Logo Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft Unterwegs zu einer planetarischen Solidarität Menü

Otto Kroesen: Die postnationale Ära: Reich und Stamm

Kürzlich war in den Nachrichten zu lesen, dass Trump Dänemark Grönland abkaufen wolle. Abkaufen… Das ist wahrscheinlich nicht das letzte Ergebnis seiner “America first”-Politik. Es scheint lächerlich, aber wenn man sich die Machtblöcke in der Welt anschaut, sieht man eine Art Wettlauf um Nahrungsmittel und Rohstoffe und den Aufbau von Imperien, um die Massen innerhalb ihrer eigenen Grenzen zufrieden zu stellen. Diesen Zusammenhang möchte ich aus heilsgeschichtlicher Perspektive mit Eugen Rosenstock-Huessy näher beleuchten. Otto Kroesen

Reichsbildung

Wenn wir an Imperialismus denken, denken wir an den Willen zu dominieren. Es ist ein Schimpfwort geworden. Rosenstock-Huessy ist jedoch der Meinung, dass es besser ist, an ein anderes Phänomen zu denken, nämlich das „Empire Building”, die Errichtung von Reichen wie es im Ägypten der Pharaonen und andernorts geschah: den Assyrern, den Babyloniern, den Persern, China, Rom. Die beiden Weltkriege und die Russische Revolution markieren im 20. Jahrhundert den Übergang von Nationalstaaten zu Machtblöcken. Sie sind Megamaschinen, vergleichbar mit den erwähnten antiken Imperien. Ein Merkmal dieser Reiche ist die Abgrenzung von Territorien und die Unterwerfung konkurrierender Gruppierungen, um die eigene Bevölkerung zu ernähren und zufrieden zu stimmen. Imperialismus zwar, aber vor allem innerer Friede und Ruhe waren dabei vorrangig. Und dieser Friede hing von der Brotfrage ab.

Jetzt lebt diese Art von imperialer Kultur in Trumps Amerika wieder auf, aber nicht nur dort. Die Prioritäten Chinas, Russlands, Brasiliens oder der Europäischen Union sind heute kaum anders. Es handelt sich um eine globale Entwicklung. Auffallend ist, dass das 20. Jahrhundert allen noch kaiserlichen Reichen ein Ende setzte: von Äthiopien bis Japan, von Deutschland bis China. Dreht sich diese Entwicklung jetzt wieder um?

Auferstehung und Erlösung

Sie muss sich umdrehen! Das ist ein historisches und theologisches Gesetz. So funktioniert Heilsgeschichte. Um einen mutigen Schritt in die Zukunft zu machen, müssen wir uns von der Vergangenheit inspirieren lassen. Aber sie muss in einer neuen Form, in einem neuen Rahmen zurückkehren. Bei der Auferstehung geht es nicht nur um das Ende der Geschichte. Der Same stirbt im Acker und spendet so neues Leben. Zum Beispiel: Christus steht auf in die Kirche. Die Psalmen des alten Israel erwachen in den Klöstern zu neuem Leben. Die griechische Philosophie wird in der Aufklärung wiederentdeckt. So wie die Genesis auf Hebräisch Toledoth, Geburten, heißt, so ist die Geschichte voller Wiedergeburten. Jedes Mal machen wir einen Schritt nach vorne, indem wir uns auf alte Zeiten berufen, die wieder aufleben (müssen), weil sie den Weg weisen, aber immer in einer neuen Übersetzung und Verwirklichung.

Amerika wollte in seiner Gründungsphase die ersten christlichen Gemeinden wieder aufleben lassen.1 Damit einher ging aber sofort ein Appell an das alte Israel, später auch an Griechenland und in dieser Rückwärtsbewegung ist nun Ägypten an der Reihe. Die Präsidenten Amerikas vor dem Ersten Weltkrieg hätten sich niemals um Brot oder die Wirtschaft gekümmert. Das ging die Politik nichts an. Das ist heute anders.

Vier Stufen amerikanischer Geschichte

Die Geschichte Amerikas beginnt mit den puritanischen Gemeinden, die sich vom europäischen Imperialismus lösen wollten. Sie wollten ein reines Leben als christliche Gemeinschaften führen und alles miteinander teilen. Das ist eine Rückkehr zur Kirche des ersten Jahrhunderts nach Christus. Aber für diese Gemeinden war das Volk Israel auch das Ideal: ein Leben in Gerechtigkeit als ein Volk, das keine Regierung über sich hat, sondern in dem Gott regiert, der Gott des Bundes mit den Menschen, die ihm folgen. Dieses Ideal hat Amerika bis zum Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert geleitet. Damals, aber auch schon davor, gab es ein anderes Ideal, von dem die Architektur des Kapitols und so vieler anderer Regierungsgebäude zeugt: die Wiederbelebung der griechischen Demokratie. Die Amerikaner handelten in der ganzen Welt, aber wie die Griechen war die Politik nicht daran beteiligt. Die Politiker der griechischen Stadtstaaten beschäftigten sich mit Krieg und Frieden sowie mit den Rechten der Sklaven und Leibeigenen, nicht aber mit der Frage des Brotes. In dieser Zeit schaute Amerika in die Zukunft und gleichzeitig immer weiter in die Geschichte zurück. Europa hat etwas Ähnliches getan. Wir haben bereits drei Phasen erwähnt: die christliche Gemeinschaft, das Volk des Alten Testaments und die griechische Demokratie. In Europa werden diese drei Phasen durch die lutherische Reformation, die englische parlamentarische Revolution und die französische Revolution repräsentiert. Wenn wir noch weiter zurückgehen, kommen wir in die Zeit der Reiche und Stämme. In einer imperialen Kultur ist die Ernährung der Massen von zentraler Bedeutung. In einer Stammeskultur ist die Erfahrung der eigenen Identität von zentraler Bedeutung. Wir erleben gerade die Rückkehr dieser beiden Grössen. Rosenstock-Huessy sah in der Russischen Revolution und dem Nationalsozialismus seiner Zeit derartige Anklänge. Aber die Errungenschaften von Stamm und Reich werden uns so lange beschäftigen, wie wir nicht auf mechanisierte Produktion und Gruppenidentität verzichten können.

Heil: Das Heilen dessen, was in früheren Zeiten unerfüllt blieb

Aber Auferstehung ist nicht dasselbe wie Reinkarnation. Was zurückkommt, ist keine Kopie. Im Gegenteil, dies ist zu vermeiden. Tatsächlich ist die Weltwirtschaft bereits eine Einheit geworden. Das Ideal, das das ägyptische Reich ursprünglich verwirklichen zu können glaubte, war genau dieses: die ganze Welt zu umfassen und in einem einzigen Gebiet zu vereinen. Sie konnten nicht wissen, wie groß die Welt war, aber ein 1500 km langer Nil war schon eine ganze Menge. Und um nicht ausgebeutet und unterdrückt zu werden, müssen die heutigen Führer der Welt (keine Göttersöhne wie die chinesischen und japanischen Kaiser im 20. Jahrhundert!) ihre Reiche als Teil dieser nunmehr globalen Einheit sehen. Ihr Imperium ist nur ein Teil davon. Die Welt ist zu einer Einheit geworden, zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht, ohne dass sich eine einzige politische Macht zum Zentrum der Welt machen kann. Das ist nicht mehr möglich. Selbst Trump kann seinen ultimativen Trumpf, die Bombe, nicht ausspielen, und er weiß es. Das tun die anderen auch.

Weltpolitiker, die sich selbst in den Mittelpunkt stellen wollen, sind versucht, ihre eigene Identität zu bewahren, sozusagen ihren eigenen Stamm zu pflegen. Stämme haben schon immer Feindbilder kultiviert. Und da es für Stämme heute unmöglich ist, außerhalb der Mauern des Reiches zu leben (das war bei den Römern und in China immer der Fall), wenden sich verschiedene Gruppen in der einen globalen Gesellschaft gegeneinander. Terrorismus nennt man das. Oder, etwas harmloser, Diskriminierung und Nationalismus. Ist es möglich, die Solidarität der Stämme ohne Feindbilder wiederzubeleben?

Das christliche Zeitalter

Die christliche Gemeinde stellte das Einstehen-für-einander (Stellvertretung) an die Stelle der eigenen Identität und schaffte Stammeshäuptlinge und Göttersöhne ab, indem sie den gekreuzigten Christus, der für die anderen lebte und starb, in den Mittelpunkt stellte. Das war völlig neu. Das Sterben für den Anderen öffnete eine Tür für gegenseitige Fürsorge und Zusammenarbeit zwischen Völkern, Stämmen und Imperien durch einfache Menschen. Daraus ist die europäische Gesellschaft entstanden: freiwillige Zusammenarbeit - trotz aller Machtmissbräuche, die Europa erlebt hat. Aus diesem Einstehen für einander ergibt sich auch der Sinn der Wiederbelebung aller anderen Phasen. Sie müssen wiederbelebt werden, aber sozusagen de-zentriert, ihrer alten Mitte beraubt. Sie haben ihre Mitte nicht mehr in sich selbst. Das Imperium ist global geworden, aber es kann und darf nicht von einem Zentrum aus regiert werden. Stämme, d.h. geschlossene Gruppen mit großer Solidarität - auch sie müssen zurückkehren, denn ohne ihre Solidarität können wir nicht auskommen. Aber auch sie müssen geheilt werden. Das alte Reich hat Unterdrückung gebracht. In der Antike war der Stamm ausschließlich auf seine eigene Gruppe ausgerichtet. So wie das Imperium nicht den ganzen Raum einnehmen sollte, so sollte auch der Stamm nicht ewig existieren dürfen. Enge “Wir”-Gruppen können sich nur eine vorübergehende Existenz leisten. Ihre Gruppenidentität muss sich mit der Zeit öffnen. Sie müssen sich öffnen, sonst wird die Stellvertretung des einen-für-den-anderen wieder rückgängig gemacht. Dann würde die von Christus geöffnete Tür zum A/anderen wieder geschlossen werden. Dann würden wir weltweit wieder in geschlossenen Abteilen leben. Das wäre das Ende der christlichen Ära.

Die Auferstehung Christi und die Wiederbelebung der antiken Gesellschaften

Aber das christliche Zeitalter hat so viele Türen zwischen den Menschen geöffnet, dass eine Rückkehr zur vorchristlichen Zeit der geschlossenen Abteilungen nicht mehr möglich ist. Die Technologie, eine Frucht des christlichen Zeitalters, die ohne Zusammenarbeit undenkbar ist, lässt uns in einem globalen Raum leben, als Nachbarn. Wenn es uns gelänge, in die vorchristliche Zeit zurückzukehren, wäre die Gewalt, die wir uns gegenseitig antun, um ein Vielfaches größer als je zuvor. Das Ende des christlichen Zeitalters kann daher nur in Form einer gegenseitigen Zerstörung erfolgen. Wir müssen also weitermachen. Ob wir das wollen oder nicht. Wir können nicht hinter die Stellvertretung zurückgehen. Dies ist der Kern unserer Existenz, unsere Verantwortung für den anderen. Die große Frage für unsere Zeit ist: Wie werden sich die Auferstehung des Reiches und die Auferstehung des Stammes vor diesem Hintergrund konkret entfalten?2

Ursprünglich veröffentlicht auf Niederländisch: In de Waagschaal, jaargang 48, nr. 11. 9 november 2019

  1. Unter dem Titel Universal History (1954), zu finden auf der amerikanischen Website. 

  2. Joh. 12:32