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Otto Kroesen: Was bewegt die Ukrainer?

Was bewegt die Ukrainer?

Heldentum

Seit dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine 2022 bin ich erstaunt über die Überzeugung, den Mut und das Engagement der Ukrainer, sich aus dem Griff Russlands zu lösen. Selenskyj gab den Ton an, als er das amerikanische Angebot, aus der Ukraine zu fliehen und in den Vereinigten Staaten Asyl zu suchen, ablehnte und sich entschloss zu bleiben. Otto Kroesen Doch damit gab er offenbar der ganzen Nation eine Stimme, denn eine große Zahl von Menschen aus allen Gesellschaftsschichten mobilisierten sich, um Russland mit allen Mitteln zurückzudrängen. Der Mut der Zivilbevölkerung hielt die russische Armee einen Monat lang in Bucha auf, etwa 25 km von Kiew entfernt, also etwa so weit wie die Reichweite der russischen Geschütze. Woher kam dieser Mut?

Diese Frage ist umso wichtiger, als in der öffentlichen Debatte manchmal bezweifelt wird, ob es überhaupt ein ukrainisches Volk gibt. Offenbar denkt nicht nur Putin so. Das sagte er auch Präsident Bush, als dieser 1990 Russland besuchte. Bush reiste daraufhin aus Russland über die Ukraine zurück und forderte das ukrainische Parlament auf, trotzdem in der Russischen Föderation zu bleiben 1. Oft wird über den Konflikt zwischen Russland und dem Westen über die Köpfe der Ukrainer hinweg gesprochen. Ich selbst habe mich in meinem letzten Beitrag für diesen Rundbrief auch dessen schuldig gemacht und versuche nun, dies wiedergutzumachen. Haben die Ukrainer eine eigene Stimme? Gibt es so etwas wie ein Volk, die Ukrainer? Dabei ist die Sprache nicht entscheidend. Viele Menschen sprechen sowohl Russisch als auch Ukrainisch, und Russisch war immer die Amtssprache und die Sprache für offizielle Anlässe und damit die urbane Sprache. Die Bauern sprachen Ukrainisch. Auch die ethnische Zugehörigkeit ist nicht ausschlaggebend, denn Ethnizität ist ein fließender Begriff, der sehr davon abhängt, wie man sich selbst sieht. Aber was ist dann entscheidend? Die eigentliche Antwort darauf ist - ganz im Sinne von Rosenstock-Huessy - das, was die Menschen bewegt. Der Geist baut den Körper. Für Rosenstock-Huessy ist das Volk kein ethnischer Begriff. Volk, das heißt, Menschen in einem noch ungeformten Zustand, wie das griechische „laos“, von dem dann das Wort „Laie“ kommt. „People“ sagen die Engländer, was wiederum von ‚populus‘ abgeleitet ist und das Gleiche bedeutet. Erst wenn Menschen von einem gemeinsamen Geist ergriffen werden, wenn sie unter einem gemeinsamen Imperativ stehen, werden sie zu einem Volk. Dies drückt auch der Titel des Buches über die Geschichte der Ukraine von Jaroslaw Hryzak „The Forging of a nation“ aus: Die Hitze des Kampfes um eine neue Existenz ist es, die ein Volk zu einer nationalen Einheit schmiedet 2.

Vergleich mit der Entstehung der Niederlande

In dieser Hinsicht gibt es eine Parallele zwischen der Entstehung des niederländischen und des ukrainischen Volkes. In der Grundschule musste ich noch lernen, dass es 100 v. Chr. Friesen, Franken und Sachsen gab „in unserem Land“. Seht, wie der Mythos funktioniert! In die Vergangenheit zurückprojiziert, war dieses Land schon lange „unser Land“. Als die Hunnen dort ihre Dolmen bauten, taten sie das auch in „unserem Land“ - wahrscheinlich war das den Hunnen selbst nicht bewusst. In Wirklichkeit gab es selbst zu Beginn des 80-jährigen Krieges in den Niederlanden im Jahr 1568, dem Konflikt mit Spanien, dem die Nation ihre Existenz verdankt, so etwas wie ein nationales Bewusstsein nicht. Die Menschen waren auf verschiedene Regionen, Provinzen, verteilt, und diese waren wie Bauerngemeinden und Städte direkt dem Kaiser unterstellt, und ja, ein paar Grafen dazwischen. Es gab wenig Kontakt zwischen ihnen. Es gab kein Parlament, oder vielleicht doch, seit Philipp der Gute 1464 erstmals alle 17 Provinzen der Niederlande und Flanderns zusammengerufen hatte. Es gab auch einen Bund der Hansestädte. Aber es gab keine gemeinsame Verantwortung für die Vergangenheit und die Zukunft insbesondere des Gebiets, das heute die Niederlande sind. Erst die Utrechter Union von 1579 brachte dies mit sich: Dort vereinbarten die sieben nördlichen Provinzen, dass sie keinen separaten Frieden mit Spanien schließen würden. Ein solches Versprechen war schwer einzuhalten, wenn dann die Spanier vor den Toren der eigenen Stadt standen und wenn man sich mit anderen Städten wenig solidarisch fühlte, weil es noch keine echte niederländische Nationalität gab. Aber in der Hitze des Gefechts hat dieses Versprechen trotzdem gehalten. Und weil sich die Städte damals so verhielten, wurden die Niederlande zu einem Nationalstaat. Gleichzeitig war dies immer noch von großem Misstrauen begleitet, denn die Stadt Amsterdam war im Alleingang so reich und stark wie der Rest der Niederlande zusammen. Daher mussten viele Kompromisse geschlossen werden. Einer dieser Kompromisse war, dass Amsterdam zwar die Hauptstadt sein durfte, die Regierung aber in Den Haag angesiedelt war. Ich glaube, die Niederlande sind das einzige Land auf der Welt mit dieser Regelung. Auch hier baute der Geist den Körper.

Es gibt eine weitere Parallele in der niederländischen Geschichte zu dem, was die Ukrainer durchgemacht haben. Laut dem ukrainischen Historiker Plokhy sind die Ukrainer in Osteuropa das einzige Volk, das es nicht zur Staatlichkeit geschafft hat 3. Erst ab 1990 gelang dies schließlich (hoffentlich). Davor versuchten die ukrainischen Bauern auf alle möglichen Arten zu überleben, indem sie sich unter der Herrschaft der Adligen/Großgrundbesitzer der polnisch-litauischen Gemeinwesen oder unter dem Habsburger Reich hielten, und später bildeten die Kosaken einen Staat. Viele Bauern, die dem polnisch-litauischen Regiment entkommen wollten, suchten Zuflucht bei den Kosaken in der Steppe. Wir stellen sie uns auf Pferden vor, aber die hatten sie damals nicht - sie kämpften zu Fuß, aber sie konnten kämpfen. Sie behaupteten sich als unabhängiger Staat im östlichen Teil der heutigen Ukraine, bis Katharina die Große ihr Gebiet im späten 18. Jahrhundert im Russischen Reich einverleibte. Im 19. Jahrhundert existierte die ukrainische Nation nur noch in den Köpfen und Herzen von Dichtern, Historikern und Philosophen 4. Erst zwischen 1918 und 1920, nach dem Ersten Weltkrieg, konnten die Ukrainer unter Skoropadskyjs Führung einen unabhängigen Staat bilden, doch auch dieser wurde schnell von der diesmaligen Sowjetunion geschluckt. Zunächst ließ die Sowjetunion dem ukrainischen Nationalismus freie Hand, weil man hoffte, dass dies zur Akzeptanz des Kommunismus beitragen würde. Dies war eine Entscheidung für eine endogene Entwicklung, die zur Integration in das neue kommunistische Reich führen sollte.

Das Polnisch-Litauische Gemeinwesen, dann das Habsburgerreich, dann Russland, dann die Sowjetunion - so ging die ukrainische Bauernschaft von Hand zu Hand, immer unter der Kontrolle höherer Mächte. Im Jahr 1990 erklärte die Ukraine als erste der Sowjetrepubliken ihre Unabhängigkeit, die anderen folgten bald. Damit gab die Ukraine zu diesem Zeitpunkt den Ton an, denn mit dem Austritt der Ukraine aus der UdSSR war das Schicksal der Sowjetunion auch für die anderen Republiken besiegelt. Auch hier gibt es eine Parallele zur niederländischen Nation. Bis zum Beginn des Achtzigjährigen Krieges im Jahr 1568 waren auch die Niederländer (ich ziehe es vor, noch nicht von Nation zu sprechen) eher Objekte als Subjekte der Geschichte. Die Niederlande gehörten einfach zum Deutschen Reich. Im Jahr 1533 ernannte Karl V. seinen Sohn Philipp zum Regenten über die Niederlande. Damit gerieten die Niederlande unter die Kontrolle des Spanischen Reiches, über das Philipp als König Philipp II. die Herrschaft ausübte, auch wenn er selbst auf dem spanischen Thron saß. Wenn man als Land an ein anderes Land verschenkt wird, kann man irgendwann auf die Idee kommen, auch das Gegenteil zu tun. Schließlich kann man sich ja auch selbst umsehen, ob man nicht einen anderen Kapitän findet. Im Jahr 1581 verzichteten die Generalstaaten der Niederlande (das Parlament) mit dem „Plakkaat van Verlatinghe“ auf das Spanische Regime. Es ist nicht so, dass sie keine höhere Autorität akzeptierten, sie konnten nicht einmal auf sie verzichten. Man war der Meinung, dass man nicht anders handeln konnte. In der niederländischen Nationalhymne werden die Niederländer immer noch als treue Diener des spanischen Reiches dargestellt, das sie „immer geehrt“ haben. So distanzierten sich die Niederlande bescheiden und entschlossen von Philipp II. Sie wussten, dass es eigentlich nicht möglich war, als eigenständiger Staat zu überleben. Zwei Jahre lang suchten die Niederlande nach anderen Mächten und boten sich zunächst dem französischen König an, der ablehnte, und versuchten es dann zwei Jahre lang mit Leicester als Vertreter der englischen Regierung. In ähnlicher Weise muss nun die Ukraine - das ist die Parallele, auf die ich mich beziehe - Schutz bei einer anderen Macht suchen, um zu überleben, und zu diesem Zweck ist die Europäische Union die Lösung.

Europa und Eurasien

Man kann Timothy Snyder zustimmen, dass die europäischen Staaten etwas hochmütig sind, zumindest die europäischen „Großmächte“ 5. Sie verhalten sich wie weise alte Männer, die wohlüberlegte Kriterien der guten Regierungsführung, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Korruptionsfreiheit anwenden und so andere Staaten beurteilen, ob sie sich ihnen anschließen dürfen. Aber dieselben europäischen Staaten waren einst Imperien. Sie konnten sich dank ihrer Kolonien als Supermächte in der Welt behaupten. Die Einheit Europas, so Snyder, kam erst in den Blick, als die Kolonien wegfielen. Dann mussten sie Zuflucht in dem einen Europa als Ersatz-Supermacht suchen. Gegen Snyders Sichtweise lässt sich freilich etwas einwenden. Denn dieselben europäischen Großmächte, Imperien hin oder her, haben sich zweimal bis aufs Blut bekämpft, und der moralische Imperativ, dies nicht ein drittes Mal zu tun, musste institutionell besiegelt und garantiert werden. Diesem Umstand verdankt die Europäische Union ihre Geburtsstunde. Denn nur die gegenseitige politische und wirtschaftliche Verflechtung konnte dies hinreichend garantieren. Dennoch ist seine Vision eine gute Erinnerung an die Notwendigkeit eines größeren Zusammenhalts, den Europa vor allem den jungen Staaten in Europa bieten muss. Außerdem ist es wahr, dass sich die europäischen Nationalstaaten ihrer gegenseitigen Abhängigkeit nicht ausreichend bewusst sind. Sie können sich ohne einander nicht halten, tun aber gleichzeitig so, als ob man - so Snyder - in die Europäische Union hineingehen und gleich wieder herauskommen kann. Putin kontrastiert diesen inkohärenten Pluralismus mit Eurasien. Die russische Kultur sei noch jung und vielversprechend; der Westen sei nach seiner 2000-jährigen Geschichte alt und dekadent. Russische nationalistische Denker wie Iljin und Dugin geben in diesem hierarchischen und imperialistischen Denken den Ton an. In seiner Idealform, so Iljin, schließt Eurasien Europa ein. Dies sei eine viel bessere Garantie für die Zukunft Europas. Ein klientelistisches System mit Russland im Zentrum hielte dann alles zusammen. Hier steht der kollektivistische Mensch Russlands dem westlichen Einzelgänger gegenüber, der keinen Halt hat.

Es lohnt sich, Snyder etwas länger zuzuhören, wenn es um das Verhältnis Russlands zum Westen geht. Sowohl der Westen als auch Russland haben sich der Politik der Unvermeidlichkeit schuldig gemacht, wie Snyder es nennt. Unvermeidlichkeit bedeutet: Es gibt keine Alternative zur Wirtschaftspolitik, wie sie unter anderem von Europa verfolgt wird. Es ist auch keine größere Erzählung über das Warum und Wozu der Existenz erforderlich. Ein ideologiefreier Pragmatismus kann alle Probleme lösen und alle Bedürfnisse der Menschen befriedigen. Merkel in Deutschland und Rutte in den Niederlanden verkörpern wohl diesen Ansatz. Im Grunde genommen müssen die Menschen dann nur noch dem folgen, was Rosenstock-Huessy den Konjunkturzyklus nennt: Alle politischen und wirtschaftlichen Anstrengungen zielen darauf ab, einen ausreichend hohen Lebensstandard für die Verbraucher zu erhalten. Rutte sagte einmal, dass größere gesellschaftliche Visionen wie Elefanten sind, die nur die Sicht behindern. Das fällt unter das, was Snyder die Politik der Unvermeidlichkeit nennt. Man muss vorankommen und seinen Vorteil suchen und am besten alles so arrangieren, dass die Bedürfnisse aller befriedigt werden. Es besteht keine Notwendigkeit für eine größere Geschichte. Das ist nur ein Elefant. Rosenstock-Huessy erhebt denselben Vorwurf, den Snyder dem Westen und Russland macht, bereits 1942 gegenüber den Amerikanern. Sie sehen den Zweiten Weltkrieg, der sich in Europa abspielt, aus der Ferne und nehmen ihn nicht ernst. Vielmehr bewegen sie sich mit dem Strom, um den Lebensstandard aufrechtzuerhalten, aber damit entziehen sie sich dem historischen Auftrag, dem sie sich stellen müssen. Sie müssen in diesen Konflikt eingreifen, so versucht er sie dazu zu drängen 6.

Snyder macht auch Russland für die Politik der Unvermeidlichkeit verantwortlich. Bis 2012 konnte Putin den westlichen Ansatz, die Politik der Unvermeidlichkeit, die Wohlstand bringt, mittragen. Dann drohte er die Wahlen zu verlieren und ging sehr schnell zu einer feindseligen Darstellung des Westens, des russischen Nationalismus und des Wir-Sie-Denkens über. Denn die Politik der „Ewigkeit“ ersetzte nun die Politik der „Unvermeidlichkeit“. Damit meint Snyder die heroische Größe des russischen Volkes, die Feindschaft gegen die westliche Dekadenz und die Tragödie des Wir-Denkens, das alle Probleme immer den anderen in die Schuhe schiebt. Snyder schreibt sein Buch im Jahr 2018. Er drückt die Befürchtung aus, dass etwas Ähnliches auch im Westen, zum Beispiel in Amerika, passieren könnte. Denn seiner Meinung nach führt ein automatischer Weg von der Politik der Unvermeidlichkeit zur Politik der Ewigkeit. Daher auch der Untertitel seines Buches „Der Weg zur Unfreiheit“. Ich erwähne dies, weil seine Argumentation auch hier Parallelen zu Rosenstock-Huessy aufweist. Letzterer schrieb in den 1920er Jahren über den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland. Menschen, die in ihrer Existenz klein gehalten werden - und Rosenstock-Huessy verweist vor allem auf die Mechanisierung der Arbeit in der Industrie und die damit einhergehende Verkürzung der Zeitperspektive auf die alltägliche Existenz - suchen Kompensation in Allmachtsphantasien. Reduziert auf Zahlen in der industriellen Maschinerie, flüchteten sie sich in das Wir-Gefühl der Arbeiterklasse im Sozialismus oder in das Wir-Gefühl nationaler Größe im Nationalsozialismus 7.

Zahl oder Vollzählig

Wie konnte es so weit kommen? Woher kommt dieser Weg von der Unvermeidlichkeit in die Ewigkeit? Das ist das Problem und die Frage, um die herum Rosenstock-Huessy seine Soziologie geschrieben hat. Wenn man nur dem Konjunkturzyklus folgt und keine höhere Mission kennt, wird man automatisch zu einer Nummer in der sozialen Maschinerie. Man hat keine Geschichte mehr, kein Warum und Wozu. Entweder ist man eine Nummer in der gesellschaftlichen Existenz und in der industriellen Produktion, oder man ist als Mensch vollzählig mit einem Ursprung und einer Bestimmung. Deshalb erzählt die Soziologie von Rosenstock-Huessy die Geschichte, die Zuordnung, die erworbenen Eigenschaften aller geologischen Schichten der Menschheitsgeschichte 8.

Seit der Französischen Revolution und dem Aufkommen des Nationalstaates hat sich auch die industrielle Produktion entwickelt. Beide sind miteinander verwoben. An die Stelle des Agrarstaates mit allenfalls häuslicher Produktion, in dem die Arbeit immer vor Ort stattfindet, treten große Genossenschaften, die den Menschen die Einbettung in Familie und Dorf nehmen. Ein Industriestaat erfordert Größenvorteile und gegenseitiges Vertrauen um der gegenseitigen Zusammenarbeit willen, während ein Agrarstaat, in dem die Produktion vor Ort stattfindet, dies weniger erfordert. Auch für Hrytsak, dessen Buch der internationalen Einbettung der ukrainischen Geschichte und ihrer Verflechtung mit der Geschichte des Westens, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht, mehr Aufmerksamkeit schenkt als die erwähnte von Plokhy, ist ein wichtiges Element der Geschichte der Ukraine 9. Die Ukraine wandelt sich Schritt für Schritt von einem Agrar- zu einem Industriestaat. Die ukrainischen Bauern erlebten die Entwurzelung des Ersten Weltkriegs, den Holodomor von 1932-1934 unter dem Stalinismus, die Erschütterungen des Zweiten Weltkriegs, das heimliche Wachsen der ukrainischen Unabhängigkeit unter dem Sowjetkommunismus 10. Shelest tat als Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Ukraine viel, um die verschiedenen Strömungen zusammenzubringen: Er verband den sozialistischen Weg mit ukrainischem Patriotismus und mit der Aufmerksamkeit für die ukrainische Kultur. 1972 ging er damit für Moskau zu weit und wurde nach Moskau gerufen 11. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs eine Generation heran, die über ihre lokalen ethnischen Bindungen hinaus denken konnte. Die industrielle Entwicklung braucht eine Zivilgesellschaft, argumentiert Hrytsak. Die Zentralisierung der materiellen Produktion mag gut gehen, aber in der kreativen Wirtschaft ist die Zentralisierung ein Stolperstein 12. Ich habe dasselbe über afrikanische Länder geschrieben: Die ethnischen Unterschiede und das Misstrauen untereinander, kombiniert mit den klientelistischen Netzwerken, die in afrikanischen Ländern oft noch entlang von Stammeslinien verlaufen, stehen der Zusammenarbeit, dem gegenseitigen Vertrauen und damit der wirtschaftlichen Entwicklung im Weg 13. Eine Produktion in großem Maßstab ist ohne Größenvorteile einfach nicht möglich. Insbesondere der Teil der Ukraine, der zum Habsburger Reich und zu Polen gehörte, Galizien, hat mehr Erfahrung mit einer bürgerlichen Gesellschaft. Russland musste seine fähigen Leute immer aus dem Westen beziehen und brauchte daher die Ukraine für seine eigene Entwicklung. Der Staudamm am Dnjepr zum Beispiel wurde mit Unterstützung eines amerikanischen Ingenieurs gebaut. Der Bau dauerte von 1927 bis 1931. Stalin sagte dazu 1924: „Die Verbindung von russischem revolutionärem Schwung mit amerikanischer Effizienz ist das Wesen des Leninismus in der Partei- und Staatstätigkeit“ 14. Gleichzeitig misstrauten die Parteifunktionäre aber auch konsequent den Ukrainern im Staatsapparat 15. Als irgendwann die eigene Kultur der Ukraine anerkannt wurde (z. B. nach 1924), wollte man damit erreichen, dass die kommunistische Ideologie leichter akzeptiert werden konnte. Als sich die ukrainischen Bauern jedoch später weigerten, die Landwirtschaft in Kolchosen zu kollektivieren, wurde diese tolerante Haltung ins Gegenteil verkehrt. Stalin bestrafte diese Weigerung mit der organisierten Hungersnot, dem Holodomor von 1932-1934, der insgesamt 4 Millionen Opfer forderte 16. Diese Hassliebe zwischen Russland und der Ukraine spiegelt sich immer in der ukrainischen Geschichte wider, auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Handelskrieg gegen die Ukraine im Juli 2013 und der Druck Russlands auf Janukowitsch, den Vertrag mit Europa nicht zu ratifizieren, sind Beispiele dafür. Als Janukowitsch die Unterzeichnung eine Woche vor der offiziellen Unterzeichnung absagte, führte dies zu den Maidan-Demonstrationen 2013/2014. Plokhy weist darauf hin, dass Russland ohne die Ukraine zu einer Minderheit inmitten einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit in der Russischen Föderation wird. Ohne die Ukraine verlieren diese Länder den Glauben an die Zukunft der Russischen Föderation.

Der Charakter der ukrainischen Nation

Im Laufe der Geschichte gab es in der Ukraine viele gegenseitige Kämpfe, zwischen Ostukrainern, die eher sowjetisch orientiert waren, und Westukrainern, die eher das habsburgische Erbe übernommen hatten, zwischen Polen und Ukrainern, Ungarn und Ukrainern, zwischen Juden und Ukrainern, immer und immer wieder. Oft hatten die Juden eine Stellung als Verwalter für die abwesenden Großgrundbesitzer, und das warf die entsprechenden Probleme auf. In vielerlei Hinsicht wurde immer wieder der Versuch unternommen, die ukrainische Nationalität auch im ukrainischen Staatskontext zu institutionalisieren. Anderen Nationalitäten gelang dies besser und sie konnten dabei oft auch ihre Interessen besser vertreten. Angesichts all der blutigen Konflikte und Auseinandersetzungen auch zwischen den ukrainischen Volksgruppen kann man sich fragen, wie es dennoch möglich war, dass seit 1990, also seit mehr als 30 Jahren, diese verschiedenen Gruppen in einem einheitlichen staatlichen Kontext zusammenarbeiten? Hrytsak weist darauf hin, dass die verschiedenen Gruppen alle in den Gulag-Lagern unter Stalin reichlich vertreten waren 17. Dem gleichen elenden Schicksal unterworfen, wurden Gespräche untereinander geführt, Konfrontationen bereinigt und Wunden benannt und geheilt. Diese Generation legte den Grundstein für eine andere Zukunft und machte es möglich, dass sich später eine neue Generation von Politikern, damals unter der Führung von Krawtschuk, in der Überzeugung zusammenfand, dass diese Geschichte hinter sich gelassen werden musste 18. Außerdem hatte eine neue Generation junger Menschen eine gute Ausbildung erworben und sah nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Chancen für eine weitere Entwicklung. Hrytsak weist wiederum darauf hin, dass die rein industrielle Produktion in einem engen hierarchischen Rahmen funktionieren kann, während die Kreativwirtschaft auf freie Meinungsäußerung und offenen Austausch von Meinungen und Ideen angewiesen ist. All dies sind Erklärungen für das Engagement der Ukrainer und die Überzeugung, mit der sie im Konflikt mit Russland für sich selbst eintreten. Die Dynamik dieses Engagements wird dadurch jedoch nicht ausreichend erklärt. Für jede der europäischen Revolutionen nennt Rosenstock-Huessy einen spezifischen Druckpunkt, der diese Revolution unausweichlich macht. Für die Russische Revolution nennt er beispielsweise die Freilassung der Leibeigenen im Jahr 1861. Die Leibeigenen wurden zwar freigelassen, erhielten aber kein Land und hatten daher, da sie nun nicht mehr unter der Schirmherrschaft der Bauern standen, keine wirtschaftliche Zukunft. Für die italienische Stadtrevolution nennt er die Zerstörung Mailands durch Barbarossa. Für die Ukraine kann man auf die Schrecken des Zweiten Weltkriegs verweisen, in dem die Ukrainer Spielball und Schlachtfeld waren, vor allem aber auf die große Hungersnot, den Holodomor von 32-34. Die Ukraine war gleichzeitig der am weitesten entwickelte und der am meisten eingeschüchterte Teil der Sowjetunion. Tschernobyl war ein Weckruf für die Ukrainer. Man war das erste Opfer der Kernschmelze in diesem Kernkraftwerk, hatte aber kein Mitspracherecht und war völlig abhängig von Moskaus Handeln oder Nichthandeln.

Rosenstock-Huessy führt in seinem Buch von 1931/1951 sechs große Revolutionen auf, die Europa geprägt haben 19. Er erwähnt den Konflikt zwischen dem Papst und dem deutschen Kaiser, die städtische Bewegung und die Zunftbewegung in Italien und später im übrigen Europa, die deutsche Reformation, die englische parlamentarische Revolution, die französische Revolution und die russische Revolution. Sie alle waren tiefgreifend, weil sie eine neue Rechtsordnung, einen neuen Menschentyp und eine neue Sprache hervorbrachten und ihren Einfluss in ganz Europa spürbar machten. Es hat viele andere Revolutionen gegeben, die nicht alle drei Merkmale aufweisen, entweder weil sie zwischen zwei großen Revolutionen liegen (wie die Niederlande zwischen der deutschen Reformation und dem englischen Parlamentarismus) oder weil sie nicht wirklich originell sind, sondern die revolutionären Errungenschaften anderer Völker übernehmen. Wie ist nun die Ukraine in diesem Spektrum einzuordnen?

Zunächst ist man dazu geneigt, an die Französische Revolution zu denken, weil das ukrainische Volk endlich seinen eigenen Nationalstaat beansprucht. Das ist sicher richtig, aber die Französische Revolution beanspruchte auch, den Menschen wieder eine vernünftige und natürliche Existenz zu geben, und das bedeutete für die Franzosen mit eine gewisse Selbstverständlichkeit: eine Sprache, eine Hauptstadt, um die sich alles dreht, und natürliche Grenzen. Das trifft auf die Ukraine nicht zu, denn die Besonderheit der ukrainischen Nation besteht gerade darin, dass sie viele Bevölkerungsgruppen beherbergt. Außerdem hat die Ukraine, wie Polen, Litauen und Ungarn, etwas mit der englischen Revolution gemeinsam. Wie in England herrschte auch in den polnischen und litauischen Parlamenten und in der ungarischen Gesellschaft der niedere Adel, und in diesen Ländern waren dies die Großgrundbesitzer. Um die Zentralgewalt des Königs unter Kontrolle zu halten, hatten alle polnischen Adligen ein Vetorecht im Parlament. Trotz der Abhängigkeit der einfachen ukrainischen Bauern von den Großgrundbesitzern in der polnisch-litauischen Zeit gab es immer noch eine parlamentarische Vertretung und eine gewisse Form der Gegenseitigkeit. Unter russischer Herrschaft fehlte dies. Als sich die Kosakenrepublik Russland unterwarf, mussten die Bauern dem Zaren einen Treueeid schwören. Nun verlangten sie, dass der Vertreter des Zaren ebenfalls einen Eid im Namen des Zaren ablegte. Er weigerte sich. Der Zar leistet seinen Untertanen keinen Eid 20. Sicherlich trägt auch die Ukraine das Erbe des polnisch-litauischen Gemeinwesens und die Tradition der demokratischen Repräsentation und der gegenseitigen Verantwortung in sich. Rosenstock-Huessy beschreibt in seinem Revolutionsbuch auch das Erbe des Habsburgerreiches Österreich-Ungarn. Wien verstand es, viele Völker, Sprachen und religiöse Überzeugungen in einem staatlichen Kontext zu vereinen und trotz aller Spaltungen die Einheit zu wahren. Diese Einheit und Vielfalt zugleich ist der große Beitrag des Habsburgerreiches für die europäische Staatenwelt. Sicherlich kann man auch die ukrainische Revolution unter diesem Gesichtspunkt betrachten. Sicherlich ist in den letzten 30 Jahren in der unabhängigen Ukraine die Kunst des Zusammenlebens vieler Bevölkerungsgruppen praktiziert worden und das ist an sich schon eine große Leistung. Dabei hat die Ukraine übrigens auch an dem teilgenommen, was Rosenstock-Huessy die eigentliche Revolution der beiden Weltkriege nennt: Mehr noch als durch die Russische Revolution haben die Weltkriege unser heutiges Gesellschaftssystem weltweit beeinflusst. Sie haben dazu geführt, dass es kein Machtzentrum mehr gibt, das die Welt nach ihrem Willen beugen kann. Und das bedeutet, dass in der modernen globalen Gesellschaft im Großen wie im Kleinen nur gegenseitige Verantwortung, so schwierig sie auch sein mag, einen Weg in die Zukunft bietet. In der Tat können nur Gespräche und gegenseitiges Verständnis zu dauerhaften Lösungen führen. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste dieses Gespräch auf lokaler und internationaler Ebene intensiviert werden, um Kriege zu vermeiden. Nun hat jede Revolution ihre spezifischen Errungenschaften. Die Errungenschaft, die wir nach den Weltkriegen global durch Versuch und Irrtum praktizieren, ist: miteinander zu reden und zuzuhören, um, verändert durch den anderen, einen Weg nach vorne zu finden, mit Respekt für den Beitrag des anderen. Der gemeinsame Widerstand gegen die harte Hierarchie Russlands treibt die verschiedenen Gruppen, die in der Ukraine zusammenleben, weiter in diese Richtung. Sie müssen zueinander finden, sonst werden sie keinen Erfolg haben. In diesem Sinne geht die Ukraine in Europa voran: miteinander reden und einander zuhören als Mittel zur Überwindung des Interessenkonflikts. Rosenstock-Huessy hat Österreich auch als die Tochterfigur Europas bezeichnet: Sie empfängt und bedankt sich für alle bisherigen Errungenschaften und führt sie in die Zukunft. Vielleicht können wir das auch von der Ukraine sagen. Wenn das Miteinanderreden der Vertreter der verschiedenen Gruppen in der Ukraine im Gulag unter Stalin den Grundstein dafür gelegt hat, so ist der Nationalstaat der Ukraine seine Frucht.

Otto Kroesen

aus dem Mitgliederbrief 2024-12 Dieser Text in englischer oder niederländischer Sprache

  1. Plokhy, S., 2015. The Gates of Europe; a History of Ukraine, Basic Books, New York, 318. Amerikanische Kommentatoren nannten dies seine „Chicken Kyjiv speech“. 

  2. Hryzak, Y., 2023. Ukraine - The Forging of a Nation, Sphere, London. 

  3. Plokhy 247. 

  4. Androechoveych, J., 2022., Die ukrainische Kultur und Literatur, in Ukraine - Geschiedenissen en Verhalen, ISVW Publishers, Leusden, 57 - 81. 

  5. Snyder, T., 1918. The road to unfreedom, Russia, Europe, America, Crown, Tim Duggan Books. 

  6. Rosenstock-Huessy, E., 1940. Die Atlantische Revolution, unveröffentlichtes Papier, https://www.erhfund.org/ 

  7. Rosenstock-Huessy, E. 1924. Vom Industrierecht, Rechtssystematische Fragen, Sack, Berlin, Breslau, 38. 

  8. Rosenstock-Huessy, E., 1956, 1958. Soziologie I, II, Stuttgart, Kohlhammer. 

  9. Hrytsak weist auch auf den Zusammenhang zwischen der Entdeckung Amerikas und der Entwicklung der Ukraine hin. Nach der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus im Jahr 1492 und der anschließenden Eroberung des Kontinents durch die Spanier sank der Silberpreis in Europa drastisch. Dadurch wurde es für die ukrainischen Bauern lukrativ, Getreide für den europäischen Markt anzubauen, Hrytsak 92ff. 

  10. Chruschtschow und Breschnew gingen beide aus dem ukrainischen Parteiapparat hervor und brachten ihr Patronagenetz aus der Ukraine in den Kreml, aber dasselbe Patronagenetz half immer auch im Stillen der ukrainischen Sache - so Plokhy 297. 

  11. Plokhy 304. 

  12. Hrytsak, 323. 

  13. Kroesen, J. Otto, Darson, R., Ndegwah J. David, 2020. Cross-cultural Entrepreneurship and Social Transformation: Innovative Capacity in the Global South, Lambert, Saarbrücken. 

  14. Plokhy 247. 

  15. Zum Vergleich: Der niederländische Schriftsteller Louis Couperus schrieb 1901 ein Buch mit dem Titel „De Stille Kracht“. Damit meinte er, dass die niederländischen Machthaber schon damals spüren konnten, dass die Indonesier genug von ihnen hatten. Die Machtverhältnisse waren immer vorhanden, und sie wurden auch von den Indonesiern respektiert, aber die Menschen spürten diese stille Gewalt. In ähnlicher Weise hebt Plokhy die Unterströmung hervor, die in der Ukraine immer vorhanden war, die Unterströmung eines Volkes, das die Fremdherrschaft abschütteln wollte. Die Geschichte der ukrainischen Bauern ist die Geschichte einer Bürgerschaft zweiter Klasse, aus der sie sich zu befreien versuchen. 

  16. Hrytsak 230. 

  17. Hrytsak 329, siehe auch Hrytsak, Y., 2024, The third Ukraine: A case of civic nationalism, in Philosophy and Social Criticism, Vol. 50(4) 674-687. 

  18. Kravtschuk war 1990 der populärste Führer in der Ukraine - es gelang ihm, die Oppositionsbewegung und die national orientierten Kommunisten im Parlament zu vereinen, Plokhy 316. 

  19. Rosenstock-Huessy, E., 1989. Die Europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, Moers, Brendow (Orig. 1931, bearbeitet 1951). 

  20. Hrytsak, 115.