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Otto Kroesen: Synagoge, Kirche und die römische Steuer

Otto Kroesen

Die niederländische Zeitschrift “In de Waagschaal” veröffentlichte einen Artikel von Otto Kroesen (April 2022) über die römische Steuer zur Zeit von Vespasian, Diocletian und Nerva. Anlass ist die Lesung einer Dissertation, ebenfalls aus dem Jahr 2009, von Marius Heemstra, Neutestamentler an der Universität Groningen. Heemstra widerlegt die inzwischen weit verbreitete Vorstellung, dass die Verfolgungen unter Diokletian 85-96 nicht so drastisch waren. Er erklärt auch, dass die Steuerpolitik der Römer zu einem beschleunigten Auseinandergehen von Kirche und Synagoge führte. Dies geschah insbesondere, als Nerva, der Nachfolger Diokletians, eine streng religiöse Definition von “Juden” annahm: Menschen, die tatsächlich in die Synagoge gingen. Dies gab den orthodoxen Juden die Möglichkeit, sich der Verfolgung zu entziehen. Heemstra zufolge bezeugen der Hebräerbrief, das Johannesevangelium und die Offenbarungen des Johannes diese Spannungen. Aus der Sicht von Rosenstock-Huessy ist diese Studie wichtig, weil sie zeigt, dass der von der Kirche eingeschlagene christliche Weg nicht als isoliertes religiöses Phänomen zu verstehen ist, sondern eine alternative gesellschaftliche Weg darstellt, die von Anfang an im Widerspruch zur Überlebensstrategie der Synagoge stand.

Wirtschaft und Glaube sind in vielerlei Hinsicht miteinander verbunden. Ohne Glauben kann keine Wirtschaft funktionieren (Vertrauen, Kredit), und ohne Wirtschaft sind alles, was vom Glauben übrig bleibt, kostenfreie Phantasien. Die Qualität der Interaktion mit anderen Menschen in der Arbeitsteilung und im sozialen Miteinander ist der Prüfstein für jeden Glauben. Dies war bereits im Jahr 100 nach Christus der Fall.

In einer Dissertation aus dem Jahr 2009 füllte Heemstra eine Lücke mit seinen Forschungen über die Auswirkungen der römischen Judensteuer, des so genannten Fiscus Judaïcus. Er ist sowohl in Geschichte als auch in Theologie ausgebildet und nutzt beides. Sie liefert eine Neuinterpretation der Verfolgungen ab 85 unter Kaiser Domitian, des Hebräerbriefs, des Evangeliums und der Offenbarung des Johannes. Es folgt eine kleine Zusammenfassung, deren Konsequenzen und einige weitere Überlegungen.

Einige Fakten

Von Anfang an gibt es Reibereien zwischen den orthodoxen Juden und den Juden, die dem messianischen Weg folgen. Die Juden waren im Römischen Reich schon schwierig, aber sie waren eine erlaubte Religion. Was Paulus tat, war besonders schwierig, weil er Menschen zum messianischen Weg bekehrte. Auf diese Weise distanzierten sie sich von ihren früheren heidnischen Religionen. Dies stellte auch ein Sicherheitsrisiko für die orthodoxen Juden dar. Kaiser Claudius hatte im Jahr 49 ein Edikt erlassen, wonach die Juden ihre Religion ausüben durften, sofern sie sich nicht verwerflich über die römischen Götter äußerten. Die Christen haben genau das getan, vielleicht nicht immer mit Worten, aber vor allem mit ihren Taten, d.h. indem sie sich von heidnischen Opfern fernhielten.

Das Römische Reich erlaubte den Juden auch die Besteuerung des Tempels in Jerusalem. Alle Juden im Römischen Reich zahlten diese Steuer. Daher floss eine Menge Geld in den Tempel in Jerusalem. Dieses Geld war auch der Grund für den jüdischen Aufstand gegen die Römer im Jahr 66. Nero griff nach dem Schatz des Tempels. Im Jahr 67 belagerte Vespasian Jerusalem und drei Jahre später wurde die Stadt erobert. Und von nun an ist das Geld des Fiscus Judaïcus für einen Jupiter-Tempel in Rom bestimmt. Schließlich erhob auch er Anspruch auf den Titel des höchsten Gottes.

Man kann sich vorstellen, wie ärgerlich es für die Synagoge ist, wenn alle möglichen Leute aus allen möglichen Gründen nicht zahlen. Dies führte zu allerlei Problemen mit den Römern und verschärfte die gegenseitigen Anfeindungen. Abtrünnige Juden, die noch ethnisch jüdisch waren, zahlten oft nicht, aber ein größeres Problem waren die Christen, genauer gesagt die Judenchristen. Sie haben auch nicht gezahlt. Wenn sie nicht bezahlten, konnten sie beschlagnahmt werden. Zumindest war dies bei ethnischen Juden der Fall. Die Heidenchristen zahlten natürlich auch nicht, aber wenn sie aufgrund ihrer christlichen Überzeugung begannen, “jüdisch zu leben”, konnten auch sie unter die Kontrollmaßnahmen des Römischen Reiches fallen. Wenn dies geschah, verstießen sie gegen das Edikt des Claudius. Dies wurde mit dem Tod bestraft.

Als Domitian ab 85 an die Macht kam, verschärfte er nicht so sehr die Regeln, sondern vielmehr ihre Anwendung. Er brauchte Geld, auch weil er den Soldaten höhere Löhne versprochen hatte. Nicht die Tempelsteuer brachte so viel Geld ein, sondern die Beschlagnahmung des Besitzes der Ungehorsamen. Es kam zu einer regelrechten Hexenjagd, weil jeder melden konnte, dass Menschen jüdisch lebten, die den Fiscus Judaïcus nicht bezahlten. Dies führte zu allerlei Schauprozessen und einer großen Zahl von Beschlagnahmungen. Sklaven konnten ihre Herren einfach anzeigen, und jeder, der eine Rechnung zu begleichen hatte, konnte dies ebenfalls tun. Auch die römischen Bürger waren auf diese Weise betroffen, wie Heemstras Untersuchungen zeigen.

Durch den Glauben gefährdetes Leben

Unter diesen Umständen wird es spannend, sich zu seinem Glauben zu bekennen. Nach 70 mussten sich die Juden natürlich zurückhalten, aber auch sie sind in Gefahr, weil sie von Christen mit jüdischem Hintergrund diskreditiert werden, die wahrscheinlich auf ihren Steuerlisten stehen, aber nicht zahlen und die aktiv Menschen zur Kirche bekehren und damit aktiv gegen das Edikt des Claudius von 49 verstoßen. Noch stärker gefährdet sind die Christen aus dem heidnischen Raum, die ihre heidnischen Religionen hinter sich gelassen haben. Nicht, dass sie die Steuer zahlen mussten, aber bei den Ermittlungen wurden zwei Tests durchgeführt. Die erste war etwas peinlich, nämlich den römischen Behörden zu zeigen, ob man beschnitten war oder nicht - natürlich mit Blick auf orthodoxe Juden und Christen jüdischer Herkunft. Die zweite Prüfung war ein Opfertest: Man musste den heidnischen Göttern ein Zwangsopfer bringen. Wenn man sich weigerte, konnte man beschuldigt werden, ein Atheist zu sein. Und ab 85, als Domitian sein Amt antrat, waren die Christen aus den Heiden dem besonders ausgesetzt. Die oft vertretene Meinung, die Verfolgungen unter Domitian seien nicht so schlimm gewesen, muss auf dieser Grundlage revidiert werden. Denn der Fiscus Judaïcus galt im gesamten Römischen Reich. Das ist der Preis des Glaubens. Wer glaubt, muss zahlen, ob links oder rechts.

Johannes und die Hebräer

Heemstra findet diese Erkenntnisse im Hebräerbrief und im Johannesevangelium bestätigt. Alle Evangelien verurteilen Schriftgelehrte und Pharisäer scharf, aber bei Johannes finden wir eine Ablehnung der Juden als solche. Sie gehören nun auch zum “Kosmos”, zum bestehenden politischen System. Für einen Kompromiss, wie ihn Paulus mit diesem “Kosmos” noch vorschlägt, ist kein Platz mehr, wie auch die Offenbarung des Johannes deutlich macht. Dies passt gut zu der Auffassung, dass Johannes nach 96 geschrieben wurde, als unter Kaiser Nerva die Verfolgung der Juden aufhörte, weil nun statt eine ethnische Definition eine religiöse Definition des Jüdischseins gebraucht wurde. Nur diejenigen, die aktiv die Synagoge besuchten, und ausdrücklich nicht diejenigen, die in die Kirche gingen, wurden als Juden definiert. Dies bedeutete auch, dass nach 96 Christen aus den Juden ebenso wie Christen aus den Heiden der Todesstrafe ausgesetzt waren, wenn ihr christlicher Lebensstil ans Licht kam.

In Hebräer 10: 32 - 34 wird erwähnt, dass die Adressaten bereits die Beschlagnahmung ihres Besitzes erlebt hatten und dass sie sich damals auch mit Menschen im Gefängnis (Christen aus den Heiden?) solidarisiert hatten. Wahrscheinlich wurde der Brief an die Hebräer daher als Traktat von Rom aus geschrieben, um die Christen jüdischer Herkunft im Reich zu ermutigen, auch unter Nerva auszuharren.

Einige Überlegungen

Das Buch von Heemstra ist auf jeden Fall empfehlenswert. Er versteht es, eine gründliche Analyse in einer klaren Sprache und in einem sehr lesbaren Stil zu präsentieren. Andere haben darauf hingewiesen, dass der Name “ecclesia” eigentlich eine Herausforderung an das politische System der damaligen Zeit bedeutete. Ecclesia bedeutet schließlich Versammlung des Volkes. Die Römer hatten den Volksversammlungen in allen Provinzen und Städten, einschließlich der griechischen Stadtstaaten, ihre Autorität genommen. Es gab nur noch eine einzige funktionierende öffentliche Volksversammlung, und das war in Rom. Politik wurde nur dort gemacht.

Sowohl Johannes als auch der Hebräerbrief stellen den Weg der Kirche als den Weg des wahren Israel dar. Zugegeben, dies war in erster Linie eine Botschaft von und für Christen jüdischer Herkunft und als solche verständlich. Diese Texte sind verständlicherweise sehr heikel für jeden, der sich der Verfolgungen schämt, denen die Juden im Laufe der Geschichte ausgesetzt waren.

Eine letzte Überlegung kann zum besseren Verständnis beitragen. Es ist ja nicht so, dass die orthodoxen Juden keinen Preis für ihren Glauben gezahlt hätten. Der jüdische Aufstand vor 70 war kein kleines Ereignis in einer abgelegenen Ecke des Römischen Reiches. Sie erschütterte das Römische Reich in seinen Grundfesten. Die Juden erhielten von überall her Unterstützung, und überall im Römischen Reich kam es zu ähnlichen Aufständen. Sie war das Ergebnis der rücksichtslosen Ausbeutung durch die römische Elite, deren Höhepunkt und Auswuchs Nero nur war.

Aber der Dialog zwischen Juden und Christen ist keineswegs ein ruhiges Gespräch über religiöse Ansichten, auch jetzt nicht. Sie kommen sich in die Quere, korrigieren sich gegenseitig und machen es sich gegenseitig schwer. Wir alle haben den Juden und den Christen in uns, auch in unserem heutigen säkularen gesellschaftlichen Leben. Sollen wir die Mächte kritisieren und sie mit makkabäischem Mut stürzen? Oder sollte man diese Kritik mässigen und Schritt für Schritt vorwärts gehen: der christliche Weg. Letzteres mag auf lange Sicht mehr Wirkung haben, kann aber auch zu schwachen Kompromissen führen. Wer hat Recht? Das ist eine Frage für die Religionsphilosophie. Wo man jedoch für seinen Glauben bezahlt, muss man beide Haltungen übernehmen, je nach Zeit und Ort mal mehr die eine, mal mehr die andere. Dieser unbequeme Dialog ist etwas, das wir in uns selbst weiterführen müssen.

Heemstra, Marius, 2009. How Rome’s administration of the Fiscus Judaicus accelerated the parting of the ways between Judaism and Christianity, Universiteit Groningen.