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Otto Kroesen: Der Kampf zwischen zwei Gesellschaften

In jedem Krieg, auch in dem in der Ukraine, geht es um Macht. Aber es geht nie um pure Macht allein. Es prallen zwei Gesellschaften aufeinander, zwei Lebensweisen, oder anders gesagt, ein unterschiedliches Verständnis der geistigen Mächte, die unsere Existenz lenken.

Otto Kroesen

Der Kampf zwischen zwei Gesellschaften (1)

Die Kuppel und das Schiff

Diesen Unterschied im Wertesystem (säkular gesprochen) oder in den geistigen Mächten (religiös gesprochen) versuche ich in einigen Beiträgen 1 ein wenig zu schärfen. Dabei hoffe ich, dass wir den anderen und damit uns selbst besser kennen lernen.

Die Architektur der alten Kirche

Die Architektur verrät oft einen Unterschied in der geistigen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Im alten Christentum gab es vor allem Kuppelkirchen, wie die Ayah Sophia in Konstantinopel. Unter dem offenen Himmel sind die Menschen in der Kirche versammelt. Oft sehen wir den verherrlichten Christus von der Decke herabblicken. Er hat alle Macht im Himmel und auf Erden. Und er zieht alles zu sich heran (Johannes 12,32). Auf den Himmel sollte man also seine Augen gerichtet halten. Ayah Sophia In der alten Kirche konnte man nicht wirklich erwarten, die Welt dramatisch zu verändern. Aber man konnte selbst anders leben, und zwar als Gemeinde, mit mehr Verantwortung und Fürsorge füreinander. Und das taten die Menschen auch. In der rauen Wirklichkeit war dies schwer genug, darum wurde es wenigstens in den Klöstern gemacht. Und auch dort blieb es schwierig. Man konnte seine Seele vor dieser Welt bewahren und retten 2. Das Wort Seele ist etwas aus unserem Sprachgebrauch verschwunden, aber es findet in unserer Zeit noch eine Entsprechung in der Formulierung “persönliche Integrität”.

Das bedeutete aber auch, nicht zu versuchen, das öffentliche Leben durch direkte Intervention zu verändern. Vor allem im Oströmischen Reich lehnte sich die Kirche kontinuierlich an die Macht des Kaisers in Konstantinopel an und gab sich mit ihr zufrieden. Seit der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 versteht sich die Russisch-Orthodoxe Kirche als Erbe ihrer Tradition und Lebenseinstellung. Für die persönliche Integrität mussten sich die Menschen auf Gottes Gnade verlassen, und für die irdische Gerechtigkeit mussten sie hoffen, dass auch der Kaiser unter den Einfluss dieser Gnade geriet 3.

Die Architektur der Moschee

Übrigens hatte diese Lebenseinstellung schon im Oströmischen Reich zu großer sozialer Gleichgültigkeit geführt. Zwar zeichnete sich das Oströmische Reich nach Konstantin dem Großen durch ein viel humaneres und würdigeres Regime aus als das alte Römische Reich, doch als vor allem im fünften und sechsten Jahrhundert die Großgrundbesitzer immer mehr Macht gewannen und sich vor allem in Konstantinopel um ihre Interessen kümmerten, während in den Dörfern die Menschen zu Grunde gingen, gab es eine Reaktion der arabischen Stämme: Alle Menschen, auch die Großgrundbesitzer, mussten sich nun fünfmal am Tag im Staub verbeugen, und man konnte das Erbe nicht mehr ungeteilt weitergeben 4.

Dieser Angriff des Islams auf ungleiche Machtverhältnisse findet seinen Ausdruck auch wieder in der Architektur. Die christlichen Kuppelkirchen sind nun so gebaut, dass gleichsam das Gebäude und die ganze Erde an den Säulen hängt, vom Himmel hängt, mit Minaretten wie Drähten nach oben. Die Allmacht Gottes verschlingt die irdische Wirklichkeit und bringt Stämme und Menschen zur Einheit und Gleichheit.

Die Architektur des Westens

Neue Kirche Delft Der Westen kämpfte mit denselben Problemen, aber nach der Eroberung Roms durch Alarich im Jahr 410 hatte bereits eine etwas andere Orientierung eingesetzt. Die westliche Kirche konnte sich nicht mehr auf einen Kaiser stützen wie die östliche, und Augustinus schrieb nach der Eroberung Roms sein Buch De Civitate Dei. Darin vertritt er die Ansicht, dass die Eroberung Roms keine wirkliche Katastrophe ist, da das Ziel der Kirche darin bestehen sollte, die Stadt Gottes auf die Erde zu bringen, und das kann auch ohne Rom geschehen.

In den harten Jahrhunderten nach Karl dem Großen ging es unter der Herrschaft der Großgrundbesitzern (“Raubrittern”) im Westen noch schlechter als im Osten. Im Jahr 1076 erklärte Papst Gregor VII., dass er über dem Kaiser stehe, was zu einem gewaltigen Machtkampf zwischen Anhängern des Papstes und Anhängern des Kaisers führte. Dabei handelt es sich jedoch nicht nur um einen politischen Konflikt, sondern auch um einen sozialen Konflikt, der die gesamte Gesellschaft betrifft. Viele Klöster und Großgrundbesitzer steckten unter einer Decke, und viele aufrichtige Mönche und einfache Menschen widersetzten sich dem mit aller Kraft 5. In diesem Konflikt entstand Raum für Zünfte und Bruderschaften, Organisationen von unten. Zünfte und Bruderschaften gab es schon früher, aber nun beruhten sie nicht mehr auf familiären Beziehungen, standen nicht mehr unter der Kontrolle des Kaisers und darüber hinaus garantierte das Körperschaftsrecht nun ihren Fortbestand über Generationen hinweg. In ihnen konnten die Menschen mehr oder weniger frei ihren Geschäften nachgehen, weil die päpstliche Partei sie unterstützte, so dass der Kaiser sie nicht wirklich aufhalten konnte 6.

Kirche in Moskau Damit entstand auch im Westen eine neue Art von Kirchenbau: Wer zum Beispiel die Nieuwe Kerk in Delft betritt (wohlgemerkt, es war ursprünglich eine katholische Kirche), sieht nicht eine Kuppel über sich, sondern eine Straße vor sich. Dieser Weg führt übrigens nach Osten, nach Jerusalem. Dieser Weg besteht aus Etappen. Man geht weiter und weiter in das Kirchenschiff hinein. Man geht auch immer weiter mit seinem Blick nach oben. Dort gibt es Zwischenstationen, einen Kranz, einen Querbalken, aber dann wird der Blick wieder weiter nach oben oder nach vorne gezogen. Die westliche Kirche ist auch in ihrem Kirchenbau nicht mehr nur auf den Himmel ausgerichtet, sondern auch auf eine schrittweise Umgestaltung der Erde.

Die orthodoxe Ostkirche hat dies immer als Häresie angesehen. Deshalb ist die orthodoxe Ostkirche auch “orthodox”. Die östlich-orthodoxe Kirche behauptet, dass man als Kirche die Erde nicht erlösen kann, die politische Kontrolle über sie bleibt bei den weltlichen Mächten. 3 Im Gegensatz zur Moschee symbolisiert der ostorthodoxe Kirchenbau eine Dichotomie: Die Kuppel bzw. die Kuppeln (es gibt mehrere Patriarchate) erheben sich über die Erde und sind deutlich vom irdischen Unterbau getrennt. Die östliche orthodoxe Kirche erlebt die westliche Neuerung nicht. Sie hat starke Einwände gegen sie. Es ist klar, dass bereits vor 1.000 Jahren die Weichen für eine ganz andere Gesellschaft gestellt wurden.

Otto Kroesen

Der Kampf zwischen zwei Gesellschaften (2)

Regeln oder mit Liebe durchdringen

Der Westen mit der katholischen Kirche und Russland mit der orthodoxen Kirche wuchsen auseinander. Im Oströmischen Reich blieb das Kaisertum bestehen. Politisch war die Kirche immer von ihm abhängig. Das Weströmische Reich ging mit dem Fall Roms im Jahr 476 unter, aber auch mit der Invasion vieler Stämme, die sich innerhalb seiner Grenzen niederließen. Die Entwicklung im Westen verlief infolgedessen wesentlich chaotischer. Dies veranlasste die Kirche, sich stärker als im Osten in die politischen Beziehungen einzumischen und die irdischen Verhältnisse zu regeln.

Diese Welt soll sich ändern

Karl der Große arbeitete bei seinen Eroberungen im achten Jahrhundert zwar mit dem Papst zusammen, aber dem Papst wurde dabei eine ihm untergeordnete Stellung zugewiesen. Für Karl war es wichtig, dass er nicht nur als Vertreter eines Stammes, der Franken, angesehen wurde. Wenn er als christlicher Kaiser mit dem Papst an seiner Seite angesehen wurde, konnte er seine Autorität mit viel mehr Überzeugung auch gegenüber den anderen Stämmen geltend machen 7.

Nach seinem Tod begannen die Großgrundbesitzer, auf ihren Burgen und in ihren Klöstern das Gleiche zu tun. Sie unterstellten die Priester und Mönche ihren Interessen 8. Mit Mühe hielten die Nachfolger Karls des Großen die Dinge einigermaßen zusammen. Im 11. Jahrhundert versuchte der deutsche Kaiser Heinrich III., die Einheit zu fördern, indem er einen glaubwürdigen Papst in Rom einsetzte. Zu dieser Zeit waren die Päpste selbst kaum mehr als lokale Herrscher von Rom. Dieser glaubwürdige Papst wurde schließlich Gregor VII., und er begann gerade, die Abhängigkeit der Kirche in Frage zu stellen.

Im Jahr 1076 brach er aus: der so genannte Investiturstreit, der Streit um die Ernennung der Bischöfe. Dieser Kampf wurde auf allen Ebenen der Gesellschaft ausgetragen. Selbst auf lokaler Ebene wollten die Menschen der Machtgier der Raubritter ein Ende setzen. Es war die Kirche, die dafür kämpfte. Zum ersten Mal griff die Kirche weltverändernd ein 9!

Regeln und Geistlichen

Die Kirche versuchte vor allem, die politische Praxis zu vereinheitlichen: Gesetze mussten schriftlich festgehalten werden und durften nicht willkürlich sein. Überall sollten möglichst die gleichen Gesetze gelten, und die Kirche selbst begann damit, indem sie sieben Sakramente einführte. Zwischen der Partei des Papstes und der Partei des Kaisers gab es einen ständigen Kampf um die gegenseitigen Befugnisse und Beziehungen.

In diesem Machtkampf gab es Raum für die Städte und Zünfte, sich von unten zu organisieren. Dabei wurden sie vom Papst und von den Bettelorden unterstützt. Bürger und oft auch entlaufene Leibeigene beteiligten sich daran. Die Geistlichen waren nun keine Heiligen mehr, die von der Eingebung des Augenblicks abhängig waren, sondern sie wurden zu einem Berufsstand, der studiert hatte, sei es in Jura oder in Theologie 10. Eingebungen wurden ersetzt durch allgemeine Regeln.

Man muss auch wissen, dass alle weltlichen Herrscher, Könige und Kaiser, damals anfänglich nur militärische Führer waren. Alles andere wurde von der Kirche geregelt: Gesundheitsfürsorge, Bildungseinrichtungen, sogar technische Neuerungen in der Landwirtschaft und dergleichen. Der Vorwurf der Orthodoxie

Die östliche Orthodoxie hat der westlichen Kirche immer Säkularisierung vorgeworfen. Die Kirche war mit der Regulierung der Gesellschaft befasst, und in der Tat ging es im Glauben wie auch in der Gesellschaft um Regeln, Dogmen und Gesetzen. Die Kirche ist dazu da, Gottes Liebe zu den unglücklichen Menschen zu verkünden. In den Heiligen kommt diese Liebe zum Ausdruck. Die Sünder werden durch diese Liebe gerettet. So sollte es sein 11.

Umgekehrt kam aus dem Westen die Kritik, dass die orthodoxe Ostkirche gegenüber der Regierung kritischer sein könnte. Die orthodoxe Ostkirche hat gegenüber der politischen Macht immer eine passive Haltung eingenommen. Das entscheidende Argument war oft, dass jeder Sünder weiterhin den Zugang zu Gott finden können sollte 11.

Was die Kirche damals im Westen begonnen hat, hat in der Arbeit säkularer Organisationen eine Fortsetzung gefunden: die Organisation der Gesellschaft durch Regeln und Gesetze und Argumentationen (Philosophie, Wissenschaft), die einen “zwingenden” Charakter haben. Auch das kennen wir: Für alles gibt es eine Regelung. Und wenn die Regeln selbst aus dem Ruder laufen, wie bei der (niederländischen) Beihilfenaffäre, kommt eine andere Regelung, um die Lücken zu füllen 12. Dann ist der Kampf gegen die Armut eher eine Kopf- als eine Herzenssache. Das ist der Vorwurf aus dem Osten: Der Westen hat zu viel Kopf und zu wenig Herz.

Die russische Gesellschaft

Aber dann die russische Gesellschaft: Die Kirche ist passiv, und die Regierung hatte nur eine militärische Rolle, als Schutz gegen Feinde. Zar Peter der Große erkannte, dass der Westen bei der gesellschaftlichen Organisation eine Vorreiterrolle übernommen hatte. Er versuchte, dort zu lernen, um Russland zu entwickeln. Aber das scheiterte immer. Die Gesellschaft blieb eine Angelegenheit von Großgrundbesitzern und armen Landarbeitern. Russland hatte fast keine Städte. St. Petersburg war auf den Westen ausgerichtet, und das war vor allem gut für die Einnahmen durch den Export. Wie sollte das weitergehen? Im 20. Jahrhundert, in der Russischen Revolution von 1917, kam es zum Ausbruch. Sicherlich musste die russische Gesellschaft irgendwie die westliche Organisationsfähigkeit erben. Aber wie schwierig ist das?

Otto Kroesen

Der Kampf zwischen zwei Gesellschaften (3)

Verwestlichung Russlands und Russifizierung des Westens

Russland hat keine Zivilgesellschaft mit Zünften, Städten und Organisationen von unten nach oben entwickelt. Seit Zar Peter dem Großen wurden Versuche unternommen, Russland zu modernisieren. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch war Frankreich mit seiner bürgerlichen Revolution und seinem Rationalismus sowie seiner demokratischen Regierungsform als Nationalstaat das Vorbild. In diesem dritten Beitrag beleuchten wir den privilegierten Moment der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, der in der Russischen Revolution von 1917 gipfelte, die in Russland den wissenschaftlichen Sozialismus mit einer totalen staatlichen Planung einführte.

Die Russische Revolution und der wissenschaftliche Sozialismus

Im Jahr 1905 findet in Russland eine bürgerliche Revolution statt. Dies ist jedoch nur der Vorläufer des Ausbruchs von 1917, als mitten im Ersten Weltkrieg die radikalen Kommunisten, die Bolschewiki, unter der Führung von Lenin die Macht ergriffen. Lenin und seine Anhänger waren stolz darauf, dass ihr Land, die künftige Sowjetunion, als erstes die sozialistische Gesellschaft verwirklichte. Dies wäre übrigens ohne die Radikalisierung der Soldaten/Bauernsöhne an der Front in den Schlachten des Ersten Weltkriegs nicht gelungen.

Die Kommunistische Partei in Russland errichtete ein strenges Regime mit Staatseigentum an den Produktionsmitteln und totaler Planung der Produktion, das auch vor radikalen Maßnahmen wie Vertreibung der Bevölkerung, Verfolgung des bürgerlichen Mittelstandes, Straflager für Dissidenten nicht zurückschreckte. Alles drehte sich um die rationale Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse, und zwar unter staatlicher Kontrolle.

Sprachphilosophie in Russland

Im Westen nicht so bekannt sind die Namen einer Reihe russischer Philosophen/Theologen, die nicht vom Kommunismus, sondern von der russischen Orthodoxie inspiriert wurden. Dazu gehören Namen wie Solowjew, Bulgakow, Berdjajew, Florenski 13. Auch sie waren davon überzeugt, dass Russland westliche Institutionen und Werte übernehmen müsse, aber ihrer Ansicht nach sollte die russisch-orthodoxe Inspiration dafür verantwortlich sein. Die Namen der Schriftsteller Dostojewski und Tolstoi sind im Westen viel bekannter geworden. Auch sie wollten das westliche Erbe übernehmen und es gleichzeitig übertrumpfen, da sie mit der vorherrschenden westlichen Philosophie des Utilitarismus und Rationalismus nicht zurechtkamen.

Bemerkenswerterweise versuchten diese russischen Denker, die Schätze der russischen Orthodoxie durch eine neue Reflexion über die Sprache freizulegen. Die Menschen mögen fehlerhaft, ängstlich und manchmal böse sein, aber wenn sie einander ansprechen und sich einander öffnen, geschieht etwas. Dann kommen sie einander zu Hilfe und werden zu verflochtenen Freunden. So verflochten wie die Brüder in den russischen Klöstern, die alles miteinander teilen und Brüderlichkeit und Freundschaft praktizieren 14. Das ist die Lösung für die sozialen Probleme, die sie im Sinn haben.

Durch die Sprachphilosophie von Appell und Antwort fließt der Liebesüberschuss der russischen Seele in die Gesellschaft. Die Sprache selbst, so Florenski, hat eine trinitarische Struktur 15. Gott ist eigentlich der Einzige, der Ich sagen kann. Das Du, das Gegenüber von Gott, ist der Sohn, der sich in Christus offenbart, der aber uns alle als Angesprochene einschließt. Weil wir im Vater, der uns anspricht (Ich sagt), und im Sohn (angesprochen als Du) enthalten sind, verwandelt uns der Geist in ein Wir, eine Gemeinschaft von Menschen, die füreinander einstehen und gemeinsam an der Verwirklichung des Reiches Gottes arbeiten. So entsteht das Heil und nicht durch utilitaristische oder rationalistische Überlegungen. Diese sind eigentlich nur die säkulare Fortsetzung der Regulierung durch die katholische Kirche seit dem Mittelalter.

Die Krise der Nationalstaaten im Ersten Weltkrieg

Eine Gruppe hauptsächlich jüdischer Gelehrter in Deutschland sah um den Ersten Weltkrieg herum ebenfalls die Notwendigkeit, Nationalismus und Rationalismus zu überwinden. Deutschland hatte den Krieg verloren und die Nation drohte orientierungslos und verwildert zu werden. Da hilft die Vernunft nicht weiter. Im Appell und in der Antwort, im Sprechen und im Zuhören müssen sich die Menschen auch hier füreinander öffnen. Das ist der einzige Weg. Mit diesem Ansatz verbinden sich Namen wie Ehrenberg, Rosenzweig, Buber, Rosenstock-Huessy 16. Diese Sprachphilosophie sollte aus der Sicht Rosenstock-Huessys vor allem Brücken bauen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, in gemeinsamer Verantwortung, trotz aller Widersprüche.

Ehrenberg nennt diese Wiederentdeckung der Sprache die Russifizierung des Westens. In der östlichen Orthodoxie sind die Schätze der Liebe Christi und der Hingabe an den Nächsten in der Liturgie und in den Klöstern bewahrt worden. Jetzt fließen Liebe und Respekt in die Gesellschaft ein und geben neue Impulse, wo die Pläne und das Denken der Menschen stecken bleiben.

Wo ist das geblieben - im Osten und im Westen?

Sowohl in Russland als auch im Westen ist diese neue Sprache eine Randerscheinung geblieben. Sie hat zwar einige Anhänger gefunden, konnte aber den Lauf der Gesellschaft nicht verändern. Russland blieb auf dem Weg des Staatskapitalismus mit einer wachsenden Rolle der Geheimdienste. Der Westen blieb auf dem Weg des Liberalismus mit zunehmendem Konsumismus, so dass viel von der bürgerlichen Zusammenarbeit, die das Erbe des katholischen Mittelalters und der reformatorischen Neuzeit war, verloren gegangen ist. Zwar wurden die schlimmsten Auswüchse des Liberalismus bekämpft, aber hauptsächlich im Westen selbst. Der Westen hat eine lange Tradition darin, die Errungenschaften, die das kulturelle Kapital der eigenen Gesellschaft ausmachen, anderen Gesellschaften zu vorenthalten 17.

Otto Kroesen

Der Kampf zwischen zwei Gesellschaften (4)

Zivilität oder Liberalisierung

Der Westen hat ein ziemlich beschränktes Verständnis von den Grundlagen, auf denen er selbst aufgebaut ist. Der Liberalismus geht davon aus, dass die Menschen aus freien Stücken einen Gesellschaftsvertrag zum gegenseitigen Nutzen abschließen. Der Mensch ist ein “homo oeconomicus”, kalkulierendes Eigeninteresse führte ihn zur Kooperation. Dieses Menschenbild hat bei der Liberalisierung der Wirtschaft in Russland in den 1990er Jahren großen Schaden angerichtet. Der langfristige Schaden, den es im Westen selbst anrichtet, ist möglicherweise noch größer.

Die Zivilgesellschaft

Die Gesellschaft baut nicht auf kalkuliertem Verhalten auf, sondern auf Vertrauen und Verlässlichkeit auf der einen Seite und kontrollierenden Institutionen auf der anderen 18. Diese werden Schritt für Schritt aufgebaut, denn wenn man einander zunächst nicht vertraut, akzeptiert man auch nicht die Kontrollmechanismen der Institutionen. Nehmen wir als Beispiel die Zünfte und Städte im Mittelalter: Ein Eid auf die Gesetze der Stadt oder der Zunft war Voraussetzung für die Mitgliedschaft. Zünfte waren auch religiöse Institutionen, da die Vertrauenswürdigkeit und Loyalität jedes Mal explizit gemacht werden musste, um sie zu üben 19.

Diese Institutionen wiederum formten den Charakter. Es entstand ein neues “Selbst”, ein neuer Menschentyp. Wie sonst könnte man jemandem das Geld anvertrauen, der nicht zur eigenen Familie gehört? Zivilität bedeutet, dass man auch Nicht-Familienmitglieder behandelt als wären sie Familienmitglieder 20. Gegenseitiges Vertrauen ist nicht die einzige Errungenschaft. Hinzu kommt der Pluralismus: Man kann sehr unterschiedlicher Meinung sein und trotzdem etwas gemeinsam tun, wann immer es möglich ist. Man kann Kritik annehmen und Kritik üben, ohne dass die Beziehung zerbricht: Wir sind alle Sünder, das wissen wir. Diese Erkenntnis hat übrigens auch die Empfindsamkeit für Status drastisch reduziert. Aufgrund dieser Errungenschaften werden allerhand Problemen im gegenseitigen Geben und Nehmen gelöst, ohne dass der Staat eingreift. Dies ist kein natürliches Phänomen, sondern ein Lernprozess der Zusammenarbeit in immer größerem Umfang, der durch die europäischen Revolutionen ausgelöst wurde. Neben neuen Rechtsformen (Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Repräsentation) haben diese Revolutionen auch neue menschliche Eigenschaften hervorgebracht. Diese Eigenschaften und Werte wiederum halten diese Institutionen über Wasser.

Russland in den 1990er Jahren

Die 1990er Jahre waren ein Versuch, die russische Wirtschaft zu liberalisieren, ohne dass eine Zivilgesellschaft vorhanden war. Man ging davon aus, dass die Beseitigung von Hindernissen in Form von Staatsmonopolen ausreichen würde. Doch die Menschen vertrauten einander nicht und waren nicht verlässlich zueinander, und auch all die anderen Eigenschaften, die eine Zivilgesellschaft auf dieser Grundlage aufbauen könnte, waren nicht vorhanden. In dieser Lage eigneten sich ehemalige Direktoren von Staatsmonopolen, Mafiabosse und KGB-Agenten die ehemalige Staatsbetriebe an. Um einen von vielen Tricks zu nennen: Wenn ein Unternehmen versteigert wurde, geschah dies oft in abgelegenen Gebieten, so dass Konkurrenten entweder nichts davon wussten oder nicht dorthin gelangen konnten 21. Wertlose Fabriken wurden für Millionen verkauft und umgekehrt, wie es gerade passte. Überweisungen für verkaufte Staatsbetriebe wurden auf private Konten geleitet. Und so weiter. Nach den Überlegungen des liberalen “homo oeconomicus” sollte dieses Chaos des freien Wettbewerbs natürlicherweise zu einigen starken Unternehmen führen, die konkurrenzfähig sind, aber man vergaß, dass die Institutionen zur Durchsetzung von Fair Play ebenfalls nicht vorhanden waren. Mit Hilfe von Freunden an der Spitze ist es ohnehin möglich, Konkurrenten mit besseren Produkten auszuschalten.

Marshall Goldmann sagt dies in einem Artikel aus den 1990er Jahren: “Dies birgt das Potenzial für soziale Umwälzungen, die das bestehende Regime leicht untergraben und einer Form des Protofaschismus die Tür öffnen könnten, der behauptet, die einzige Autorität zu haben, um Ungerechtigkeiten der Vergangenheit zu beseitigen” 22. Dies sind prophetische Worte. Genau in dieser Richtung haben sich die Dinge entwickelt.

Gibt es also keinen Widerstand in Russland dagegen? Die russische Opposition hat es versucht und wurde im Keim erstickt. Die Menschen in Belarus haben es versucht und werden mit Putins Hilfe in Schach gehalten. Es wird argumentiert, dass die Ukraine eigentlich eine gemeinsame Geschichte mit Russland hat. Die Ukraine war schon immer ein Grenzland zwischen Ost und West, was auch der Name bedeutet. Wenn man so will, kann man die Ukraine auch als den Teil Russlands betrachten, der entschlossen ist, sich von dem russischen Knoten zu lösen, wie er sich nach den 1990er Jahren entwickelt hat. Wenn die Ukraine dabei erfolgreich ist, werden sich weitere Länder für diesen Weg entscheiden. Es ist immer wieder beeindruckend zu sehen, wie sich die Ukraine gegen den russischen Kurs wehrt: Alles besser als das!

Russifizierung nach Ehrenberg

Der westliche Liberalismus aber hat kein Gespür für den zivilen Unterbau, der das “freie Spiel der gesellschaftlichen Kräfte” erträglich macht und reguliert. Wie könnte er also für das völlige Fehlen einer Zivilgesellschaft in der Sowjetunion empfänglich sein? Auch der Westen hat ein Problem, denn durch den rein kalkulatorischen Umgang mit den Menschen schwindet auch im Westen das öffentliche und anonyme Vertrauen ineinander und in die Institutionen, und alle damit verbundenen menschlichen Qualitäten verflüchtigen sich langsam. Die Menschen werden zu Funktionen in einer Megamaschine und ihre Verantwortung wird durch Protokolle verletzt. Der Westen selbst sieht nicht, wie sehr seine eigene Gesellschaft noch dank der gegenseitigen Verantwortung funktioniert, die leider nicht gepflegt wird. Sowohl der Neoliberalismus als auch der Neostalinismus regieren die Gesellschaft durch eine totale Berechnung der sozialen Kräfte. Die moralischen Kräfte werden in beiden Gesellschaften so weit wie möglich ausgeklammert.

Die von Ehrenberg vorgeschlagene Lösung besteht in dem, was er als Russifizierung bezeichnet (siehe vorheriger Beitrag). Die Grammatik der Sprache der Liebe, des Appels und der Antwort, des Angesprochen- und Unterstütztwerdens, muss eine neue Gesellschaft in Ost und West verwirklichen. Er kann es Russifizierung nennen, weil es eine Anwendung der gegenseitigen Liebe der Brüder und Mütter der russischen Klöster und Kirchen in der Mitte der Gesellschaft ist. Die Grammatik der Liebe muss in den Bereich der harten Gesellschaft eintreten 23.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben russische Schriftsteller und Philosophen sowie westliche (jüdische) Gelehrte dies versucht (siehe vorheriger Beitrag). Hier gibt es ein ungenutztes Reservoir für Ost und West. Beide brauchen es dringlich, sowohl um Frieden im Innern zu praktizieren als auch um Frieden in ihrer Grenzregion, in der Ukraine, zu schaffen.

aus den Mitteilungen 2023-08

  1. Sie werden hier zur gleichen Zeit veröffentlicht, statt nacheinander wie auf der Website einer Kirchengemeinde in Delft. Sie wurden ebenfalls leicht bearbeitet und mit Fußnoten versehen. 

  2. Noble, D.F., 1997. Die Religion der Technik. New York: Penguin Books S. 11. 

  3. In Ehrenbergs Band I, Östliches Christentum, von 1923 weist Aksakow auf die Rollenverteilung zwischen Kaiser und Volk hin. Das Volk akzeptiert die Allmacht des Staates, lebt aber sein eigenes Leben abseits davon im weiten Land. Der Staat ist nicht mehr als äußerer Schutz, K.S. Aksakow, Ausgewählte Schriften, in Hans Ehrenberg, 1923. Östliches Christentum, Oskar Beck München 88, ff.  2

  4. Armstrong weist auf diese Bedeutung des fünfmaligen islamischen Gebets jedem Tag hin, Armstrong K., 1995. A History of God - 4000 years of Judaism, Christianity and Islam, Ambo, Amsterdam (Orig. 1993). Kuran weist darauf hin, dass nach dem islamischen Erbrecht nicht mehr als ein Drittel des Landes in der Familie zusammenbleiben darf in der Vater - Sohn Linie; der Rest wird aufgeteilt. Dies ist eine Maßnahme gegen den Großgrundbesitz im Oströmischen Reich, siehe Kuran, T., 2011. The Long divergence: how Islamic Law held back the Middle East. Princeton University Press. 

  5. Siehe Moore, R.I., 2000. Die erste europäische Revolution, 970-1215, Blackwell Publishing, Oxford. 

  6. Siehe Rosenstock-Huessy, E., 1989. Die Europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, Moers, Brendow (Orig. 1931). 

  7. Vgl. Rosenstock-Huessy, Die Furt der Franken, in E.Rosenstock-Huessy, E., Wittig, J., 1998. Das Alter der Kirche, in: Agenda, Münster, S.463 ff. (Orig. 1928). 

  8. Siehe Moore, R.I., 2000. Die erste europäische Revolution, 970-1215, Blackwell Publishing, Oxford. 

  9. Siehe Rosenstock-Huessy, E., 1989. Die Europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, Moers, Brendow (Orig. 1931). 

  10. Siehe K.S. Aksakow, Ausgewählte Schriften, in Hans Ehrenberg, 1923. Östliches Christentum, Band I, Oskar Beck München 88, ff. 

  11. Karsawin weist in Der Geist des Russischen Christentums auf die All-einheit von Gott und Mensch hin, das die Möglichkeit des Bösen in der Liebe einschließt.
Bulgakow wendet sich in Kosmodizee gegen den eschatologischen Charakter der katholischen Kirche im Westen, der eine dualistische Tendenz verrät. Selbst die Möglichkeit des Falschen und Bösen ist in der aufopfernden Liebe des Vaters und des Sohnes enthalten und umfasst, siehe Ehrenberg, Östliches Christentum, Band II, S. 314 ff. bzw. S. 462 ff.  2

  12. Für die deutschen Leser: Mehr als 10 Jahre lang haben die Steuerbehörden in den Niederlanden durch Profiling mit Hilfe von Algorithmen Tausenden von Menschen zu Unrecht Leistungen für Kinderbetreuung und ähnliches vorenthalten, auf die diese Menschen Anspruch hatten, was dazu führte, dass Menschen aus ihren Wohnungen vertrieben wurden, viele Ehen zerbrachen und Kinder außer Haus gesetzt wurden, alles wegen Schulden und Geldmangel. 

  13. In zwei bereits zitierten Bänden mit dem Titel Östliches Christentum, erschienen 1923 und 1924, lässt Hans Ehrenberg russische Schriftsteller, Philosophen und Theologen zu Wort kommen. Sowohl der erste als auch der zweite Band enthalten ein Nachwort von Hans Ehrenberg. Der erste Band und das erste Nachwort beschäftigt sich mit der Europäisierung Russlands, der zweite mit der Russifizierung Europas. Ehrenberg hat gemeinsam mit aus Russland emigrierten Theologen und Philosophen studiert, ist so Teil ihrer Diskussionen geworden und will mit diesen beiden Bänden in Worte fassen, was diese beiden Gesellschaften, die russische und die westeuropäische, einander zu sagen haben (siehe auch Hans Ehrenbergs Auseinandersetzung mit dem “Östlichen Christentum”, Gedanken eines ökumenischen Visionärs, Nikolaus Thon, in Franz Rosenzweig und Hans Ehrenberg, Bericht einer Beziehung, Haag & Herchen, 1986, S. 150 - 194). Meines Wissens hat sich ein solches Experiment nicht wiederholt, abgesehen von dem Dialog zwischen Amerikanern und Russen, der von Clinton Gardner während des Kalten Krieges initiiert wurde. Darüber ist jedoch wenig verschriftlicht, siehe Clinton C. Gardner, Beyond Belief, White River Press, 2008. 

  14. Florenski beschreibt diese Freundschaft und Brüderlichkeit als sehr offen und intim. Dabei verweist er auf den ungerechten Verwalter aus Lukas 16: Als der ungerechte Verwalter von seinem Chef wegen Misswirtschaft zur Rechenschaft gezogen wird, macht er sich Freunde unter seinen Untergebenen, indem er deren Schulden reduziert. Man kann dies als strategisches Verhalten ansehen. Aber laut Florenski sollten sich die Menschen im sozialen Leben so verhalten: Im Bewusstsein der eigenen Sünden entschuldigen und decken wir die Schulden der anderen zu, siehe An den Wasserscheiden des Denkens, S. 274 ff. in Östliches Christentum. 

  15. Florenski, Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit, in An den Wasserscheiden des Denkens, editionKONTEXT, 1994, S. 75 ff. 

  16. In seinem Nachwort zu Band II von Östliches Christentum weist Ehrenberg darauf hin, dass die östliche Orthodoxie johanneisch geprägt ist, weil sie geistig auf die Gesellschaft einwirkt; dies im Gegensatz zum Katholizismus, der durch Regeln, und zum Protestantismus, der durch Rationalität auf die Gesellschaft einwirkt. Das rechte Handeln ist nicht gesetzlich geregelt wie im Kirchenrecht und nicht logisch abgeleitet wie im Protestantismus des 19. Jahrhunderts (man denke an die Philosophie Kants), sondern das rechte Handeln findet seine Orientierung dank eines geistigen Appells, einer geistigen Macht. Wie im Johannesevangelium der Geist Christi die Richtung weist, so ist die lebendige Sprache der grammatischen Methode die Macht, die das freie Spiel der sozialen Kräfte lenkt. Zu dieser Interpretation von Ehrenbergs Östlichem Christentum siehe auch Rudolf Hermeier, Hans Ehrenberg und der Osten, in: Jenseits all unseres Wissens wohnt Gott, Brendow Verlag 1986, S.21 - 44. 

  17. Winkler, H.A., 2011. Größe und Grenzen des Westens - Die Geschichte eines unvollendeten Projekts, LEQS No. 13/2011, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1762586, (26-4-2021). 

  18. Fukuyama, F., 2011. Die Ursprünge der politischen Ordnung, Exmouth House, London. 

  19. Rosser, G., 2015. The Art of Solidarity in the Middle Ages - Guilds in England 1250-1550, Oxford, Vereinigtes Königreich. 

  20. Rosser, The Art of Solidarity in the Middle Ages - Guilds in England 1250-1550, 2015, 59. Die Worte aus Matthäus 12, 46-50 werden oft in den Satzungen von Zünften und Bruderschaften zitiert: “Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Er wies auf seine Jünger und sagte: “Sie sind meine Mutter und meine Brüder. Denn jeder, der den Willen meines Vaters im Himmel tut, ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.” 

  21. Marshall Goldman, The Pitfalls of Russian Privatisation, in Challenge , Vol. 40, No. 3 (Mai-Juni 1997), S. 35-49 Taylor & Francis. 

  22. Ebd. 

  23. Kroesen J.O., 2015. Towards Planetary Society: the Institutionalisation of Love in the work of Rosenstock-Huessy, Rosenzweig and Levinas, in Culture, Theory and Critique, Taylor and Francis 56:1, DOI: 10.1080/14735784.2014.995770, S. 73-86.