistoriker gesagt werden, dass er sich berufen fühlte, für Gottes Handeln durch uns Menschen zu zeugen. Und ihm war dabei durchaus bewusst, dass er damit das Risiko einging, von Gott blamiert zu werden.16 Soweit ich beide Denker beurteilen kann: Zur Erschaffung der Zukunft in Freiheit hat Rosenstock Hörenswerteres gesagt und vorgelebt als die Generation um und mit Sloterdijk.
4. Persönlichere Anmerkungen
Meine Haltung gegenüber dem Bolschewismus fußt primär auf meinen Erfahrungen in den Jahren 1945 bis 1950. Erst im Jahre 1952 las ich das erste kritische Buch über den dialektischen Materialismus, wobei ich nicht ohne Erstaunen zur Kenntnis nehmen musste, dass der Jesuit Gustav A. Wetter darin zwischen der Herrschaftsstruktur der römischen Kirche und der der bolschewistischen Partei einige Parallelen ansprach. Aber in den Jahren nach Kriegsende waren es bei mir vor allem die praktischen Folgen einer fehlgesteuerter Landwirtschaftspolitik (nach bolschewistischem Beispiel: 1. Akt 1945 – Aufsiedlung in kleine Bauernstellen von ca 7 ha Größe, 2. Akt - großer Propagandakrieg gegen Parolen aus dem Westen, dass damit der 1. Schritt zu Kollektivierung vollzogen sei, was als völlige Diffamierung erklärt wurde, doch sich nach wenigen Jahren als allzu berechtigt erwies), die sich mir aufdrängten. Sehr eindrucksvoll sah ich in der Altmark über weite Felder, auf denen vorher Weizen, Kartoffeln etc. gewachsen waren, sich weiße Wolken von Distelsamen in diesen Hungerjahren erheben (Bauernstellen in so geringer Größe sind auf einem schweren Boden, der drei Pferde vor dem Pflug benötigt, existenzunfähig). Durch diese Erfahrungen hat sich bei mir sicherlich eine prinzipielle Skepsis bezüglich bolschewistischer Wirtschaftspolitik festgesetzt (neben völliger Ablehnung des Bolschewismus als Heilslehre), die dann später auch immer wieder durch östliche Praktiken bestätigt worden ist. Dabei waren die ersten Parolen gar nicht so schlecht: „Die Hitlers kommen und gehen, das deutsche Volk bleibt bestehen - Stalin“ oder jene, dass jedes Volk seinen besonderen Weg zum Sozialismus gehen könne.17
Ich habe sowohl die braune wie rote Zeit in einem pietistisch geprägten Elternhaus verleben dürfen, in dem ein Geist wehte, der diesen beiden farbigen Zeitgeistern entgegen wirkte. Weder in der nationalistischen Botschaft noch in der kommunistischen konnte mein Vater besonderes Heil erblicken – in beiden Fällen dagegen ausgesprochenes Unheil, was bei ihm mit empirischer Erfahrung verbunden war. In der Hitlerzeit war es ganz ausgesprochen die Juden- und Christenverfolgung, die er als Unheil ansah (auch kann ich mich an kein Wort aus seinem Munde erinnern, das auf irgendwelche Kriegsbegeisterung hindeutete); in Besatzungs- und DDR-Zeit war es stärker berufliche Sorge als eine geistliche, obwohl es diese auch gab angesichts der atheistischen Propaganda. Mir selbst erschienen die beiden totalitären Systeme durchweg in naher geistiger Verwandtschaft zu stehen, trotz nicht zu übersehender Unterschiede. Beeindruckt wurde ich 1965, als ich den Gefangenschaftsbericht von Willy Kramp „Brüder und Knechte“ las. Kramp wurde 1950 aus der russischen Gefangenschaft entlassen, hatte aber ein Jahr vorher noch einen Prozeß durchzustehen, in dem ihn ein russischer Offizier wegen der Bildung einer antibolschewistischen Vereinigung verurteilen wollte, was völlig aus der Luft gegriffen war; jedoch war dieser Akt gekoppelt mit einem Verfahren gegen einen befreundeten Kameraden, der verurteilt wurde. Das Interessante war nun in Kramps Fall, dass eines Tages bei den endlosen stupiden Vorwurfswiederholungen des Offiziers zwei Damen auftauchten, von denen die ältere fließend deutsch sprach und schließlich das Wort anstelle des vernehmenden Offiziers ergriff und ihn zunächst fragte, ob er sich schlecht behandelt fühle. Es stellte sich dann schnell heraus, dass sie über seine Person gut informiert war: christlicher Schriftsteller, der der Bekennende Kirche angehörte, also ein Gegner des Hitlerfaschismus gewesen war. Doch das beeindruckte sie wenig: „Aber das Problem liegt darin, wie man solche Tatsachen interpretiert. Ich weiß, ich weiß […] nach Ihrer Ansicht haben wir gar nicht die Kategorien, um Sie und Ihre Welt zu beurteilen. […Das mag hin und wieder bei kleinen Geheimdienstbeamten – sie machte dabei eine Andeutung in Richtung des ihn vernehmenden Offiziers – zutreffen.] Alles in allem jedoch: wie naiv von Ihnen, sich die Sache so leicht zu machen! Glauben Sie etwa, ich hätte Menschen Ihres Schlages nicht in der alten russischen Gesellschaft dutzendweise gekannt und […] geschätzt? [… Weshalb waren Sie Hitlergegner?] Weil Hitler Ihren verschwommenen Ideen von Freiheit, Humanität und vor allem Ihren religiösen Vorstellungen zu Leibe rückte. Aus genau den gleichen Gründen sind Sie auch Gegner der Kommunismus, nicht wahr? … Dabei übersehen Sie natürlich, daß die sogenannte Weltanschauung der Faschisten nur ein verworrener und dilettantischer Abklatsch unserer wissenschaftlich begründeten Lehren ist. Dieser Hitler war nicht nur böse, er war auch dumm. Aber Lenin hat den Sinn einer Entwicklung begriffen, gegen die sich zu sträuben sinnlos und … verbrecherisch ist. Er hat ein Weltgesetz erkannt … klarer als vor ihm Marx und Engels…!“ (350 f.) – Wie lange Jahre später einige russische Dissidenten bekundeten, seien ihnen erstmal im Westen überzeugte Kommunisten begegnet. Vermutlich hat vor allem Breschnews bürokratisches Regime den ‚Glauben’ an den Bolschewismus absterben lassen.
Die Einleitung in seine zweibändige Soziologie hat 1956 Rosenstock unter die Überschrift „Die Freiheit“ gestellt. Darin heißt es: „Der Grundsatz des Buches ist, dass die Soziologie ausdrücklich auf einer teilweisen Kenntnis der Menschen beruhen muss. Der Soziologie ist nämlich nur deshalb erlaubt, die Wahrheit zu sagen, weil sie zugibt, weder alle Menschen noch einen einzigen Menschen ganz zu kennen.“ (I 18) – Mir erscheint diese Erkenntnis fundamental zu sein – für unser menschliches Leben in Freiheit, das durchaus auch seine Kostengesetze hat. Dazu gehören Fähigkeit und Mut unsere eigene Irrtumsanfälligkeit immer wieder zu beachten und bis drei zählen zu können und zu wollen – nämlich klar zu erkennen und zu beherzigen, dass Kirche, Staat und Gesellschaft drei gesonderte Aggregatzustände jedes Mündigen sind auf den Zeit-Wellenlängen von Ewigkeit, Generationenkette und kurzer Lebensfristen. Und dass wir Menschen auch bereit sein müssen, als Kirchenglieder, als Staatsbürger und als Haushaltende zu wirken – zu entscheidenden Zeiten und in außerordentlich unterschiedlicher Weise: priesterlich dienend in der Universalkirche des Menschengeschlechts, pflichterfüllend in einem begrenzten rechtsstaatlichen Verband, fachlich und flexibel agierend in einer global vernetzten Gesellschaft.
Nachbemerkung: Der vorstehende Text wurde in den „Mitteilungsblättern 2007“ der Rosenstock-Huessy-Gesellschaft S. 84-103 veröffentlicht – jedoch mit Veränderungen bei der Fußnotennummerierung, aber dort nicht einheitlich. Ich hoffe, daß es keine Probleme für den Leser gibt, die Bezugstextstellen auszumachen.
Leserbrief
Ulrich Becks Weihnachtsthese von der Gefährdung des Friedens durch monotheistische Religionen hat m. E. durch Tine Stein eine gute Kritik erfahren (ZEIT Nr. 52/07 und 2/08). Doch Becks Haltung wird heute von nicht wenigen Intellektuellen geteilt, zwei bekanntere sind Jan Assmann und Peter Sloterdijk. Obwohl letzterer einige historische Leistungen anerkennt, ist das Christentum nach ihm durch die Geschichte widerlegt worden. Das ist im Hinblick auf seine oft erstaunliche Wertschätzung von Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973) recht verwunderlich; für Beck dürfte Rosenstock als Außenseiter wohl kaum beachtenswert sein. Gegenüber allen drei genannten monotheistischen Kritikern zeichnet Rosenstock sich durch den Mut aus, sich einerseits dezidiert zum Christentum zu bekennen und andererseits seine Aufgabe als Soziologe, als Lehrer einer „Wissenschaft von den Menschen“ darin zu sehen, dass er die unser Menschenleben erfüllende Vielstimmigkeit und Vielgestaltigkeit durch eine Sozialgrammatik gerecht zu werden versucht. Konsequent bewahrt er Abstand zur abstrakten Logik, weil diese den notwendigen Lebenswandlungen nicht gerecht werden kann. Das bedeutet nicht, dass er nicht auch bestimmte Grundgesetze menschlichen Zusammenlebens bejaht. Seine sozialgrammatische Lehre kennt »Gott und Götter«: „Gott ruft, die Götter zwingen.“ Der Soziologe hat s. E. seine eigentlichen Gesprächspartner unter den arbeitsteilig Tätigen, weltwirtschaftlich Benachteiligten und den jeweilig besonders Notleidenden zu suchen. Die Grenzen des Christentums werden nach Rosenstock durchaus nicht durch verbale Bekenntnisse bestimmt (so hält er etwa Friedrich Nietzsche für einen „verkappten Christen“), sondern durch überzeugendes Verhalten, durch Schritte auf dem Weg zur „planetarischen Solidarität“. „Glauben“ ist für ihn keine individuelle Kraft, sondern neben Liebe und Hoffnung eine „himmlische“. Keine Person oder Gruppe kann den Anspruch erheben: jederzeit Glauben zu besitzen. Das immer wiederkehrende Aussetzen des Glaubens sollte ernüchternde empirische Erfahrung sein – individuell und kollektiv. Schon in der Zeit des 1. Weltkrieges gestand Rosenstock gegenüber seinem jüdischen Freund Franz Rosenzweig seine Vorsicht gegenüber direkter Glaubensaussage ein, indem er sagte: „Ich hoffe zu glauben“. Und seine Soziologie fußt auf dem Axiom einer nur bruchstückhaften Erkennbarkeit der Menschen.
Der vor zwei Monaten verstorbene amerikanische Rosenstock-Schüler und Jurist Harold J. Berman hat vor 6 Jahren eine Rede gehalten, die mit folgenden Sätzen endete: „Der Heilige Geist ist der Gott der Geschichte, der Gott von Vergangenheit und Zukunft, der nährende Gott, der uns inspiriert, unser elterliches und geschwisterliches Erbe, unseren Willen und unseren Verstand an den prophetischen Herausforderungen der Zeiten zu orientieren, in denen wir leben. Heute, zu Beginn eines neuen Jahrtausends, stehen wir vor der Forderung, eine universale Gemeinschaft zu bilden. Und ER ist gegenwärtig in der Schaffung gemeinsamer Rechtsinstitutionen zwischen den vielfältigen Weltkulturen, indem die Völker geleitet werden, um, das sei mit St. Pauls prophetischen Worten gesagt, auf der Erde in Frieden und Gerechtigkeit mit einander zu wohnen.“
Dr. Rudolf Hermeier, Dreieich, 6. Januar 2008
Nach der Lektüre von Peter Sloterdijk „Gottes Eifer – Vom Kampf der drei Monotheismen“ geschrieben. – Nach erster Reaktion der Zeit-Redaktion kaum zu erwarten, dass der Text, wenn er überhaupt angenommen wird, ungekürzt erscheinen wird.
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E. Rosenstock-Huessy: Soziologie, Stuttgart 1956, I 197 ↩
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s. P. Sloterdijk, H.-J. Heinrichs: Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen. Frankfurt/M. 2001, 27 f. ↩
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P. Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt/M. 2006, 289 ↩
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Ders.: Die Sonne … a.a.O. 222 ↩
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Ders.: Zorn und Zeit. 242 – Sloterdijk bezieht sich auf die 2. Auflage der „Europäischen Revolutionen“ von 1951, 527 (1. A. 1931, 526). Auch in seinem Gespräch mit Heinrich weist Sloterdijk auf das Revolutionsbuch hin: „Nun dachte Rosenstock tatsächlich, daß mit der russischen, der angeblich proletarischen und damit letzten Revolution, die eigentliche pneumatische Weltgeschichte an der Basis angekommen sei, sich zu vollenden – zwar im atheistischen Incognito, aber immerhin. — Man darf diese Konstruktion ruhig für das nehmen, was sie ist, ein höheres Märchen, wie Theologen es früher gern erzählt haben.“ Die Sonne und der Tod. a.a.O. 24 ↩
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Es gibt also einen ernsthaften Grund, dem Verleger Klett nachträglich dankbar zu sein, dass er damals sich geweigert hat, den 2. Band der Soziologie zu veröffentlichen. In dem 1958 bei Kohlhammer erschienenen Band II heißt es ganz anders – siehe weiter unten. ↩
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Ich möchte hier insbes. auf 6 Bücher verweisen: 1. Alexander Solschenizyn: Der Archipel GULAG. Bern 1976 (III, 351 ff. Die Bauernpest), Lew Kopelew: Und schuf mir einen Götzen – Lehrjahre eines Kommunisten. Hamburg 1979, 3. Robert Conquest: Ernte des Todes – Stalins Holocaust in der Ukraine 1929-1933. München 1988, 4. François Furet: Das Ende der Illusion – Der Kommunismus im 20. Jahrhundert. München 1996 (194 ff.), 5. Nicolas Werth: Ein Staat gegen sein Volk. In: Das Schwarzbuch des Kommunismus. München 1998 (165 ff.), 6. Donald Rayfield: Stalin und seine Henker. Berlin 2004. - Angemerkt sei noch, dass Rosenstocks wiederholte Kritik an George Orwell „1984“ bei mir zu der Frage geführt hat: hat er nicht die großen Geschichtsklitterungen von Stalin wahrgenommen, die m. E. Orwell ja nur etwas phantasievoll ausgeschmückt hat? ↩
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Vgl. etwa auch E. Rosenstock-Huessy: Ja und Nein – Autobiographische Fragmente. Heidelberg 1968, 44 f.; jetzt auch in ders.: Unterwegs zur planetarischen Solidarität. Münster 2006, 230 ↩
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Ders.: Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution. Würzburg 1920, 300; auch in ders.: Die Sprache des Menschengeschlechts. Heidelberg 1963, I 247 ↩
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Ders.: Soziologie. Stuttgart 1958, II 113 ↩
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Ders.: Die Europäischen Revolutionen. Stuttgart 1951, 154 ↩
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Ebenda 155 ↩
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P. Scheffer: Augenzeuge im Staate Lenins. München 1972, 429 ff. (BT, 23. 3. 1930) ↩
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E. Rosenstock-Huessy: Die Europäischen Revolutionen. 479 ↩
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Ebenda 502 ↩
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Vgl. ders.: Die Sprache des Menschengeschlechts. Heidelberg 1964, II 593 ↩
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Wie der westliche Kommunist Hermann Weber, der von 1947-49 Parteihochschulen der SED in der SBZ besuchte, in seinen Erinnerungen feststellte „Damals als ich noch Wunderlich hieß – Vom Parteischüler zum kritischen Sozialisten“ (Berlin 2002), wurde im Laufe des Jahres 1948 die Hochschule zu einer moskauhörigen Kaderschmiede umgewandelt, wobei vorher schon Geschichtsklitterung betrieben wurde – etwa bezüglich Trotzki. Anton Ackermann hatte die These vom „besonderen Weg zum Sozialismus“ vorgeschlagen, die dann von Moskau akzeptiert wurde und so Anfang 46 veröffentlicht werden konnte, doch diese genehmigte Parole ersparte dem Initiator später nicht ein öffentliches Schuldbekenntnis. ↩