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Otto Kroesen zu Judaism despite Christianity

Glaube, Hoffnung und Liebe -
und der Dialog zwischen
jüdischem und christlichem Leben

März 2005

Lieber Michiel, lieber Maarten und liebe Renate, lieber Stefan,

Ihr wisst, dass ich lieber ein Buch in die Hand nehme, als Fernsehen schaue. Ihr wisst auch, dass ich das nicht nur so tue, sondern dass ich Leben versuche zu spüren und zu finden in der Zeit, in der wir leben. Was ist es eigentlich, was wir tun? Wohin soll es gehen? Und das gegen den Hintergrund einer langen Geschichte, worin wir Menschen durch Schaden und Schande nur langsam ein bisschen weise geworden sind. Die Erfahrungen aus der Vergangenheit und die Worte, die Menschen dafür gefunden haben, weisen uns die Richtung. Wenn ich mich nicht zurückhalten kann und darüber etwas sage, und vielleicht zu viel sagen will, sehe ich einen Blick in euren Augen, der sagt: “Wird wohl sein! Der ‚Alte’ hat schon wieder etwas zu sagen. Aber sein Bücherlesen hat kein Ende. Er hat schon auch ein paar geschrieben, und er weiß immer noch nicht, was er wissen will. Und vor allem studiert er in den Büchern von Rosenstock-Huessy, wovon er einige schon viermal gelesen hat.”Und ihr habt den Schluss daraus gezogen, alle drei, dass ihr lieber etwas Praktisches tun möchtet. Und das ist geworden Medizin, Verwaltung und Management, und Ziviltechnik. Und doch habe ich nie das Gefühl gehabt, dass ich mit dem Namen “der Alte” weggesetzt und abgetan bin. Über diesen Namen habe ich immer lachen müssen und ihr auch. Denn es klang und klingt immer auch etwas von Würdigung hindurch. Aber: wo er, der Alte, nur mit seinen Gedanken dabei ist, das setzt ihr um in etwas Praktisches und etwas Technisches. Aber es sind alle drei technische Richtungen, die ihr erwählt habt, die ins Menschenleben eingreifen und stattfinden in einer Umgebung, wo schon allerhand Leute darüber etwas zu sagen haben. Daran erkennt man, dass durch die Generationen hindurch sich doch die Inspiration fortbewegt. Und umso mehr, weil ihr seht, wie eure Mutter sich um das Schicksal anderer kümmert und das, anders als ich, am liebsten auch so praktisch wie möglich. Damit klingt ihre Stimme mindestens so stark in eurem Leben wie die meiner “Weisheiten”.

Immerhin, ganz ohne diese “Weisheiten” geht es auch nicht. Auch ihr ererbt allerdings eine Welt von der vorigen Generation; übrigens eine, die nicht so ganz gut dran ist, obwohl es für euch einen guten Platz in dieser Welt gibt, aber früher oder später seid ihr dran, diese Welt an die folgende Generation weiterzugeben, und ihr hinterlasst diese Welt dann am Schluss entweder ein bisschen besser oder ein bisschen schlechter. Ich hoffe, dass ihr diese Welt in vollen Zügen genießt und teilt in der Vitalität eurer Generation. Aber sich um Menschen zu kümmernnennt es Liebeund da zu sein für Menschen, ist auch für euch wichtig: ihr setzt euch für etwas ein. Und ja, wofür? Das ist immer die Frage. Was ist sinnlose Betriebsamkeit und Windmacherei und was ist wirklich wichtig und entscheidend? Was kommt in der Zukunft auf uns zu, das unseren Glauben braucht? Mit diesen drei Fragen haben wir schon drei Merkmale des Menschenlebens benannt, die ihr nicht von euch selbst aus habt: 1. Du setzt dich für etwas ein. 2. Das soll dir wichtig genug sein. 3. Es soll etwas sein, woran du glauben kannst. Fast unmerklich werden diese drei Merkmale von Mensch zu Mensch überliefert, sodass auch ihr mitmachen wollt mit allen dreien: du hoffst vollauf zu leben; du setzt dich liebevoll für andere ein; du glaubst an eine Zukunft, die du näher zu bringen hilfst. Die Bibel spricht über Glaube, Hoffnung und Liebe und meint dann genau diese drei Eigenschaften (u. a. 1. Korinther 13). Über diese drei menschlichen Lebenskräfte möchte ich vor allem in diesem Brief sprechen.

Das hat an erster Stelle mit euch zu tun, aber auch mit dem Anlass dieses Briefes (Anlass, nicht Ursache, denn früher oder später hätte ich so etwas doch für euch tun müssen). Der Anlass ist, dass eine Gruppe Menschen sich beschäftigt mit der Frage, wie eine wichtige Stimme aus der Vergangenheit hörbar werden kann für eine neue Generation. Eine Stimme, die neue Orientierung freigelegt hat, und die auf neue Weise Erfahrungen zur Sprache gebracht hat, so unerhört, dass diese Stimme selber unerhört zu bleiben droht. Diese Gruppe hat sich die Frage gestellt: können wir mit eigener Stimme diese Stimme zur Sprache bringen, so dass eine neue Generation sich dafür interessieren könnte? Eigentlich müsste das also darin resultieren, dass diese neue Generation selber die Büchern von Rosenstock-Huessy (ihr wisst, dass es um diese Stimme geht) in die Hand nimmt. Ich erwarte nicht gleich, dass ihr das tun werdet. Vielleicht passiert das noch einmal, aber später, wahrscheinlich viel später. Vorläufig kann es besser so bleiben, dass ich sie gelesen habe, und dass ihr etwas Praktisches tut. Aber vielleicht kann ich mit meiner wie auch immer beschränkten Weisheit wenigstens helfen, dem Praktischen die gute Richtung und Tragfähigkeit zu geben. Ein jeder oder jede macht mit seinem oder ihrem Leben seine oder ihre eigene Musik, aber alle Musik ist aufgebaut, wie ihr wisst, aus Dreiklängen. Der Dreiklang, den ich zur Sprache bringen will, ist der von Glaube, Hoffnung und Liebe. In allen Tonarten können die zusammen stimmen. Aber sie können auch gegeneinander laufen. Darauf werden wir noch kommen. In der Bibel steht eine Stelle, wo gesagt wird, dass wir Gott lieben sollen mit all unsrer Kraft, mit unserem ganzen Herzen und mit unserem ganzen Verstand (Deuteronomium 6:5). Was dort aber von Gott gesagt wird, das kann man auch vom Leben sagen: Lebe mit all deinen Kräften, mit deinem ganzen Herz und mit deinem ganzen Verstand. Mit all deinen Kräften: dass du dich wirklich auslebst im Leben, dass das Leben nie langweilig wird, dass du es genießt und all deine Energie daran gibst. Mit deinem ganzen Herzen: dass du dich einsetzt und dabist für deine Geliebte und alles was der Liebe wert ist, dass du dafür stehst mit deinem ganzen Wesen und nicht wegzukriegen bist. Mit deinem ganzen Verstand: dass du bei dem allem nachdenkst und immer wieder abwägst, wie es weitergehen soll, was der Mühe wert ist, deine Liebesenergie daran zu geben, wo du Ja und wo du Nein zu sagen hast, was zum Heil und was zum Unheil führt, kurz: woran du glaubst!

Was du von Gott sagen kannst, kannst du auch von dem Leben sagen, nämlich, dass du es lieb haben sollst, mit deiner ganzen Kraft, deinem ganzen Herzen, und deinem ganzen Verstand. Wenn du so lebst, dann lebst du in Gott. Vorige Generationen haben ihren Glauben oftmals wie ein Gemälde an die Wand gehängt. Ihr Leben stimmte nicht immer oder meistens nicht überein mit ihrem Glauben, aber das Gemälde hing doch da, wie eine Art Erinnerung. Eine Art Warnung, nicht zu weit zu gehen. Was dem Leben fehlte, sollte dann der Gang zur Kirche und der Glaube wieder gutmachen. Auch auf diese Weise gab der Glaube Orientierung. Es gab eine Aussicht auf eine andere Welt, die kontrastierte mit unserer Wirklichkeit. Und das wirkte dynamisch. In diesem Sinne war der Glaube immer mehr als ein Gemälde an der Wand. Generation nach Generation hat sich dadurch inspirieren lassen, um immer wieder diese Welt umzuwerten. Irgendwie wirkt das heute nicht mehr so. In unserer Zeit ist uns allen, euch so gut wie eurer Eltern, ein große Wandlung widerfahren: wir sind in das Gemälde hineingegangen! Es scheint wohl, als wäre das Gemälde von der Wand gefallen oder verschwunden, aber eigentlich sind wir, ganz wie wir sind, in den Rahmen dieses Gemäldes hineingeschritten. Wir glauben nicht mehr so sehr an Gott (das Gemälde an der Wand anschauen), aber wir leben in Gott (oder auch nicht, selbstverständlich, aber dann eben leben wir auch nicht). Unser Anspruch ist nicht so sehr die Welt zu ändern, sondern viel mehr dass wir anders leben wollen in dieser Welt. Unser Schlagwort ist nicht “später besser”, sondern “heute anders”. Wir wollen Lebensqualität, und das wird nun angedeutet und ausgefüllt mit den Worten Glaube, Hoffnung, Liebe.

Glaube, Hoffnung und Liebe also. Darüber möchte ich gerne etwas sagen, und das hat auch damit zu tun, dass ich, als die Aufgaben damals in der Gruppe verteilt wurden (wer schreibt über was?) den Dialog zwischen Rosenstock-Huessy und Rosenzweig über jüdisches und christliches Leben gewählt habe. Was das mit Glaube, Hoffnung und Liebe zu tun hat, wird euch hoffentlich im Rest dieses Briefes klarwerden. Diese zwei haben darüber um 1920 (von 1913 bis irgendwo um 1923) korrespondiert, also wie wir in Briefen. Später hat diese Korrespondenz zu dicken Büchern geführt, zum “Der Stern der Erlösung” von Rosenzweig und unter anderen zu der “Soziologie” von Rosenstock-Huessy. Dieser Briefwechsel fand statt in der Zeit, in der die Wandlung anfing, von der ich eben sprach und an der auch wir noch immer Anteil haben. In der Zeit der zwei Weltkriege des vorigen Jahrhunderts fiel das Gemälde, das bis dann “Gott” oder “Glaube”, hieß, von der Wand. Was bis dahin geschieden vom Leben für sich stand, musste nun gelebt werden. Denn in der Krise dieser zwei Kriege mit all ihrem Blutvergießen, ihren Gräueln, ihrer Gleichgültigkeit und ihrem Schrecken, sind alle schönen Worte verdorben worden. Von nun an kann kein Mensch mehr schöne Worte äußern und dann erst sehen, ob auch so gelebt wird. Man kann sie nicht mehr an die Wand hängen und so dann und wann mal anschauen. An erster Stelle geht es darum, wie du lebst, und wenn das richtig ist, weiß dein Herz dafür auch die passenden Worte zu finden. Und erst dann werden diese Worte auch glaubwürdig. Ihr wisst das vielleicht selber nicht, aber dass ihr schon diese Anschauung vom Leben habterst tun, dann redenist schon eine Folge davon, was in dieser Zeit der Weltkriege passiert ist. Es ist die Folge eines Jahrhunderts mit zwei Weltkriegen und maßlosen Schrecken. Rosenzweig und Rosenstock-Huessy haben das alles vor ihren Augen sich ereignen sehen; sie haben, wie Rosenzweig sagt, gesehen, wie die Bühne um sie herum abgebrochen wurde. Damals, so sagt Rosenzweig, hat Gott zu uns gesprochen. So will dieser Brief euch auch helfen zu lauschen auf eine Stimme, die schon in eurem Leben erklingt.

Illusion und Wirklichkeit

Die Wirklichkeit erfahren wir nie ohne weiteres. Wir haben immer ein Bild von dem, was wirklich ist. Jeder Zeit hat so seine eigene Bilder. Und keiner von uns will die großen Bilder oder Erfahrungen und Wahnvorstellungen unserer Zeit verpassen. Das war in jeder Zeit so. Meine Eltern wollten nach dem Zweiten Weltkrieg dabei sein beim Wiederaufbau, das hieß: hart arbeiten, eine Familie gründen, Verantwortung tragen in Kirche, Staat und Gesellschaft. Ich selber wollte dabei sein bei der Gesellschaftskritik von links stehenden Intellektuellen, beim Protest gegen Apartheid und gegen die Atomwaffen und bei der Beteiligung beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Nach dem Ersten Weltkrieg war vor allem in Deutschland, aber auch in den Niederlanden die Jugendbewegung sehr stark: mit Uniform, in Lagern, beim Einfügen in die Disziplin und in die Einheit der Gruppe, beim gemeinsamen Singen. Man ging naiv auf in dem Erlebnis der Gruppeneinheit; anfänglich war das noch nicht so gewalttätig wie es später werden würde. Was ihr nun erlebt bei den Pfadfindern ist etwas ganz anderes als in der Anfangsperiode der Pfadfinder. Gut, ihr lauft noch in Uniform, so dann und wann, aber wichtiger ist für euch, dass ihr da Freunde findet, ein Bier trinkt, einander ein bisschen neckt. Jede Generation aber hat das Empfinden, dass das Wirkliche in ihrer Zeit passiert: der letzte Film, das neueste Computerspiel. Ein 10 Jahre alter Film macht schon einen altmodischen Eindruck. Auch in den Betrieben wird alle fünf Jahren (wahrscheinlich in kürzerer Zeit) eine neue Managementmethode versucht. Die macht dann einen großen Aufschwung, bis eine andere kommt.

Allerdings, ich rede darüber geringschätzig, aber so meine ich es nicht ganz. Denn wir kommen nicht ohne solche Bilder aus. Man hat nun einmal Anteil an einer bestimmte Kultur, und man macht mit mit der Mode und eben auch dann, wenn man nicht mitmachen will, wird man doch noch beeinflusst. Manchmal geht das so weit, dass es sehr ernüchternd ist, wenn man merkt, dass es nur um ein Bild ging, nicht um die Wirklichkeit. Vor kurzem zum Beispiel haben Großbetriebe riesige Beträgen investiert in das UMTS Telefonsystem. Sie haben Millionen investiert und sind dann fast zu Grunde gegangen, als es sich herausstellte, dass die Technologie komplizierter war als erwartet, und als der Konsument nicht so begierig war, weil es ökonomisch nicht sehr gut ging. Dennoch war jedermann in dieser Zeit überzeugt, dass man diese Chance nicht verpassen dürfte. Es schien, dass alles davon abhing. Womit die Leute in einer Zeit sehr ernsthaft beschäftigt sind, darauf schaut die nächste Zeit zurück (und hinunter!), als wäre es nur ein Wahn und man zuckt mit der Schulter. Aber umso mehr soll man sich fragen, ob die eigene Zeit dann schon mit “der Wirklichkeit” zu tun hat. Wo findet man die Wirklichkeit, wenn es nur Bilder gibt?

Etwas wie “Wirklichkeit” findet man da, wo die Illusion wie eine Seifenblase zerplatzt. Wo man enttäuscht wird in seinen Erwartungen. Wo eine Liebe misslingt. Wo das Studium nicht das bringt, was es versprochen hat. Wo Sicherheit und Festigkeit im Leben wegfällt. Da wird “die Bühne um dich herum abgebrochen”. Da wird man auf sich selber zurückgeworfen, wie man sagt. Eigentlich stimmt dieser Ausdruck nicht, denn in solchen Momenten hat man auch sich selber verloren. Alles was man in gutem Vertrauen zu realisieren hoffte, ist plötzlich dahin. Du kannst nicht mehr einfach vertrauen in deine Umgebung und auf das, was nun einmal da ist. Wenn die Illusion abgebrochen wird, ist nichts mehr selbstverständlich und es versteht sich nichts mehr von selbst. Dann wird sich die Frage aufdrängen, was einen dann wohl so anspricht, dass man sich dafür einsetzt, auch wenn alles gegen einen ist und nichts garantiert ist. Wenn nichts mehr selbstverständlich ist, kommt die Frage auf einen zu, wofür man dessenungeachtet steht, und wohl so, dass es alle Kräfte von einem auffordert, es wirklich zu machen, eben auch wenn es noch nicht wirklich ist.

Zurück zu Rosenzweig und Rosenstock-Huessy und die Illusionen ihrer Zeit. Beide waren jüdischer Herkunft, aber “assimilierte” Juden. Im 19. Jahrhundert hatten erst in Frankreich, später auch in Deutschland und anderswo in Europa Juden zum ersten Mal die vollen Bürgerrechte empfangen. (Vordem war das nicht so! Ausgenommen die reichen sefardischen Juden in Amsterdam, die schon in 1578 Bürgerrechte hatten). Und die meisten haben davon vollen Gebrauch gemacht, weil nach ihrem Empfinden sie nun zum ersten Mal Anteil nehmen konnten an der europäischen Kultur, bei der sie immer draußen gestanden hatten. Aber das bedeutete, dass die religiöse Überzeugung der Juden darunter litt. Dazu kam, dass erst 1870 Deutschland eine Einheitsstaat geworden war, als Bismarck die vielen deutschen Fürstentümer in einen Staat zusammengefasst hatte. Viele in Deutschland hatten das Gefühl, dass von nun an Deutschland auch etwas bedeuten würde auf der Weltbühne. Dieser neue Aufschwung hatte auch auf ökonomischem und technischem Gebiet seine Auswirkung. Die Deutschen waren stolz darauf, und Menschen wie Rosenzweig und Rosenstock-Huessy, obschon sie jüdischer Herkunft waren, hatten ganz und gar Anteil an diesem Empfinden. Andere Völker waren genau so nationalistisch. Das ging ziemlich weit, denn es war nicht nur Nationalismus im Sinne von Stolz auf sich selbst, aber man fühlte sich eben auch den anderen Völkern überlegen. Der ökonomische Wettkampf verstärkte das gegenseitige Misstrauen, weil jede Nation Absatzmärkte suchte und die anderen nur als Konkurrenten betrachtete. Ein Flickwerk von Verträgen und dazugehörenden Versprechungen zur gegenseitigen Unterstützung im Falle eines militärisches Konflikt hatte zur Folge, dass, als die Spannungen stiegen, nach der Ermordung des österreichischen Kronprinzen in Sarajevo (durch einen serbischen Nationalisten), der Erste Weltkrieg ausbrach. Alle Parteien meinten, dass sie nach einer kurzen und heftigen Anstrengung als Sieger aus diesem Konflikt hervorgehen würden. So stark war das Selbstgefühl.

Das war aber nicht so. Die ersten Enttäuschungen führten zu einer Verdoppelung der Anstrengungen an allen Seiten, und die Folge war, dass alle Völker Europas letztendlich zerschunden und desillusioniert aus diesem Krieg hervorgingen. Und dabei entfesselte dieser Krieg auch noch die russische Revolution mit all ihren Schrecken. Die russischen Revolutionäre wollten auf dem Trümmerhaufen der nationalen Staaten eine weltumfassende ökonomische Ordnung aufbauen. Da würde nicht mehr die Sprache gelten von Ehre, nationalem Selbstgefühl, von moralischen Idealen wie Freiheit und Vernunft, sondern nur noch die Sprache der Zahlen und der Bedürfnisse, die Sprache des Proletariats. Aber die russischen Revolutionäre schufen damit faktisch eine neue Illusion. Auch in dieser Weise konnten sie jedoch nicht anders als daran mitzuwirken, dass alle Illusionen gesprengt wurden. “Die Bühne wurde abgebrochen”. Und dann entdeckte man die Wirklichkeit, alle Illusionen waren vorbei, mit aller Gewaltsamkeit, wozu die Menschen im Stande sind, auch man selbst, weil man in seine eigenen Illusionen lebt und sich auslebt! Endlich siehst du den Anderen ohne Illusionen, was Levinas später das nackte Gesicht des anderen Menschen nennt, das zu mir spricht und an mich appelliert. Deswegen ist das auch die Entdeckung der Sprache selber, die Entdeckung der Möglichkeit, mit dem anderen wirksam zu sprechen. Du siehst nun den anderen als einen Anderen. Das ist was Rosenzweig und Rosenstock-Huessy Offenbarung nennen, die Liebe, die die Schöpfung der Welt erneuert, das Gebot, dass die Not der Stunde abwendet. Menschen, die nichts miteinander zu tun haben und ihre eigene Illusionen auf den Anderen projizieren, entdecken durch Schaden und Schande endlich, wenn der andere sich ihnen offenbart, die Möglichkeit miteinander zu sprechen und so eine gemeinsame Sprache zu finden. Wenn die Bühne aller Illusionen abgebrochen ist, spricht Gott. So sagt es Rosenzweig. Die Liebe zu dem Verletzlichen, das ungeschützt da liegt, macht dich wacher als du vorher warst, bewusster, engagierter, tiefer, intensiver.

Auch Rosenzweig und Rosenstock-Huessy selber sind durch die Kriegserfahrung ihrer Illusionen beraubt worden. Rosenstock-Huessy hatte immer das Ideal gehegt, ein deutscher Gelehrter zu werden. Das passte auch zu ihm, denn seine Kenntnisse waren außerordentlich. Hätte er gewollt, dann hätte er mit seinen Sachkenntnissen Buch nach Buch schreiben können. Aber dieses Gelehrtenideal war für ihn nun nicht mehr glaubwürdig. Zwar war es nie sein Ziel, Kenntnisse zu sammeln nur um ihrer selbst willen, denn er hatte schon immer gesehen, dass Gelehrsamkeit dazu dienen soll, der Gesellschaft die Richtung zu weisen. Aber von nun ab wurde diese Forderung viel direkter. Der deutsche Gelehrte war schon seit der Reformation ein wichtiger politischer Faktor als Ratgeber der deutschen Fürsten und Politiker. Aber nun waren diese Gelehrten entweder im Krieg ums Leben gekommen oder hatten durch ihre Loyalität mit einer veralteten Ordnung ihre Glaubwürdigkeit verloren. Sie waren nach dem Krieg nicht mehr im Stande, die Nation zu führen. Die Leute, die einfachen Menschen, waren desorientiert infolge des Krieges. Alles woran sie bisher geglaubt hatten und woran sie sich festhielten, schwebte nun in der Luft. Entwurzelt und verwildert, würden sie im Stande sein verrückt zu werden, wenn sie nicht eine gemeinsame Orientierung oder wenigstens so etwas wie gegenseitige Anerkennung wiederfanden. Streitbare Sozialisten, enttäuschte Arbeitslose, revanchelüstigen Veteranen, auf ihr eigenes Herkommen stolze Katholiken und Protestanten, sie sollten nicht so sehr eine gemeinsame Lebensanschauung finden, sondern viel mehr lernen miteinander zu sprechen, d. h. einander erstmals als Gesprächspartner sehen zu lernen und mitzumachen. Das ist das Thema der Sprachlehre Rosenstock-Huessys: nicht das Finden der richtigen Interpretation der Wirklichkeit, aber das Öffnen von Ohren und Herzen für das, was ein anderer zu sagen hat. Und deshalb wird Rosenstock-Huessy nicht Gelehrter, sondern Erwachsenenbildner. Dieser Name hört sich heute etwas abgegriffen an. Heute würden wir vielleicht “Bildungsarbeiter” sagen, aber das klingt noch schlimmer. Das riecht nach weichherzigen Sozialarbeiter, der zusammen mit Freiwilligen eine kleine Zeitung für die Nachbarschaft machen, in der nichts steht, und der unverbindliche Freizeit-Aktivitäten veranstaltet, um die Zusammengehörigkeit zu fördern. Aber so dann und wann findet auch in unserer Zeit noch Bildungsarbeit statt, wobei es darum geht, Gruppen, die fast zusammenstoßen, zueinander umzuwenden und sich gegenseitig zu öffnen. Darum ist es der Sprachlehre Rosenstock-Huessys zu tun: Sprechen lernen (und Hören), lernen, verwandelt zu werden. Seitdem hat Rosenstock-Huessy es sich versagt, viele gelehrte Bücher zu schreiben. In seinen Büchern, die er aber dennoch schrieb, spricht er eigentlich fortwährend zu Menschen in direkter Sprache. Er fordert sie heraus, er appelliert an seine Leser, er versucht manchmal auch zu schockieren. Oft spricht er einen kurzen und kräftigen Satz, und wenn der Leser noch auf der Suche ist nach Atem und Verständnis, geht Rosenstock-Huessy schon weiter mit etwas anderem, wieder mit einem Hammerschlag. Dieser eine Satz soll dem Leser genügen, nicht um zu akzeptieren, dass es so ist, wie er sagt, sondern um sich selbst zu fragen, ob es vielleicht so sein darf (wir Menschen haben allerhand emotionalen Widerstand neuen Gesichtspunkte gegenüber) und selber die Frage weiter zu untersuchen und Ja oder Nein zu sagen. Das ist die Bildungsarbeit, auf die Rosenstock-Huessy immer zielt: fortwährend die Fragen zu stellen “Wo stehst du?”, “Wofür stehst du? “ und “Wofür setzt du dich ein?” und “Woran glaubst du mit Leib und Gliedern?”, oder, um nochmals diese Formulierung zu gebrauchen, mit deiner ganzen Kraft, mit deinem ganzen Herzen und mit deinem ganzen Verstand. Was ist dein Anteil an der Wahrheit und an der Sprachkraft der Menschen?

Auch Franz Rosenzweig ist diese Umwandlung widerfahren, vielleicht noch stärker als Rosenstock-Huessy. Er hatte die deutsche Philosophie gründlich studiert und war ein großer Hegelkenner. Über ihn hatte er auch ein Buch geschrieben, dass später veröffentlicht worden ist: “Hegel und der Staat”. Später wird er entdecken, dass die Philosophie alle möglichen Konstruktionen der Wirklichkeit machen kann. In der Konkurrenz der philosophischen Systeme weiß man nie, was “echt” ist. Man wird das auch nie herausfinden nur durch Nachdenken über die Dinge. Du tust besser daran, dich zu fragen worauf du echt bezogen bist, und von dieser Bezogenheit aus denkst du dann über die Dinge nach. Im Juli 1913, in einem nächtlichen Gespräch, macht Rosenstock-Huessy Rosenzweig darauf aufmerksam, dass ihm bis dahin eine solche echte Bezogenheit fehlte. Er steht nicht mit seiner vollen Person für etwas. Er hat, so wie Rosenstock-Huessy das sagt, keinen “Standpunkt”. So ein Standpunkt ist nicht etwas, was man nach Wahl und Belieben einnehmen kann. So redet man heute über Standpunkte. Man wählt einen und verteidigt den dann. Hier aber ist mit “Standpunkt” der Punkt gemeint, wo du nicht wegzukriegen bist, wofür du mit deinem ganzen Wesen stehst, weil es etwas ist, dass dein ganzes Wesen in Beschlag nimmt. Rosenzweig wird das später im “Stern der Erlösung” die Offenbarung der Liebe nennen. Liebe wird in dir wachgerufen durch das, wodurch du echt angesprochen bist, oder besser: durch jemanden. In dem Feuer, dass damit entzündet wird, vergisst du dich selber, und so findest du die Bezogenheit auf etwas das außerhalb deines eigenen Zentrums steht und das von größerem Gewicht ist als dein eigene Existenz. Liebe, Offenbarung und Gebot fangen an dasselbe zu bedeuten. Alle drei entziehen sie dich deinem trotzigen Ich, deinem eigenen Denkerhaupt, das immer wieder neue Gedanken und immer wieder neue Auffassungen produziert, und auch deiner eigenen Willkür, womit du tust, was dir gefällt. Liebe ist nicht deine Wahl, aber Liebe hat dich in ihrer Macht, ist stärker als du! Darum ist sie auch so eine überraschende Offenbarung und gewaltige Erfahrung. Und eben darum ist wirkliche Liebe auch ein Gebot: du bekommst einen Auftrag, du wirst gebunden. Wenn du für etwas stehst, durchdringt das dein ganzes Wesen und damit gehst du dann auch an die Arbeit.

Diese entscheidende Kraft der Liebe zu entdecken, ist nun für Rosenzweig in der Geschichte dem jüdischen Volk, Israel, zugefallen. Von der Zeit, als es aus Ägypten auszog, in Palästina eine marginale Existenz führte, nach Babel ins Exil geführt wurde und nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 am Rande der europäischen Geschichte gestanden hat, bis auf heute, steht das jüdischen Volk für die Offenbarung von Liebe und Gebot. Vielleicht haben alle Völker Opfer gebracht, um ihren Eigensinn durchzusetzen. Das Volk Israel hat seinen Eigensinn selber geopfert. Das Gebot der Liebe überwand den trotzigen Eigensinn. So wird Rosenzweig, was er von Haus aus auch schon war: Jude. Das ist nicht etwas, was er gewählt hat. Er entdeckt, dass es das ist, wofür er steht und wo er steht. Auch er wendet sich nach dem Kriege auf seine Weise der Bildungsarbeit zu. Er eröffnet ein jüdisches Lehrhaus, d. h. auch er sammelt keine Gelehrsamkeit, aber er schafft eine Gelegenheit, wo einfache Menschen entdecken können, wer sie sind und wo sie stehen. Und zu diesem Zwecke ruft er die jüdische Tradition ins Leben.

Einige Hauptmomente aus dem Briefwechsel

Trotz und Scham

In deiner eigenen Entwicklung wiederholst du eigentlich die Geschichte des ganzen Menschengeschlechts. Das klingt vielleicht fremd, aber im Altertum waren die Menschen viel naiver als heute. Sie waren intelligent und vernünftig genug, aber in dem was sie waren und was sie wollten und was sie zu sagen hatten, waren sie sich selber viel selbstverständlicher als wir. Du bist, was du bist. Dabei stellt man keine Fragen. So wie du aufgewachsen bist und das was du darin mitbekommen hast, das hat dich gebildet. Das ist deine Identität; keine Diskussion darüber. Selbstverständlich. In diesem Stadium bist du noch nicht erschrocken von der möglichen Gewalttätigkeit, die du ausüben kannst, weil du den anderen noch nicht ins Angesicht geschaut hast. Du lässt dich nicht überwältigen, aber du hältst die Initiative. Du hast einen harten Kern in dir selber. Denn du wirst dich nicht entkoppeln lassen von dir selber und dir alle deine Sicherheiten nehmen lassen. Stark ausgedrückt: du willst nicht sterben. Wer sich wandeln kann, sich wirklich eingreifend ändern kann, lässt ein Stück Tod in sich selber zu, denn er verliert ein Stück von sich selbst, ein Stück womit er verbunden war, und das tut weh. Er hat auf einmal den harten Kern verloren. Liebe kostet etwas und tut weh. Die Offenbarung der Liebe kostet etwas, denn darin verliert man sich selbst. Die Tragik der griechischen Helden ist eigentlich, dass sie die Schmerzen der Liebe nicht in sich selber hineinlassen. Mag sein, dass sie oftmals, durch eigenes Tun, ihrem Untergang entgegengehen, sie halten ihren Kurs und lassen sich innerlich nicht wandeln. Das dramatische Moment in ihren Leben besteht in ihrem Untergang. Das dramatische Moment aber im modernen Roman besteht eben in der inneren Wandlung der Hauptperson. Er oder sie hat eine größere Liebe entdeckt, hat sich geöffnet, hat einen neuen Wert entdeckt, und dieser neue Wert und diese neue Liebe werden an der Hauptperson offenbar. Das dramatische Moment besteht dann darin, dass sich plötzlich herausstellt, dass es noch eine Alternative gibt für das was ist. Es genügt schon, wenn ein misslungenes Lebenwie oft bei Dostojewskiin einem anderen Licht erscheint, nur weil die Hauptperson, entstellt und verkrüppelt, dennoch etwas Gutes will. Wenn man es so sieht, ist Trotz ein Vorstadium von Erwählung. Wo Helden und Heroen im Altertum in sich selber beharren, ergeben Propheten und Märtyrer sich der Liebe und dem Gebot, wofür sie stehen, auch wenn es sie alles kostet. Jeder kann eigentlich diese Wandlung in seinem eigenen Leben empfinden: der trotzige Wille zu sein wer du bist (“Man soll mich nehmen, so wie ich bin!”), und zur gleichen Zeit die Empfindung, dass ein Appell an dich gerichtet wird anders zu werden, mit einem Surplus an Liebe etwas anzupacken, wogegen du dich innerlich noch widersetzt, meistens weil du es nicht wagst. Liebe überwindet immer einen innerlichen Widerstand.

In dem nächtlichen Gespräch im Jahr 1913, dass ich schon nannte, wurde Rosenzweig durch Rosenstock-Huessy ertappt auf diesem Trotz, der die Ergebung verweigert. Er wollte sich eigentlich nicht engagieren, nicht vollauf auf etwas bezogen hineingeraten, aber in seinem Denken Abstand halten. Rosenzweig fühlte sich selbst auch in diesem Sinne ertappt, und deswegen war das Gespräch viel tiefer bei ihm eingeschlagen, als es sich Rosenstock-Huessy damals vorstellen konnte. Eigentlich musste er Rosenstock-Huessy recht geben. Dadurch hatte dieses Gespräch einen langen Nachklang bei ihm. Nachdem er dann seinen eigenen Standpunkt gefunden hatte oder besser wiederentdeckt hatte, war er zu sehr befangen in seiner Scham, um darüber mit Rosenstock-Huessy zu sprechen. Es war Rosenstock-Huessy, der den Briefwechsel begann, 1916, nachdem er vernommen hatte, dass Rosenzweig sich entschlossen hatte, Jude zu sein, zu bleiben. Er wollte wissen warum. Viele Briefe werden eigentlich nur benutzt, um um den heißen Brei herumzureden. Langsam lenkt Rosenstock-Huessy das Gespräch hin auf die Frage, die er eigentlich besprechen will. Auch er hatte die Empfindung, dass bestimmte Dinge noch nicht gesagt werden konnten, weil Rosenzweig dafür noch keine Worte finden konnte. Er fragt explizit danach, ob es in dieser Hinsicht eine bestimmte Scham gibt bei Rosenzweig. Ein Mensch braucht Zeit, bevor er oder sie sagen kann, was sie echt bewegt und beschäftigt. Eine neue Liebe bekennen bedeutet eine Selbstüberwindung.

Abraham, Agamemnon und Christus

Einen Höhepunkt und Wendepunkt erreicht der Briefwechsel, als Rosenstock-Huessy sich gehen lässt und sich sehr kritisch äußert über die Synagoge, die erstarrt und unfruchtbar am Rande der Geschichte stehen geblieben ist. Christus, so sagt er, hat sich selber ergeben und aufgegeben, wo Abraham nur seinen Sohn bereit war zu opfern. Als Rosenzweig auf diese Weise mit den klassischen Vorwürfen der Kirche an die Synagoge überschüttet wird, überwindet er seine Scham und geht zum Gegenangriff über. Rosenstock ist allerdings aus hartem Holz geschnitzt, so sagt er, aber er weiß nicht, worüber er redet. Er sieht Abraham als einen Heiden, der den harten Kern in seiner eigenen Existenz nicht aufgeben will und dafür lieber seinen Sohn preisgibt. So ist es aber am allerwenigsten. Rosenstock-Huessy würde gut daran tun, Abraham und Agamemnon nicht zu verwechseln. Agamemnon ist der Führer der Griechen, der seine Tochter Iphigenie opfert um die Fahrt nach Troja machen zu können. Das ist nach Herkommen der alten Stammeshäupter, die um ihre Autorität und ihren Willen durchzusetzen das Leben ihres ältesten Sohnes den Göttern opferten, was natürlich einen ungeheueren Eindruck machte: nun war es ernstwusste ein jeder! Mit Abraham ist es eine ganz andere Geschichte. Abraham ist der erste Mensch, der weiß, dass er nicht über die Zukunft seines Sohnes entscheiden darf. Wenn er seinen Sohn aufgibt, gibt er ihn in Gottes Hände. Eben wenn er ihn nicht opfert, “opfert” er ihn erst recht. Er nimmt Abstand von ihm. Er bestimmt nicht seinen Zukunft.

Mehrmals kommt Rosenstock-Huessy in seinem späteren Werk auf diese Geschichte von Abraham und Isaak zurück. Er übernimmt dann immer die Interpretation von Rosenzweig und fügt noch hinzu, dass Abraham durch diese Tat der Vater aller Gläubigen genannt wird. Eben auch der erste Vater in der Geschichte des Menschengeschlechts! Was er damit meint? Man könnte sagen: ein Vater ist ein bekehrter Mann. Ein Mann geht durch dick und dünn und setzt seinen Willen durch mit all seinen Kräften. Das macht ihn zu einem richtigen Mann. Ein Vater schreckt zurück vor der Gewalttätigkeit, die er im Begriff steht auszuüben, und lässt seinem Sohn die Freiheit, gibt ihm eine eigene Geschichte. Er wendet sich um und wird umgewendet und richtet seinen Blick auf eine Zukunft vorbei an sich selbst. Was nach ihm kommt, ist wichtiger als was er selbst getan hat. Diesen Blick zu haben, das heißt glauben. Das ist der Glaube! Und so an deine Kinder zu glauben ist, was Vaterschaft im Kern ist.

Agamemnon, Abraham, Christus, sind zur gleichen Zeit Namen, die drei Lebensformen repräsentieren, die Rosenzweig später ausarbeitet in seinem “Stern der Erlösung”. Der Heide ist der Mensch, der sich das ganze Erbe der Kultur zu eigen macht, der sich auslebt, in dem was er ist, der zentriert ist um den harten Kern seiner eigenen Existenz und seiner eigenen Identität herum. Agamemnon will Troja erobern und wenn das seiner Tochter das Leben kosten soll, dann ist es ihm das wert. Abraham steht für die jüdische Existenz, die Nein zu sich selbst zu sagen weiß, um eine Zukunft möglich zu machen an sich selbst vorbei. Der Jude lässt die Zukunft offen. Gegen jeden, der die Zukunft bestimmen will, gegen den sagt der Jude immer Nein. Kurz und kräftig: wo der Heide ja sagt, sagt der Jude Nein. Das ist das Nein der prophetischen Kritik, die in allem, wofür die Leute sich begeistern, immer wieder Selbstsicherheit und Eigensinn spürt. Der Jude macht nicht mit und wartet. Christus opfert sich selber. Er lässt, um es so zu sagen, nicht die Zukunft, aber sich selbst offen. Konkret bedeutet das: er ändert sich. Er tritt aus sich selbst heraus und so in die Zukunft hinein. Ein Stück der verheißenen Zukunft holt er damit in die Gegenwart hinein. Das Reich Gottes kommt nahe. Der Christ ist darin Christ, dass er immer den folgenden Schritt tut, der das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit näher bringt. Das bedeutet eine fortwährende Entkopplung an sich selbst, immer ein Stück Ja und ein Stück Nein sagen, ohne in einem von beiden aufzugehen. In ihrem Briefwechsel und ihrem späterem Werk nennen darum Rosenzweig und Rosenstock-Huessy die jüdische Existenzform eschatologisch: der Jude steht eigentlich mit seinem “Nein” am Ende der Geschichte. Der Heide steht am Anfang der Geschichte mit seinem unaufhörlichen “Ja” zum Leben. Der Christ vermittelt zwischen beiden, opfert fortwährend ein Stück der Vergangenheit, fängt immer eine neue Zukunft an. Christ kann man also eigentlich nicht „sein”. Man kann leichter Kirchenmensch sein in einer Weise, die mehr verwandt ist mit dem Heidentum als mit christlichem Glauben, nämlich wenn man seine „christliche” Identität verteidigt. Der Christ hat keine Identität. Der Christ lässt ein Stück von sich selbst sterben und fängt ein Stück neues Leben an, immer wird er wiedergeboren, wie das schön biblisch heißt. Damit bildet die christlichen Existenz die Brücke zwischen den beiden Kräften des Anfangs und des Endes.

Neubestimmung von Kirche und Synagoge in der Gesellschaft

Kommen wir nochmals zurück auf das Bild vom Gemälde. Wir sind, so habe ich am Anfang gesagt, in das Gemälde hinein getreten, das bei der vorigen Generationen noch an der Wand hing. Ihr werdet auch bemerkt haben, dass ich in diesem Brief immer schon gesprochen habe über christliches Leben oder christliche Existenz und nicht über den christlichen Glauben. In ihrem Briefwechsel machen Rosenstock-Huessy und Rosenzweig darauf aufmerksam, dass diese Verschiebung eigentlich die Folge ist der französischen Revolution. Die französische Revolution hat zwar den Zentralstaat ins Leben gerufen, der auf vielen Gebieten des Lebens mehr Macht hat als die Obrigkeit von früher. Aber die französischen Revolution hat auch das Spiel der gesellschaftlichen Kräfte freigesetzt. Im gesellschaftlichen Verkehr und in der Ökonomie sollte der Staat seit der französischen Revolution so wenig wie möglich eingreifen. Heute sprechen wir über Globalisierung und über eine Netzwerkgesellschaft, in der so viel Aktoren aufeinander einwirken, dass keine Instanz das Ganze noch unter Kontrolle hat. Auch der Staat ist nur einer der Aktoren geworden, übrigens neben anderen Staaten, neben internationalen Institutionen, wovon überdies viele existieren (die Benelux, die EU, die WTO, die Vereinten Nationen, Multinationals, NGO’s). Diese Netzwerkstruktur wird widergespiegelt auf lokaler Ebene: der Obrigkeitsapparat, ein Betrieb oder eine Unterrichtveranstaltung bestehen auch aus einem Netzwerk. Man kann “die Shell” nicht anrufen. Es gibt auch in diesen Organisationen einen solchen zentralen Punkt nicht mehr. Wenn etwas in unserer Gesellschaft geregelt werden soll, gibt es immer viele Aktoren aus vielen Organisationen, die über die Grenzen ihrer eigenen Organisation hinaus ein bestimmtes Resultat erreichen müssen. Wer etwas tun will, auch wenn es ein Unternehmen ist, alle haben zu tun mit einer fortwährenden Interaktion in solcher Vielfalt. In diesem Chaos von Institutionen und Individuen gibt es ein Miteinander und ein Gegeneinander. Oftmals machen die abstrakten Regeln der Obrigkeit oder allerhand Institutionen die Zusammenarbeit über solche Grenzen hinaus nur schwerer. Ein jeder hat vor allem und in erster Instanz sein Eigeninteresse. Um wirklich etwas auf die Beine zu bringen und ein echtes Problem zu lösen, ist es fortwährend nötig, entweder die Regeln umzustellen oder bei ihrer Umsetzung davon ein bisschen abzuweichen. Es hängt an der Zusammenarbeit von einer Mehrzahl von Aktorenund an der Qualität dieser Zusammenarbeitob wirklich ein Problem gelöst wird. Die Qualität der Gesellschaft kann nicht mehr von einem Punkt aus geregelt und garantiert werden, aber ist abhängig von einem Gegeneinander, Miteinander, Füreinander, das im freien Kräftespiel der Gesellschaft besteht, und von allen diesen Aktoren, die aufeinander angewiesen sind für eine Lösung. Nur wenn genügend Tragfähigkeit vorhanden ist, können gemeinsame Lösungen gefunden werden.

Für die Kirche und die Synagoge als religiöse Institutionen hat diese Netzwerkstruktur große Folgen. In der alten Ständegesellschaft, die überdies zum größten Teil agrarisch war, lebte ein jeder viel mehr auf seiner eigenen Stelle, mit festen Ideen und Überzeugungen. Die von Gott verordnete Obrigkeit sorgte für ein Minimum an Gerechtigkeit, und die Kirche fügte daran Qualität hinzu durch die Geschichte von Barmherzigkeit und Gnade. Einerseits sollte man sich als Mensch einfügen in gegebene Verhältnisse, andererseits sollte man fortwährend suchen nach einer höheren Gerechtigkeit, nach einem Surplus an Güte. Aber das war ein Surplus, das meistens zu tun hatte mit der kleinen Welt des persönlichen Lebens. Die gegebenen Verhältnisse konnte man als Individuum nicht ändern. Die waren einfach da und man hatte damit zu leben. Im freien Kräftespiel der weltumfassenden Gesellschaft von heute gibt es immer weniger feste Verhältnisse, oder, auch die festen Verhältnisse müssen immer wieder von neuem erfunden werden. Damit ist die traditionelle Rollenverteilung zwischen Kirche und Staat, zwischen Recht und Barmherzigkeit überholt. Gesetzgebung ist zu einem Managementinstrument geworden. Oftmals ein sehr unbarmherziges Managementinstrument, z.B. heute die Gesetzgebung in Bezug auf Flüchtlinge und Ausländer. Aber Gesetze können auch barmherziger sein, wie z. B. heute (in den Niederlanden) das neue System von Kostenverteilung bei Operationen, wobei für jede Operation ein Standardbetrag gerechnet wird, unabhängig vom Alter der Pateinten (und also auch unabhängig von dem größeren Bedürfnis an teurer Versorgung). Aber, damit ist der Streit um Recht und Barmherzigkeit nicht mehr verteilt über diese zwei große Institutionen, Kirche und Staat, sondern dieser Streit geht hinein in das Tauziehen einer Vielfalt von Aktoren in einem unübersichtlichen gesellschaftlichen Netzwerk. Niemand hat das Ganze noch unter Kontrolle, aber als Glied in der Kette einer Vielzahl von Netzwerken ist zur gleichen Zeit jedes Individuum auf seine oder ihre Weise mitverantwortlich für bessere oder schlechtere Verhältnisse, abhängig von dem Einflussbereich eines jeden.

Sowohl Rosenzweig wie Rosenstock-Huessy sehen am Anfang des 20. Jahrhunderts diese Gesellschaft vor ihren Augen entstehen. Vor allem Rosenstock-Huessy macht darauf aufmerksam, dass die Verantwortung für die Gestaltung der Gesellschaft nicht mehr bei Kirche oder Staat oder Synagoge liegt, aber beim Individuum, bei dir selber. Dabei ist selbstverständlich, dass auch das Individuum an sich nicht viel erreichen kann und immer angewiesen ist auf die anderen und Tragfähigkeit schaffen muss, um etwas zu realisieren, aber diese Individuen können sich jederzeit umgruppieren, und das ist, was in der modernen Gesellschaft auch faktisch und tatsächlich passiert. Als Glieder einer Vielzahl von übereinander und ineinander liegenden Netzwerken bedürfen solche Individuen der Orientierung. In kleinen und größeren Entscheidungen und Urteilen haben sie etwas nötig wie ein Maß, woran sie ihre Urteile messen können. Das Urteil kann in jeder Situation ganz verschiedenen sein. Manchmal ist es wirklich nötig, sich für sein Eigeninteresse zu entscheiden. Manchmal ist es nötig, außerordentlich kritisch zu sein, auch wenn vorläufig noch nicht die Möglichkeit da ist, diese Kritik umzusetzen. In gegebenen Verhältnissen kann das zu viel verlangt sein, aber doch sind solche Menschen nötig, die Kritik äußern und die das Ungenügen an den gegebenen Verhältnissen lebendig halten. Manchmal ist es auch nötig, einen Mittelweg zu suchen: nicht mitzugehen in gegebenen Verhältnissen, nicht ein kritischer Außenstehender zu sein, sondern einen Weg suchen, auf dem es vorläufig weiter kann, einen Schritt weiter, wobei andere Schritte noch später folgen können. Es wird nicht schwierig sein, in den genannten Alternativen das Erbe von Heidentum, Judentum und Christentum wieder zu erkennen. Je nach der Lage und Lebensphase akzeptiert man bestimmte Verhältnisse und verteidigt sein Eigeninteresse (Heidentumauch das gehört zum Menschsein), oder man steht kritisch an der Seite, um das Verlangen nach einen weit voraus liegenden Zukunft lebendig zu halten (in der Tradition der jüdischen Propheten) oder man sucht den folgenden Schritt in die Zukunft hinein, die vorläufige Lösung, die man in einer fortwährenden Beweglichkeit auch gleich wieder aufzugeben bereit ist (so wie in der Kirchengeschichte). Die Folge ist, dass Individuen nicht mehr exklusiv einer religiösen Gruppe angehören, sondern dass das Erbe einer Vielzahl religiöser Traditionen in unserem Leben und Handeln wieder aufklingt. Du bist ab und zu ein bisschen Heide und dann wieder etwas mehr Christ, dann schon wieder mehr Jude, je nachdem Hoffnung (Erhaltung Heidentum), Liebe (gegen den Strom Judentum) oder Glaube (an den folgenden Schritt Christentum) die Priorität verdienen.

Zwar ist Rosenzweig damit im Grunde einig, aber dennoch geht er nicht so leicht mit in dieser Entwicklung. Er gesteht schon, dass dies die Zukunft ist, aber er macht darauf aufmerksam, dass wir erst am Anfang dieses Prozesses stehen. Und er fürchtet die Säkularisierung, die die Folge ist der Lösung Rosenstock-Huessys. Nicht ohne Grund. In unserer eigenen Zeit kann man immer auch sehen, wie sehr die Leute z. B. “reli-shoppen”, das heißt schnell überall ihre Nase hineinstecken, aber nichts ernst nehmen. An allem gehen sie vorbei. So kann sich die Sprachkraft einer religiösen Tradition leicht verflüchtigen. Und gerade als Jude hat Rosenzweig das Bedürfnis, in Bezug auf diesen Prozess noch einmal die Marge aufzusuchen und Nein zu sagen. Vielleicht darf die Kirche sich auflösen in der modernen Gesellschaft, die Synagoge darf das nicht. Die soll eine erkennbare Größe bleiben. Warum? Es soll bleibend einen Instanz geben, die außerhalb des Wahns des Zeitgeistes und des freien gesellschaftlichen Kräftespiels auf die Vollendung hinweist, auf die Unerfülltheit der Geschichte.

Bis heute, so sagt Rosenzweig, war die Synagoge da, um die Wahrheit des Christentums zu beweisen. Das Volk, das Nein gesagt hatte zu dem Messias, lebte noch immer unter den christlichen Völkern, und das war der Beweis, dass Barmherzigkeit und Gnade nicht nur ein schönes Ideal waren von einer aufgeputzten Kirche, sondern dass vor 2000 Jahren doch wirklich etwas geschehen war. Durch Bekämpfung der Juden konnte man sein eigenes Recht unterstreichen. Mit einer Augenbinde und einem gebrochenen Stab wurde die Synagoge in die Bildergalerien der Kirche hineingestellt. Am liebsten neben den triumphierden Christus. Von heute ab aber, das heißt von dem Anfang des gesellschaftlichen Lebens, das nicht mehr ein Zentrum hat, ist die Synagoge der Beweis der Unwahrheit des Christentums. Was bedeutet das? Wir müssen uns erinnern, dass der Christ immer den folgenden Schritt machen will. Christliches Leben ist stückweise Sterben und stückweise Wieder-zum-Leben-kommen, Schalten zwischen Jude und Heide, zwischen Kritik und Eigeninteresse, zwischen prophetischer Zukunft und dem Status Quo. Sobald der Christ aufhört den folgenden Schritt zu suchen, wird er ein Heide, weil er aufhört sich auf die Zukunft hin zu bewegen. Das Nein der Synagoge, die mit ihrer jüdischen Lebensweise immer noch in der Marge stehen bleibt, erinnert den Christ daran, dass sein Weg noch nicht zu Ende ist. Das ist die Rolle, die Rosenzweig zufolge, bestimmt ist nicht für durch das Judentum inspirierte Individuen, aber für die Synagoge, das heißt für eine Gemeinschaft von Menschen, die jüdisch lebt und sich an das Gesetz hält.

Meiner Meinung nach ist es von großer Wichtigkeit einzusehen, dass in dem Gespräch zwischen Rosenzweig und Rosenstock-Huessy als Jude und Christ die Frage nach Orientierung in der Weltgesellschaft, die sie in ihrem Entstehen vorhersehen, die entscheidende Frage ist. Beide sind hinter dem Stadium, worin sie so etwas wie das Fortbestehen der jüdischen und christlichen Identität suchen. Da hängen keine Gemälde mehr an der Wand, auf die aufgepasst werden soll. Aber nötig ist es schon, intensiv und aufrichtig zu leben.

Merkwürdig dabei ist, dass gewissermaßen Synagoge und Kirche ihre Plätze wechseln. In der Synagoge wurde jüdisches Leben realisiert, allerdings im Getto, aber gesetzestreue Juden hatten nicht so sehr einen bestimmten Glauben, aber viel mehr eine bestimmte Lebensweise. Im Vergleich damit hatte die Kirche immer einen echten Glauben im Sinne einer Vision der Zukunft, obwohl diese Lehre (die Glaubenslehre) noch nicht im Leben realisiert werden konnte. Das war eben die Funktion des Gemäldes an der Wand! Obwohl vielleicht nirgendwo sich das realisierte, was der Glaube eigentlich vorschrieb (was natürlich so absolut nicht wahr ist), konnte man immer noch sehen, wie es eigentlich sein sollte. Und das inspirierte, allerdings, auch einen Schritt weiter zu tun. In der modernen Gesellschaft verschieben sich die Akzente. Mit mehr Nachdruck als in der Vergangenheit geht der christliche Glaube über in ein christliches Leben. Das heißt, was bisher Inhalt der Lehre blieb, wird von heute ab im Leben realisiert, weil heute jeder neue Schritt in meinem eigenen Leben eine Entkopplung bedeutet von mir selbst. Und dort wo der christlichen Glaube seine Verwirklichung sucht, wird es die wichtigste Aufgabe der Synagoge, die Vision des Endes und der Vollendung lebendig zu halten, das was im Leben noch nicht realisiert ist. Es lohnt sich, die Konsequenzen dieser Umkehrung weiter zu bedenken. In unserem Kontext ist es nur merkwürdig. Merkwürdig ist es zum Beispiel, dass die EU in ihrem Verfassungsvorschlag von 2005 Gott nicht nennt, während Israel fast krampfhaft ein jüdischer Staat sein will.

Nochmals Glaube, Hoffnung, Liebe

Das Leben ist eine Entdeckungsreise. Schritt für Schritt geht man weiter dem unerwarteten entgegen. Natürlich gibt es Brüche, und erst wenn einmal ein Problem gelöst ist, stößt man auf das folgende Problem. So ist es der Fall auch mit die Folge von Hoffnung, Liebe und Glaube. In dieser Folge nämlich lernen wir diese Grundzüge des menschlichen Daseins kennen. Hoffnung hat immer zu tun mit dem Erbe der Vergangenheit. Wenn man jung ist, kommt man in eine Welt hinein, die schon geformt ist und geschaffen durch das, was andere davon gemacht haben; das ist die Welt im Modus der Vergangenheit. Nur nach Ablauf der Zeit entdeckt man, was an dieser Welt noch nicht stimmt, wo die Brüche liegen, was noch unfertig und zart und verletzlich ist. Dann findet man seine Liebe! Dann entdeckst du deine Verantwortung, deine Möglichkeit, um mit Einsatz deiner Person einen Beitrag zur liefern. Hast du dich lange genug für etwas eingesetzt, dann lernst du, oftmals durch Schaden und Schande, dass dein Beitrag nicht der einzige war. Dann entdeckst du die Möglichkeit des Glaubens, als Glaube in den nächsten Schritt, und damit auch die Möglichkeit, sich einzuschalten zwischen den neuen Schritt und das, was andere schon in die Welt hinein geschaffen haben.

Diese drei Eigenschaften oder Qualitäten, Hoffnung, Liebe, Glaube, haben alle ein bestimmtes Verhältnis zur Zeit. Hoffnung ist eigentlich zeitlos, oder besser, Hoffnung lebt fortwährend in der Vergangenheit, als wäre die Vergangenheit immerwährend. Liebe hat zu tun mit einer bewussten Entscheidung, mit dem “Gebot der Stunde”. Glauben hat zu tun mit Taktgefühl, mit einem Gefühl für das, was nun an der Zeit ist, mit dem Schritt, der nun getan werden soll und kann. Diese drei Eigenschaften oder Qualitäten gehören zwar zum Erbe aller Menschen, aber dennoch hat die heidnische Existenzform einen spezifischen Affinität mit Hoffnung (volles Leben), die jüdische Existenzform mit der Liebe (oder Verantwortung) und die christliche Existenzform mit dem Glauben (das was nun an der Zeit ist). Nochmals: diese drei Mitgifte Gottes an den Menschen werden im Laufe des Lebens immer von neuem entdeckt. Die eine Entdeckung führt zur anderen. In einem Aufsatz, “Ichthus” (ein altkirchlicher Name für Christus), womit Rosenstock-Huessy antwortete auf das Ende von Rosenzweigs Buch “Der Stern der Erlösung”, legt er viel Nachdruck auf die Bedeutung der entdeckenden Sprache. An dem Leben Jesu macht er diese Entdeckungsreise der Sprache sichtbar. Auch das ist aufs neue ein Schritt weiter im Dialog zwischen diesen beiden, weil Rosenzweig gerade in seinem “Stern der Erlösung” so viel Nachdruck gelegt hatte auf das, was er “heilige Sprache” nennt. Die Bibel spricht die Sprache der Liebe und hat eine eigene Sprache entwickelt, um die Liebe zum Ausdruck zu bringen. Die hebräische Sprache ist gebildet durch die Offenbarung, die darin ihren Ausdruck findet. Man soll diese Sprache kennenlernen, um richtig zu empfinden, wie der Gott der Offenbarung zu uns spricht von Liebe und Gebot. In der Sprache des Alltags kann das nicht richtig gesagt werden. Die gewöhnliche, säkularisierte Sprache kann diese Tiefe nicht erreichen. So Rosenzweig. Man sieht wie Rosenzweig und Rosenstock-Huessy auch über die Sprache im Dialog sind.

Mein Wunsch ist, dass ihr in dem Leben, das ihr führt, vollauf weitergehen möget von Entdeckung zu Entdeckung in immer intensiveres Leben: von Hoffnung zu Liebe, von Liebe zum Glauben. Ohne übrigens Liebe und Hoffnung beim Glauben zu verlieren. Mögt ihr mal entdecken, dass es eine heilige Sprache gibt, eine Sprache von Aposteln, Märtyrern und Propheten, die eine Tiefe hat, die unsere Umgangsprache nicht erreichen kann. (Ich muss aber hinzufügen, dass, obwohl Rosenstock-Huessy das Recht der entdeckenden Sprache gegenüber der heiligen Sprache betont, seine eigene Sprache so besonders und tiefgehend ist, dass es für mich bisweilen zu einer heiligen Sprache geworden ist). Möge diese Sprache für euch auch einen Brunnen des Lebens werden.

Euer Vater