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Otto Kroesen: Intellektuelle Konstruktion und Lebendige Erfahrung

Ehrenberg und Rosenstock-Huessy über Dogma und Gesellschaft
in Russland und Westeuropa

Zusammenfassung

Dieser Beitrag befasst sich mit der konstruktiven Verfahrenssweise des Westens im Gegensatz zur erfahrungsorientierten des Ostens, hier speziell der russischen Orthodoxie.

Otto Kroesen Der Westen räsoniert und schafft einen Plan und ein Modell, das sich der Realität annähert. Die Orthodoxie, nicht nur die russische, erfährt das Wirken des Geistes und fühlt aus der Ferne das Licht, das auf sie scheint. Dies steht teilweise im Hintergrund des Konflikts zwischen Ost und West.

Die westlich-konstruktivistische Haltung hat sich als Teil der westlichen Geschichte seit dem Investiturstreit zwischen Papst und Kaiser entwickelt, seit dem, was Rosenstock-Huessy die Papstrevolution nennt. Um diese Entwicklung zu verstehen, ist ein breiter Blick auf die Geschichte erforderlich, ein Blick, der tausend Jahre umfasst. Forschungsergebnisse aus Theologie, Philosophie und Soziologie müssen miteinander verbunden werden. Es zeigt sich, daß ein anderes Verständnis des Trinitätsdogmas zu einer anderen Spiritualität, zu einer anderen Gesellschaftsordnung und zu einem anderen menschlichen Selbst führt.

Dies ist die These von Hans Ehrenberg und Eugen Rosenstock-Huessy. Sie gehörten zu einer kleinen Gruppe, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Philosophie der lebendigen Sprache als Alternative zum deutschen Idealismus und zum angelsächsischen Positivismus einführten. Sie standen in engem Kontakt mit russischen Denkern, deren Kreativität sich an den kritischen Ereignissen der Russischen Revolution und des Ersten Weltkriegs entzündete. Denker wie Florensky, Berdjajew und andere, vertraten eine Sprach- und Gesellschaftsphilosophie, die in eine ähnliche Richtung ging. Sie alle waren davon überzeugt, dass sie am Vorabend einer neuen Ära stünden, einer Ära jenseits der traditionellen Kirche und Theologie, der Ära des Geistes, wie sie behaupteten.

Diese Aussage bezieht sich auf die prekäre Situation der im Entstehen begriffenen weltumfassenden Gesellschaft, in der kein einzelner Staat oder keine einzelne Kirche mehr die letzte Kontrolle hat. Die große Gesellschaft mit ihren vielen Akteuren ist das einmalige Ereignis der Zeit, das gewaltsam durch die Weltkriege herbeigeführt wurde: Von nun an ist es an dem Netzwerk sozialer Kräfte im globalen Maßstab, Frieden und Gerechtigkeit zu schaffen. In dieser Situation ist das einzige Mittel, um voranzukommen, die gegenseitige Öffnung durch: Sprache!

Unter diesem Gesichtspunkt haben insbesondere Ehrenberg und Rosenstock-Huessy die kirchlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen verstanden, die in ihrer Zeit zum Ausdruck kamen. Ein wichtiger Schritt in diesen gesellschaftlichen und historischen Entwicklungen ist das Große Schisma von 1054, als die östliche Orthodoxie und der römische Katholizismus einen unterschiedlichen Weg einschlugen, der in der römisch-katholischen Tradition durch den Zusatz des Filioque im Nizänischen Glaubensbekenntnis bezeichnet wird. Diese Hinzufügung war bereits in einer langen Geschichte vorbereitet worden.

Sie führte darüber hinaus zu einem anderen Konzept der Natur, die nun als von einer Reihe von Regeln beherrscht angesehen wurde, die von der menschlichen Intelligenz konstruiert oder angenommen wurden. Hier ist die Debatte über göttliche Energien - von denen die östliche Orthodoxie spricht - im Gegensatz zu menschlichen Konstruktionen im Kirchenrecht und in der Theologie zu beachten. Die modernen Konzepte der Natur, des Rechts und der Ethik sind die Frucht einer ähnlichen konstruktivistischen Haltung des westlichen Geistes, wie sie bereits von der Scholastik im Mittelalter verwendet wurde.

Vor allem Ehrenberg hat versucht, das daraus folgende unterschiedliche Lebensgefühl Russlands und Westeuropas zu verstehen und zusammenzuführen. Seiner Ansicht nach ist die Zeit des Auseinanderdriftens der verschiedenen Traditionen vorbei. Von nun an müssen sie sich einander annähern und öffnen, um die gemeinsame Aufgabe zu erfüllen, das nackte Eigeninteresse entwurzelter gesellschaftlicher Gruppen und Individuen mit neue Verantwortung zu bekleiden.

Die entstehende Weltgesellschaft neigt dazu die Menschen zu Funktionen in der weltumfassenden Produktion zu reduzieren und verursacht Einseitigkeit und Kurzsichtigkeit. In dieser Hinsicht findet der Westen, sowohl nach Rosenstock-Huessy als auch nach Ehrenberg in ihrer Zeit, eine Gelegenheit zur Erneuerung und Neuorientierung durch die Inspiration der östlichen Orthodoxie, die den Schatz der Liebe Gottes in Christus nicht für den Aufbau einer mechanischen, bürokratischen, von Regeln und Protokollen beherrschten Gesellschaft nutzbar gemacht hat. Andererseits war es auch für Rußland an der Zeit, die Früchte der westlichen Welt in Bezug auf die Institutionen und die Organisation der Gesellschaft zu erben.

Das von Rosenstock-Huessy beschriebene Gesetz der technischen Entwicklung schließlich macht diese Fragen noch dringlicher, indem es die Zerstörung lokaler traditioneller Gemeinschaften durch eine allumfassende Gesellschaft mit globalen Dimensionen aufzeigt. Es müssen neue Gemeinschaften gegenseitiger Verantwortung geschaffen werden, und dies erfordert ein neues Verständnis der Grammatik: So wie die Grammatik Verben und Wörter beugt und konjugiert, so beugt und konjugiert die Sprache, wenn Menschen sich einander öffnen, sprechen und zuhören, die menschlichen Subjekte selbst. In diesem Prozess entstehen neue Bindungen, neue Gemeinschaften, die der Instrumentalisierung von Menschen in der sozialen Maschinerie entgegenwirken und eine Basis für künftige Aktionen für Frieden und Gerechtigkeit schaffen können.

Einleitung

Der Kampf in und um die Ukraine ist eine Phase in der Konfrontation zwischen Ost und West, in diesem Fall zwischen der orthodoxen Tradition Russlands und der westlichen Tradition. Aus westlicher Sicht ist es ein Kampf für Demokratie, für eine offene Gesellschaft, für Menschenrechte und internationales Recht und gegen imperialistische Agression. Aus der Sicht der russischen Propaganda ist es ein Kampf für die Selbstverteidigung, ein Kampf gegen die unmoralischen Auswüchse des Westens, ein Kampf für die russische Identität. Diese russische Identität wird sowohl intern wie extern als eine Kombination aus Nationalismus und historischer Mission vermarktet, beides mit einem christlichen Einschlag. Es ist Propaganda, die im Einbahnverkehr über die Bevölkerung gestreut wird, was stimmt, aber dennoch stellt sich die Frage: Wie kommt es, dass die große Mehrheit der russischen Bevölkerung daran glaubt? Wie ist es um die russische Seele bestellt, dass das russische Volk dieses Regime nicht abschüttelt und sogar bereit ist, seine Söhne in großer Zahl in diesem blutigen Kampf zu opfern? Offenbar gibt es in der russischen Seele eine Offenheit für diese Propaganda. Offensichtlich sind historische Kräfte am Werk, die aus größeren Tiefen kommen als die Tagesmedien. Das Gleiche gilt für den Westen, der zwar seine Ansichten und Überzeugungen in Bezug auf Demokratie und Menschenrechte verteidigt, aber auch seine Glaubwürdigkeit auf dem Spiel sieht, wenn er die Ukraine nicht unterstützte. Stehen wir wirklich für das, wofür wir zu stehen behaupten, zu dieser Frage sieht sich der Westen genötigt. Wie ernst ist es uns mit dem westlichen Erbe? Überzeugungen und Ansichten mögen intellektuelle Spielereien sein, aber sobald man einen Preis dafür zahlen muss, stellt sich auch im Westen die Frage, ob und warum solche Überzeugungen und Ansichten so viel Macht über uns haben? Auch von dieser Seite gibt es also Anlass, sich mit der Geschichte, die uns geprägt hat, auseinanderzusetzen. Genau das möchte ich in diesem Beitrag tun. Das geschieht mit Hilfe von zwei wichtigen Stimmen aus der dialogischen Tradition, Hans Ehrenberg und Eugen Rosenstock-Huessy.

Dieser Austausch fand während und nach dem Ersten Weltkrieg und insbesondere in der Zeit zwischen 1920 und 1930 statt, als die wichtigsten Früchte ihres neuen Impulses erschienen 1. Hans Ehrenberg und Eugen Rosenstock-Huessy sowie Franz Rosenzweig gehörten zu der Generation, die aufgrund ihres Militärdienstes im Ersten Weltkrieg viele Karrierechancen verpasst hatte. Von diesen drei hatte nur Hans Ehrenberg es schnell zu einer etablierten Position an der Universität gebracht. Die Universitäten in Deutschland wussten ihrerseits nicht, wie sie mit dem kreativen Impetus und der kritischen Haltung dieser Personengruppe umgehen sollten, zumal der neue sprachliche Impetus auch religiöser Art war. Denn die Philosophie des Dialogs, der Buber ihren Namen gab, findet ihren Ausgangspunkt nicht im Ich oder in der Vernunft, sondern in der Erfahrung des Angesprochenwerdens, des Befragtwerdens, des Unterbrochenwerdens. Der Imperativ ist der Anfang aller Sprache und allen Sprechens, und Namen und Mächte, denen Menschen gehorchen oder nicht gehorchen, sind solche Imperative 2. Man kann hier durchaus von einem Paradigmenwechsel in der abendländischen Philosophie sprechen, den das Wort “Dialog” nicht hinreichend kennzeichnet. Rosenstock-Huessy nannte diesen neuen Impuls in der Sprache die “grammatische Methode”. So wie die Grammatik Wörter konjugiert und flektiert, werden die Menschen selbst durch die Sprache, die sie sprechen, konjugiert und flektiert. Ihre Zungen werden gelockert, wenn sie wie mit der Kraft einer neuen Offenbarung angesprochen werden.

Das Filioque in der Sicht von Rosenstock-Huessy

Ein Wort spielte beim Auseinanderbrechen dieser zweier Gesellschaften eine entscheidende Rolle: das Filioque, “und (der) Sohn”. Es handelt sich um die Worte, die in der westlichen Tradition dem Nizänischen Glaubensbekenntnis von 325 hinzugefügt wurden, um den Satz zu ergänzen, dass der Geist vom Vater ausgeht. Der Westen fügt hinzu: und vom Sohn. Diese dogmatische Entscheidung ist an sich schon ein Ausdruck des unterschiedlichen Weges, den der Westen und der Osten eingeschlagen haben, und sie haben diesen Weg wiederum entscheidend geprägt. Worte und auch Theorien haben immer einen Kontext. In diesem Sinne sind auch theologische Entwicklungen mit der Gesellschaft verbunden. Sie artikulieren eine Lebensform und verstärken diese wiederum. Lossky drückt dies prägnant aus: “Wenn schon in unserer Zeit eine politische Doktrin, zu der sich die Mitglieder einer Partei bekennen, deren Mentalität so prägen kann, dass ein Menschentypus entsteht, der sich durch bestimmte moralische oder physische Merkmale von anderen Menschen unterscheidet, so gelingt es erst recht einem religiösen Dogma, die Seelen derer zu verändern, die sich zu ihm bekennen. Sie sind Menschen, die sich von anderen Menschen unterscheiden, von Menschen, die von einer anderen dogmatischen Auffassung geprägt sind. Es ist niemals möglich, eine Spiritualität zu verstehen, wenn man nicht das Dogma berücksichtigt, in dem sie verwurzelt ist” 3. Dieser Ausgangspunkt bestimmt auch Rosenstock-Huessys Blick auf das Problem des Filioque. Sie ist eng mit den historischen Gegebenheiten verknüpft. Während in der frühen Kirche im Osten das Reich von Konstantinopel ein stabiler Faktor war, zeigte sich in Westeuropa, dem Abendland, das Gegenteil. Im Jahr 410 wurde Rom von Alarich zerstört. Der Schock, den dies auslöste, veranlasste Augustinus, sein Buch De Civitate Dei zu verfassen, um zu zeigen, dass die Stadt Gottes in ihrer irdischen Stellung nicht von Rom abhängig war. Laut Lossky legte er in diesem Werk auch den Grundstein für ein nicht-östliches und nicht-orthodoxes Verständnis der Trinität. Denn er näherte sich der Trinität von einem allgemeinen Gottesverständnis her und sah Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist in einer dreifachen Beziehung der sich selbst schenkenden Liebe. Damit legte er den Grundstein für die These, dass der Geist nicht nur vom Vater, sondern auch vom Sohn ausgeht. Außerdem legte Augustinus mit seinem Buch den Grundstein für eine größere Rolle der Kirche auch in den politischen Wirren seiner Zeit. Alarich, wie auch alle anderen christianisierten Stämme, waren dem Arianismus verpflichtet und nach dieser Lehre war der Sohn dem Vater untergeordnet und damit auch die Kirche den Fürsten. Sie schufen in ihren Territorien sogar ihre eigenen kirchlichen Strukturen als Alternative zur katholischen Kirche. Nur Karl der Große, der in die Fußstapfen seines Vaters Pippin trat, machte die katholische Kirche zu seinem Verbündeten. Er brauchte den Papst in Rom, der zu dieser Zeit noch keinen Primat über die anderen Patriarchen beanspruchte, um in seinem Reich mit geistlicher Autorität zu regieren. Das Bündnis mit dem Papst legitimierte seine Herrschaft über eine Vielzahl von Stämmen, über die er als christlicher Monarch herrschte, wie eine Art David über die Stämme Israels. Diese spirituelle Interpretation seines Königtums trug dazu bei, Rivalitäten zwischen den Stämmen einzudämmen. Dabei verstand er seine Herrschaft als Herrscher gleichzeitig als christliches Amt, als Teil der Kirche. Aber er hatte kein Gespür für die Trennung von Kirche und Staat, die das Erbe des Reiches von Konstantinopel war. Schließlich gab es in dieser von Stämmen geprägten Welt schon mehr als genug Trennungen. Die alte Kirche, in der Ost und West noch ungetrennt waren, hatte die Loyalität des römischen Volkes gewonnen, so dass der Kaiser, in diesem Fall Konstantin der Große, die Autorität und Macht der Kirche nicht umgehen konnte, wenn er effektiv regieren wollte. Er stand als Kaiser allein da, das Volk war in der Kirche 4. Karl der Große hingegen kämpfte um die Einheit in einer Vielzahl von Stämmen und konnte daher wenig mit einer Trennung oder gar Opposition zwischen Kirche und Reich anfangen. Obwohl er den Papst respektierte, behandelte er ihn mehr oder weniger wie einen Vasallen und ging mit der Kirche instrumentell um. Er ernannte seine eigenen Kapläne 5. Diese zogen als Geistliche mit ihm in den Krieg, und in Friedenszeiten bestand ihre Aufgabe darin, den Wildwuchs an Initiativen der damaligen Heiligen zu disziplinieren.

Vor diesem Hintergrund war Karl der Große bestrebt, dem Kaiser von Konstantinopel an Autorität und Ruhm mindestens ebenbürtig zu sein. Aus diesem Grund lehnte er alle Bestimmungen der Synode von Nizäa von 787 über die Rolle der Ikonen mit seinen Theologen ab 6. Es war völlig gegen seinen Willen, dass der Papst an dieser Synode teilgenommen hatte, die ansonsten ganz im Einklang mit der kirchlichen Tradition stand. Er veranstaltete 794 in Frankfurt eine eigene Synode im Abendland, die in der Kirchengeschichte einen größeren Namen machen sollte als die von Nizäa 787. Dabei wollte er auch den Papst endgültig an sein Reich binden und das Reich von Konstantinopel ausklammern 7. Teil dieser Strategie war die Aufnahme des Filioque in das Nizänische Glaubensbekenntnis durch seine Hoftheologen. Das war ein bewusster Akt der Konkurrenz mit dem Osten, zumal es eine Sache ist, theologisch dafür zu sein, dass der Geist auch vom Sohn ausgeht, aber es ist eine ganz andere Sache, dies dem Osten aufzuzwingen, indem man es in eine alte und wertvolle Glaubensschrift wie das Nizänische Glaubensbekenntnis aufnimmt, das Sonntag für Sonntag in der Liturgie verwendet wurde 8. Der Papst war mit dieser Entscheidung damals nicht einverstanden und ging sogar so weit, dass er das Nizänische Glaubensbekenntnis ohne Filioque auf Silbertafeln am Eingang des Vatikans anbringen ließ. Erst nachdem der deutsche Kaiser 1046 einen Papst seiner Wahl in Rom eingesetzt hatte, übernahm der Papst 1054 die Politik Karls des Großen und seiner Kapläne. Damit wurde das Schisma zwischen Ost und West zur Realität.

Während in der Zeit Karls des Großen und danach die Kirche im Westen mehr als im Osten zu einem Instrument der gesellschaftlichen Organisation und der Machtausübung durch den Kaiser geworden war, kam der Rückschlag mit dem Investiturstreit 1076, als nicht nur der Papst, sondern auch die lokalen Priester und Bischöfe diese Abhängigkeit satt hatten und umgekehrt den Vorrang der Kirche vor dem Kaiser proklamierten, vor allem bei der Ernennung von Bischöfen, in der Rechtsprechung, aber auch in den politischen Beziehungen allgemein. Damit begann, zumindest im Westen, eine neue Periode in der Kirchengeschichte. Die Kirche war immer ein Orientierungspunkt in der Zeit gewesen. Sie wies zum Himmel mit dem Ziel, Seelen aus einer unverbesserlichen Welt zu retten. Von nun an war die Kirche auch räumlich orientiert. Das heißt, die Kirche machte es sich zur Aufgabe, das politische und gesellschaftliche Leben nach ihrem Gusto zu gestalten. Der Papst präsentierte sich dem Kaiser als imperator spiritualis, als höchste weltliche Autorität auch im politischen Sinne 9. Dies würde das Gesicht der Welt verändern.

Recht, Scholastik, Klerus

Um der Verflechtung von Kirche und Landadel in den Dörfern und der Verflechtung von Kaiser und Bischöfen in der Herrschaft an der Spitze entgegenzuwirken, forderten die Anhänger der päpstlichen Revolution einen unabhängigen geistlichen Stand. Dies spiegelte sich in der Forderung nach einem streng zölibatären Leben für Priester, Bischöfe und Mönche wider. Um die Gewalt im Kampf zwischen Papst und Kaiser einzudämmen, griffen sie auf die Entwicklung des Rechts zurück. Um 1100 entstand in Bologna eine unabhängige juristische Fakultät, und 1142 veröffentlichte Gratian sein Gesetzbuch. Das allgemeine Recht musste die räumliche politische Aufgabe, vor der die Kirche nun stand, untermauern. Ebenso galt es, Ordnung in die Vielzahl der situations- und kontextbezogenen Urteile von Bischöfen, Kirchenväter, Heiligen und Mönchen zu bringen. Diese waren oft unterschiedlich und konnten widersprüchlich sein. Bis dahin war dies kein Problem, denn von Kontext zu Kontext und von Zeit zu Zeit konnte jedes Mal ein anderer Schwerpunkt gesetzt werden, und es sollte jedes Mal anders gesprochen werden. Als sich die Kirche jedoch mit der Notwendigkeit konfrontiert sah, politisch und gesellschaftlich die Führung zu übernehmen, entstand das Bedürfnis nach einer allgemeingültigen Wahrheit, nach einer Art gemeinsamem Nenner. Überall musste die gleiche theologische Sprache gesprochen werden. Die scholastische Gelehrsamkeit diente diesem Zweck. Die Methode bestand einfach darin, so rational wie möglich die Argumente für und die Argumente gegen eine bestimmte Aussage aufzulisten, die in der Tradition auftauchen, und daraus eine Schlussfolgerung zu ziehen. Auf diese Weise wurde eine allgemeingültige Wahrheit konstruiert, die zwar angepasst und korrigiert werden konnte, aber dennoch als Abbild der göttlichen Wahrheit gelten konnte, sofern die Menschen durch intellektuelle Spekulation Zugang zu ihr hatten. Diese scholastische Wissenschaft wurde in die Hände des geistigen Standes gelegt. Man gehörte nun zu ihr durch intellektuelle Schulung und Gehorsam gegenüber der kirchlichen Autorität. Dabei traten die persönliche Inspiration und Überzeugung von Priestern und Theologen in den Hintergrund. Aufgrund des gleichen Bedürfnisses nach universeller Gültigkeit wurden die Sakramente beschränkt auf sieben, die für jeden Christen gelten sollten. Der neu geschaffene Klerus konnte nun auch die Gnadenmittel der Kirche durch allgemeingültige Regeln und Formeln (ex opere operato) verwalten. Damit beanspruchte der geistliche Stand, die Kirche, den Besitz der spiritualia, der Gnadenmittel des Geistes, und setzte diese als politisches Mittel ein, um die Ansprüche des Kaisers und des Landadels als bloß weltliche Macht, säkular (von saeculum, Epoche), abzutun. Mit diesen theoretischen, rechtlichen und politischen Instrumenten ausgestattet, konnte die Kirche ihre räumliche und politische Autorität gegenüber Adel, Königen und Kaisern wirksam ausüben.

In diesem Prozess begann auch das Wort “Natur” etwas anderes zu bedeuten als zuvor. Physis bedeutet bei Platon “Pflanzung”, und die Polis war auch ein Teil des Lebensprozesses und mit Wachstum (φυω=wachsen) verbunden 10. Mehr und mehr wurde die Natur nun zur toten Materie, zur geregelten und den Gesetzen unterworfenen Natur. In der Theologie hingegen wurde das Übernatürliche zunehmend als Abwehr gegen die so mechanistisch konzipierte Natur beschworen. “Es wurde zur Natur Gottes, übernatürlich zu sein” 11. Dies blieb immer eine sehr prekäre Lösung, denn indem man das übernatürliche Terrain für Gott beanspruchte, räumte man dem Gegner eigentlich schon zu viel ein, was das Verständnis der Natur als bloß tote Natur betrifft. “Im geistigen Bereich klammert man sich an die geoffenbarte übernatürliche Wahrheit, im materiellen Dasein lehnt man gerade wegen der mechanistischen Weltanschauung die offenbarungsträchtigen Erfahrungen ab, die die rhythmische organische und lebendige Zeit bietet” 12. Damit war der Grundstein für eine mechanistisch-liberale Weltanschauung gelegt, in der die Naturgesetze selbst als Ersatz für die bis dahin von der Kirche im Kirchenrecht verkündeten allgemeinen Gesetze fungieren konnten. Der Gott, der in der kirchlichen Zeit des Mittelalters durch eine allgemeingültige Theologie und das Kirchenrecht die Gemüter beherrschte, trat immer mehr in den Hintergrund und hinterließ der Welt einen leeren Raum, in dem nur noch rationalistische und utilitaristische Erwägungen im Sinne einer mechanistischen Weltanschauung herrschten.

Wie auch immer man über die räumliche Vormachtstellung der Kirche durch Kirchenrecht und allgemeingültige Theologie denken mag, diese schufen gleichzeitig einen Freiraum für soziale Organisationen und Kooperationen von unten. Zünfte und Städte gab es schon vorher, aber sie waren immer von der kaiserlichen Autorität kontrolliert und in ihren Befugnissen begrenzt. Nun übernahmen die führenden Gruppen in den Städten, unterstützt von Mönchen oder voneinander abgeschaut, gegenseitig ein Rechtssystem, proklamierten die Unabhängigkeit vom Landadel und den politischen Machthabern, begannen selbst Steuern zu erheben und verteidigten diese Freiheiten, indem sie die Anerkennung der Stadtrechte einforderten und notfalls dafür kämpften 13. In vielen Territorien des deutschen Kaisers, vor allem in Norditalien, unterstützte der Papst diese politische Bewegung des Städtebaus und der Zünfte und Bruderschaften, die ihre wirtschaftlichen Auswirkungen waren, so dass der Kaiser diese Bewegung nicht angemessen aufhalten konnte. In Frankreich stellte sich der König auf die Seite der Städte, um ein Gegengewicht zur Macht der adligen Grundbesitzer in den Regionen zu schaffen und so seine zentrale Autorität zu stärken. Durch den Aufbau einer Zivilgesellschaft in den Zünften, Bruderschaften und Städten wurden Stammes- und Familienbeziehungen in den Hintergrund gedrängt, und es entstand durch Versuch und Irrtum, unterstützt und auch kontrolliert durch das Gesetz (wenn auch oft “in the breach”), ein Raum für offene Zusammenarbeit von unten. Es entstand eine Zivilgesellschaft 14. In dieser Zivilgesellschaft behandelten sich die Menschen aus verschiedenen Stämmen in Zünften und Städten dennoch als Brüder und Schwestern, gemäß dem Wort des Herrn in Matthäus 12: 49, 50: “Diese sind meine Mutter und meine Brüder. Denn jeder, der den Willen meines Vaters im Himmel tut, ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter” 15. Es ist von großer Bedeutung festzustellen, dass auch die spätere liberale Phase, in der die so genannte Einzelperson stärker im Vordergrund steht, noch von den Reserven der Errungenschaften des sozialen Miteinanders lebt und zehrt, die in der vorliberalen Zeit des Mittelalters aufgebaut wurden und die auch in den lutherischen und calvinistischen Reformationen in Abgrenzung zur katholischen Kirche eine eher säkulare Wirkung entfaltet haben.

Während das Filioque unter Karl dem Großen Ausdruck der Instrumentalisierung der Kirche durch die Politik war, stand das Filioque nach dem Primat des Papstes für die Macht der Kirche als politischer Faktor, als Körperschaft, die über die Mittel der Gnade verfügte. Das Haupt, der Sohn, war beim Vater, aber die Kirche war sein Körper auf Erden.

Ketzerei und doch historische Notwendigkeit

In einer Rezension des Buches Epochen des Kirchenrechts von Rudolf Sohm weist Rosenstock-Huessy darauf hin, wie wichtig die Veränderung der Stellung der Kirche um 1100 war. Das Kirchenrecht wird nun zum Körperschaftsrecht, d.h. die Kirche wird als ein Geflecht von Repräsentanten und Repräsentierten verstanden 16. Man ist im rechtlichen Sinne ein Mitglied der Kirche, mit genau definierten Rechten und Pflichten. Die Kirche als Leib Christi ist selbst im säkularen Bereich ein Vorbild für die Körperschaft, denn der Corpus der Körperschaft existiert unabhängig vom Kommen und Gehen ihrer Mitglieder. Er umfasst auch die Verstorbenen 17. Die Kirche als Körperschaft ist eine Rechtskonstruktion des Menschen. Die scholastische Wissenschaft stellte Definitionen und Regeln auf und gelangte so zum Begriff der Körperschaft. Rosenstock-Huessy weist darauf hin, dass die Vorstellung von der Kirche als Körperschaft nicht selbstverständlich ist, denn “die katholische Kirche ist nicht von Menschen für Gott, sondern aus Menschen von Gott erbaut” 18. Letzteres ist natürlich auch die orthodoxe Auffassung. Aber diese organisatorische Veränderung, die Kirche als eine von Menschen errichtete Körperschaft darzustellen, wurde vom Staat erzwungen. Die bevorstehende Unterwerfung der Kirche unter den Staat machte sie unumgänglich. Schon Karl der Große ernannte seine eigenen Kapläne, seinen eigenen Klerus. Kaiser Heinrich III., der 1046 drei Päpste absetzte und einen vierten ernannte, war gleichzeitig derjenige, der auch die Bischöfe zu weltlichen Fürsten erhob. Damit drohte die Verweltlichung der Kirche. Deshalb musste die Kirche dem weltlichen Rechtsanspruch der Fürsten - die ja auch Christen waren - mit dem “Panzer” des Rechts begegnen 19. Das war eine Notmaßnahme. Zudem ist das Vorgehen Kaiser Heinrichs III. kein isoliertes Ereignis, sondern stellt den Höhepunkt der germanischen Kirchenpolitik dar. Diese hat nichts mehr mit der antiken Stadtkultur gemein, sondern folgt dem Rechtsempfinden der Stämme. Nach dem Rechtsempfinden der Stämme wird die Kirche zum Eigentum der weltlichen Herrscher und Fürsten. Infolgedessen wurden Laienbischöfe, Laienäbte, Adel und Vererbung in geistlichen Ämtern üblich. So wurde die Kirche meist zu einer Familienangelegenheit. So konnte man beispielsweise einem Kloster, in dem ein Verwandter Abt war, ein Stück Land schenken, um zu verhindern, dass eine konkurrierende Adelsfamilie Anspruch darauf erhob. Man konnte es auch zurücknehmen und die ursprüngliche Schenkung rückgängig machen, wenn das Vorteile bot 20. In dieser Situation kam die Kirche selbst nicht umhin, die Aufgabe zu übernehmen, die bis dahin die weltlichen Städte und Herrscher wahrgenommen hatten: die Menschen als Einzelpersonen aus ihren Blutsbanden herauszulösen 21. Es ist kein Zufall, dass sich im Osten zur gleichen Zeit die Mönche auf den Berg Athos zurückzogen. Dort ging es um das gleiche Problem: die Aneignung der Kirche durch den Adel. “Das Fehlen der weltlichen Zubringerin, der Polis (Civitas, Stadt), hat der Kirche, im Augenblick des tiefsten Zurücksinkens in Geschlechtserbfolge und angesichts des drohenden Aufgehens der Kirchenordnung im Volksrecht, die zentralistische Reform und die literarische Rezeption aufgezwungen. Dem Morgenland blieb dergleichen damals noch durch die eine Großstadt Byzanz erspart” 22.

Der Protestantismus lehnte freilich diese rechtlich-körperliche Auffassung der Kirche ab. Insofern ist es der Gipfel der Opposition, auch im Westen, gegen diesen Status der Kirche. Zuvor hatten sich Waldenser, Franziskaner, Hussiten und andere gegen diese Verweltlichung der Kirche als juristische und politische Machtinstitution gewandt. Nur mussten auch sie, trotz der vom Protestantismus und anderen geistlichen Bewegungen angestrebten Verinnerlichung, für ihre eigene Kirchenorganisation immer wieder Anleihen beim katholischen Recht machen. Schließlich legten die protestantischen Kirchen die Kirchenherrschaft in die Hände des Staates, der nun selbst als Körperschaft konzipiert war. Diese protestantische Widerstands- und Protestbewegung verlor ihren Sinn, sobald die katholische Kirche ihrerseits aufhörte, das römische Recht zu rezipieren und sich rechtlich zu definieren. Diesen Zeitpunkt sieht Rosenstock-Huessy als gekommen an. “Eine Rechtfertigung des Abendlandes gegenüber dem Osten am Grabe seiner Hoffnungen, auch so lässt sich die neue Epochengliederung lesen” von Rudolf Sohm 23. Denn erst jetzt, nach der himmelsorientierten alten Kirche in den ersten 1000 Jahren und der weltorientierten Kirche aus dem Investiturstreit in den zweiten 1000 Jahren, beginnt eine neue Epoche. Es reicht nicht mehr aus, die Menschen in ein allgemeingültiges Denk- oder Rechtssystem einzubinden. Es ist das Zeitalter des Geistes, in dem die Menschen in ihrer Lebensweise und im gesellschaftlichen Umgang christlich werden (müssen): “Der christlichen Kirche tritt erst heut zur Seite, was sie selbst im letzten Jahrtausend geschaffen hat, das christliche Volk” 24.

Diese letzte Bemerkung von Rosenstock-Huessy steht im Einklang mit der Rolle, die er für die Gesellschaft, das soziale Kraftfeld, als Erbe der Kirche sieht. Gerade durch die Kirche ist die Gesellschaft als ein Netzwerk von Menschen, Institutionen und Staaten global geworden. Die Zukunft der heutigen Gesellschaft hängt von der Qualität des Zusammenspiels all dieser Akteure ab. Dieses Netzwerk von Akteuren ist in der Tat so komplex und umfangreich, dass weder die Kirche noch der Staat es kontrollieren können. So werden das Zeitalter der Kirche (die ersten 1000 Jahre) und das Zeitalter des Staates (die zweiten 1000 Jahre) durch das Zeitalter der Gesellschaft abgelöst. Nicht nur die menschliche Seele (die ersten 1000 Jahre), nicht nur der menschliche Verstand (die zweiten 1000 Jahre), sondern ihr physisches Dasein wird von nun an durch das Evangelium geprägt sein. Das ist die Zeit, die vor uns liegt.

Mit der scholastischen Wissenschaft, die Ordnung und Herrschaft bringt, gewinnt der Intellekt den Vorrang vor dem Gefühlsleben. Und mit der ordnenden und disziplinierenden Tätigkeit der Kirche erhält diese eine dominierende Rolle in Gesellschaft und Politik. Die Nationalstaaten übernahmen diese regulierende und disziplinierende Rolle zunehmend von der Kirche. Diese weltlich regulierende Rolle der Kirche war streng genommen eine Häresie, aber, wie Rosenstock-Huessy deutlich macht, auch eine unausweichliche Entwicklung und damit eine notwendige Phase. Sowohl Ehrenberg als auch Rosenstock-Huessy sehen ihre Zeit als das Ende dieser Ära. Rosenstock-Huessy zeigt dies durch eine soziologische und historische Betrachtung, wie wir sie bisher dargestellt haben. Ehrenberg ergänzt diese Überlegungen durch eine theologische und spirituelle Betrachtung. Wir werden nun zunächst Ehrenberg darin folgen und dann zu Rosenstock-Huessys Interpretation des grundlegenden Wandels zurückkehren, der sich im Westen vollzogen hat und durch den das Zeitalter der Scholastik, der Dominanz nicht nur der Kirche, sondern auch des Staates und der rationalistischen und utilitaristischen Ethik vorbei ist. Seine Formulierung dessen, was er das “Gesetz der Technik” nennt, schärft dieses Verständnis weiter.

Ehrenberg über Russland und den Westen

Im Jahr 1923 veröffentlichte Ehrenberg zwei Bände mit Texten russischer politischer und historischer Denker (Band I) sowie philosophischer und theologischer Denker (Band II) 25. Beide Bände versah er mit einem Nachwort. Das erste Nachwort befasst sich mit der “Europäisierung” Russlands und das Nachwort zum zweiten Band mit der “Russifizierung” Europas. In der Begegnung zwischen Russland und Europa stellt er also die Frage, was sie voneinander lernen können. Und nicht nur das. Beide Traditionen befinden sich auch in einer historischen Krise oder einem Übergang, und das Problem, vor dem sie stehen, ist ein gemeinsames, und das ist, modern ausgedrückt, die entstehende globale Gesellschaft 26. Ehrenberg hat diese beiden Verbindungen nicht ohne persönliche Teilnahme an diesem Austausch hergestellt. Während seiner Leipziger Professur stand er zehn Jahre lang in engem Kontakt mit russischen Denkern, die in den Westen emigriert waren und in Leipzig studierten (wie auch viele in Berlin, Heidelberg, Paris und anderen Städten) 27.

Seit Peter der Große Russland zu modernisieren begann, fand ein Austausch zwischen Russland und Europa statt. Dieser Austausch führte zu einem neuen politischen Denken in Russland im 19. Jahrhundert und zu einem neuen philosophisch-theologischen Denken im 20. Jahrhundert 28. „Das russische Denken erwacht also gerade erst zu der Aufgabe, in einen Austausch mit dem Geist Europas zu treten” 29. Dieser Austausch steht in einem Spannungsverhältnis, weshalb viele russische Denker zwischen Nationalismus und Theokratie einerseits und dem Erbe Europas und einer neuen globalen Ethik, wie sie von Dostojewski und Tolstoi vorgeschlagen wurde, andererseits hin- und herpendeln. Es ist eine intellektuelle Neuorientierung. Einige russische Denker wie Solowjew, aber auch Dostojewski sehen die Kirche als heimlichen Führer des russischen Staates und sind der Meinung, dass - um einen Ausdruck Dostojewskis zu verwenden - der Staat zur Kirche werden sollte. Die Dualität von Kirche und Staat und die damit einhergehende gegenseitige Korrektur ist charakteristisch für West-Europa. Die Osteuropäer hatten dafür keinen Sinn, aber auch viele Europäer haben (so Ehrenberg seinerzeit) keine Vorstellung mehr von der kritischen Rolle der Kirche gegenüber dem Staat in früheren Zeiten. Der Staat im Osten, so Ehrenberg, ist nicht in die christliche Gelehrtenschule eingetreten und “übertrifft die Reichskulturen des alten Ostens an despotischer Brutalität”, weil er Despotismus nicht nur zu einer Tatsache, sondern sogar zu einem Recht macht 30. Dieses gewaltsame Durchgreifen macht im Osten also den Staat zu einem Problem. Im Westen ist es die Kirche. Zu dieser zweiten Frage kommt Ehrenberg in seinem Nachwort zum zweiten Band.

Die russischen Denker, die Ehrenberg in diesen beiden Bänden anspricht, sind durch den Austausch mit dem Westen zu ihrer Theologie und Philosophie gekommen, haben aber dennoch ihre verborgenen Quellen und Inspirationen in der russisch-orthodoxen Kirche. Diese steht noch in der Tradition der alten Kirche, die im Westen nach dem Investiturstreit von der römisch-katholischen Kirche abgelöst wurde. So steht die Russisch-Orthodoxe Kirche gegenüber dem Westen als Erbin der christlichen Antike. In ihr ist die Spiritualität der ersten 1000 Jahre noch bewahrt. Damit eröffne die orthodoxe Ostkirche dem Westen eine neue Inspirationsquelle, die der Westen, so Ehrenberg, dringend benötige. “So öffnet sich Russland zwar nach Europa - daran kann kein Zweifel bestehen -, aber der Kraftstrom fließt bei dieser Kapitulation von den Besiegten zu den Siegern. Dem Christentum des Abendlandes wird vom christlichen Osten sein gutes Gewissen im Leben und Denken zurückgegeben” 31. Die östlich-orthodoxe Spiritualität kann den Westen neu beleben. Auf natürliche Weise gewinnt der Westen, auf übernatürliche Weise gewinnt die russische Orthodoxie.

Die Kirche des Ostens wird von Ehrenberg als die johanneische Kirche charakterisiert 32. Das Evangelium und die Briefe des Johannes finden Worte für das kosmische Geheimnis des Christentums: Die Welt ist durch das Wort geschaffen, und Christus herrscht von Anfang bis Ende. Dieses geistliche Geheimnis der Weltgeschichte ist der eine Teil der Gaben des Johannes an die Kirche. Die Liebe als sich selbst hingebende Liebe, die das ganze Geheimnis des christlichen Lebens ausmacht, ist der andere Teil. Im Westen wird diese Liebe jedoch im kanonischen Recht und in einem System sozialer und ethischer Regeln umgesetzt und gestaltet. Im Osten hat sich diese Verbundenheit mit Christus nie in Regeln und Gesetze verwandelt, sondern ist viel mehr geistig geblieben. Die Kraft der Seele ist direkt unter der Oberfläche präsent, nicht vermittelt durch und nicht begraben unter Regeln. Berdjajew drückt es so aus: “Bei den Russen fehlt diese Ehrfurcht vor der Kultur, die für die westlichen Menschen so charakteristisch ist. Dostojewski sagte, wir seien alle Nihilisten. Ich würde sagen, dass wir Russen entweder Nihilisten oder Apokalyptiker sind. Wir sind Apokalyptiker oder Nihilisten, weil unsere Energien auf das Ende gerichtet sind und wir nicht viel Verständnis für die Allmählichkeit des historischen Prozesses haben.”33 Die irdische Wirklichkeit ist hart. Aber die östliche Orthodoxie weiß um ein Geheimnis, das dem Auge durch eine Mauer der Trennung sichtbar verborgen ist, das aber deshalb den Menschen umso spiritueller berühren kann. Der Mensch wird auf Distanz gehalten. Er sieht, dass er keinen Zugang hat. Seine Sehkraft ist begrenzt. Umso mehr kann sich sein Gehör für das öffnen, was aus dem Jenseits kommt: Gott, der durch seine Liebe letztlich die Welt regiert. So funktioniert die Ikonostase in der Kirche. - Aus dieser geistigen Quelle schöpfen russische Denker offen oder verdeckt. Und gleichzeitig sind sie, ebenso wie die westlichen Denker, dem Einfluss der Entwurzelung ihrer Traditionen ausgesetzt. Es ist eine Situation voller innerer Widersprüche. In Russland (1923), so Ehrenberg, gibt es gleichzeitig diese Verwurzelung und diese Entwurzelung: “So viel Nihilismus, so viel gestaltlose Menschlichkeit, so viel Verwurzelung und Entwurzelung zugleich!” 34.

Warum ist die russische Orthodoxie dennoch der geistige Sieger? Hierfür gibt es mehrere Gründe, sowohl kirchliche als auch gesellschaftliche. Um mit dem ersten zu beginnen: In Deutschland hat die Kirche das Vorrecht ihrer kirchlichen Verwaltung an die Regierung ausgelagert (so ist es auch 1923 noch) und das Vorrecht ihrer kritischen Botschaft an die Universität. Seit der Reformation waren insbesondere die theologischen und juristischen Fakultäten immer das Gewissen der Regierung. Die Universität hatte diese Rolle seit der Reformation in Analogie zur Rolle des Papsttums im Mittelalter, einerseits als Legitimation und andererseits als Orientierung. Die Universitäten konnten von sich aus die Regierung auf Missstände aufmerksam machen und diese untersuchen. Das war Teil der akademischen Freiheit. Die Freiheit der Universität, Kritik zu üben und politische Maßnahmen für die Regierung zu gestalten, ist aber nach der Gründung des deutschen Einheitsstaates unter Bismarck nicht mehr das, was sie war. Schließlich konnte man in der Vergangenheit jederzeit in ein anderes Fürstentum überlaufen 35. Die Freiheit der Universität wird und verkommt nun zur Freiheit der Kritik als Wert an sich, zum Relativismus also. Ehrenberg spricht hier von einem babylonischen Exil sowohl der Kirche als auch der Universität. Rationalismus und Positivismus haben sich durchgesetzt. Das hat Folgen für Kirche und Theologie. Der Glaube an die Trinität wurde wegrationalisiert und vom Glauben an den Heiligen Geist ist nur noch ein individualistisches Projekt übrig geblieben - wie im Pietismus. Christus wurde monophysitisch interpretiert, indem man seine Göttlichkeit in den Vordergrund stellte. So hat die katholische Kirche als Anbieterin von Gnadenmitteln fungiert. In der evangelischen Kirche hat Christus keinen Raum für den Vater und den Geist gelassen. Die Schöpfung wurde zur Natur verwässert und die Frömmigkeit individualisiert. Wegen dieser Individualisierung der Frömmigkeit hat die Kirche auch die Bedeutung der sozialen Frage nicht erkannt. Sie konzentrierte sich nur auf die innere Frömmigkeit und die persönliche Moral.

Am Ende seines zweiten Epilogs formuliert Ehrenberg eine Reihe von Forderungen an Kirche und Theologie, durch die insbesondere seine eigene Kirche, die evangelische, zu einer Neubesinnung kommen sollte, und zwar zu einer Neubesinnung auf dem Nährboden östlicher Spiritualität. Wir fassen einige zentrale Punkte zusammen:

  1. Die Person, von der die Lehre ausgeht, ist die Kirche, und zwar nicht als eigenständige Organisation wie im Katholizismus oder gar ersetzt durch ein Buch, so dass die Kirche selbst unsichtbar bleibt, wie im Protestantismus. Die Kirche ist der Heilige Geist, der von Gott ausgeht und durch Christus in den Menschen verkörpert wird (Ehrenberg lehnt das Filioque ab). Die Kirche ist also nicht in erster Linie eine rechtliche Institution, wie die katholische Kirche, und nicht in erster Linie eine lehrhafte Institution, wie die evangelische Kirche. Die Kirche existiert leibhaftig in den Menschen, die ihr angehören, so wie sich die russische Orthodoxie darstellt.
  2. Die Verbindung von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung mit den drei organisch verwandten Worten Haupt, Leib, Glieder ist die Lehre von der Trinität. So wird einerseits die Heilsgeschichte in ihrer Abfolge der Epochen in der Trinität zusammengefasst. Andererseits beschreibt sie aber auch die bleibenden Formen der Gegenwart Gottes bei den Menschen in der Gegenwart.
  3. Jede Lehre, die mit einem allgemeinen “Begriff “ von Gott beginnt, lässt die Wurzel der Geschichte in Israel absterben und setzt an ihre Stelle eine künstliche philosophische Wurzel. Israel ruft den Namen Gottes über alle Namen und über alle Mächte an. Dies geschieht nicht aufgrund einer Theorie und eines Begriffs, sondern aufgrund schlechter Erfahrungen mit allen sogenannten höheren Mächten, d.h. dem Ahnenglauben und dem Glauben an die kosmische Hierarchie der umgebenden Völker. Israel ist auf der Suche nach einer Macht, die darüber steht. In diesem Sinne ist Israel dualistisch, d.h. es greift von der Erde zum Himmel, in die Zukunft. Dieses Ausstrecken und Anrufen einer Macht, die über den Mächten steht, beruht nicht auf einem Begriff oder Verständnis, sondern ist in erster Linie ein Ereignis, eine Geschichte. Es ist ein Ruf nach Gerechtigkeit, an eine Macht, die über den Mächten steht, die erst noch kommen und die Mächte richten wird. Wegen dieses Verlangen nach die Zukunft sind Gebet und Lobpreis charakteristisch für Israel. Für die christliche Kirche hingegen ist das Bekenntnis charakteristisch. Denn es ist etwas geschehen, eine Veränderung hat stattgefunden, die Anerkennung verlangt. Dieses Ereignis besteht in Kreuz und Auferstehung Christi, dem nun alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist. Es ist der Weg des liebenden Leidens, der die Tür zur Zukunft und damit einen Weg von immer weiteren Schritten öffnet. Die Vollendung wird nicht auf einmal erreicht, sondern jede Generation geht einen Schritt weiter. Damit wird der Dualismus von harter Realität und transzendenter Hoffnung überwunden. Die Kirche bekennt sich zum Namen der Heiligen Dreifaltigkeit, und dieses Bekenntnis ist auf die Erlösung ausgerichtet. So haben die Heiden Boden unter den Füßen. Israel hat einen Himmel über sich, die Zukunft. Die Kirche hat sowohl Boden als auch Himmel, indem sie nach Gerechtigkeit strebt und die liebende Hingabe bekräftigt, aus der sie lebt.
  4. Die Lehre des Heiligen Geistes ist auf die Vollendung ausgerichtet, was konkret bedeutet: Die Frucht der Lehre ist das Leben. Die Lehre gipfelt im Leben. Dies zeigt sich auch in der Abfolge Haupt, Leib, Glieder. Das Haupt der Kirche, Christus, ist im Himmel: So ist das Zeugnis der Kirche der ersten tausend Jahre. Die zweiten tausend Jahre, in der römisch-katholischen Kirche, zeigen die Dominanz der Kirche als Leib Christi auf Erden. Die Kirche ist führend bei der Einigung der Welt. Von nun an, in der nachkirchlichen Zeit, verkörpert sich der Geist in den Gliedern. Die Glieder führen ihr Dasein im gesellschaftlichen Kraftfeld. In diesem Sinne ist die Gesellschaft Tochter und Erbin der Kirche 36.
  5. Monophysitischen Tendenzen in der Lehre von Christus, das heißt der einseitigen Betonung seiner göttlichen Natur (mono-physis), und in der Lehre von der Kirche, die meint, über die Mittel der Gnade zu verfügen, ist entgegenzutreten. Christus ist die erste von Gott angesprochene Du-Person, und so bedeutet die Offenbarung in Christus das Lebendig-werden eines neuen Menschen. Entsprechend der dogmatischen Grundlage der Offenbarung des Sohnes in Christus muss sein Menschsein voll zum Ausdruck kommen. Die leidende Kirche des Altertums konnte das noch nicht in angemessener Weise tun. Damals ging es nur um Buße und Bekehrung. Erst jetzt, im Zeitalter des Geistes, werden die schöpferischen Kräfte des Heiligen Geistes weiter entfaltet. Es wird etwas aufgebaut. Das ist die Zeit, die vor uns liegt.

    In der Formulierung “Christus als Du-Person” übernimmt Ehrenberg den Sprachgebrauch Florenskis. Florenski zeigt in seiner Sprachphilosophie eine faszinierende Ähnlichkeit mit der Sprachphilosophie von Rosenstock-Huessy 37. Für das Verständnis der beiden steht am Anfang aller Sprache der Imperativ. Selbst Namen wirken als Imperative. Der Mensch ist immer ein antwortendes Wesen. Das Gebot der Liebe setzt die göttliche Ich-Person voraus. Eigentlich gibt es nur ein Ich: “…denn ich bin der Herr, dein Gott…”. Der Mensch ist die antwortende Du-Person, und Jesus Christus ist der erste und einzige, der dies voll und ganz ist, durch die sich selbst verschenkende Liebe, die ihn ans Kreuz bringt. Die Glieder seines Leibes sind das Wir, das folgt. Die Erlösung der Welt wird dadurch bewirkt, dass die Menschen dem Ruf gehorchen, nicht nur als Einzelne, sondern durch diesen Befehl und die Antwort des Sohnes werden sie zu einem Wir zusammengeschmiedet.

    Der Protestantismus hat Christus primär zum Zentrum des göttlichen Handelns gemacht und die Lehre von Schöpfung und Erlösung verkürzt. Berdjajew weist in seinem Beitrag zu Ehrenbergs Textsammlung darauf hin, dass der Mensch nicht nur durch den Glauben, sondern auch “durch Kreativität” gerechtfertigt wird. Damit meint er: Wir Menschen haben unseren schöpferischen Beitrag für die Zukunft zu leisten. Der Mensch wird nicht nur klein und demütig, indem er seine Sünden bekennt und zum Glauben kommt, sondern Glaube bedeutet auch, schöpferische Schritte in die Zukunft zu tun, größer zu werden als der, der man war. So tragen die Menschen als Glieder der künftigen Weltgesellschaft konkret und greifbar zum Heil bei, und so kommt die Menschlichkeit des Lebens als neuer Mensch und damit das Wirken des Geistes zum Tragen.
  6. Die Gabe des Heiligen Geistes bedeutet, dass wir einen geistigen Zugang zu Gott haben und dass dieser Geist ständig auf die Menschen ausgegossen wird. Dieser Zuwachs an Erkenntnis ist eine Erkenntnis von Mensch zu Mensch, von Herz zu Herz, in vollkommener Liebe.

Die Zeilen, die Ehrenberg hier mit einer Würdigung der ostorthodoxen Spiritualität für die Zukunft darlegt, gehören alle in das Zeitalter des Geistes. In dem Buch Heimkehr des Ketzers argumentiert Ehrenberg, dass die Zeit vorbei ist, in der christliche Kirchen und Gruppen in ihrer Einseitigkeit und “Häresie” jeweils eigene Wege gingen. An die Stelle einer Zeit der Divergenz ist eine Zeit der Konvergenz getreten. Im Zusammenspiel der Netzwerke der entstehenden globalen Gesellschaft werden die sozialen Akteure von einer Vielfalt spiritueller Quellen genährt. Der gemeinsame Nenner all dieser Inspirationen ist der zukünftige Frieden. Die Ernährung durch diese verschiedenen religiösen Inspirationen ist notwendig, denn ohne sie sind die gesellschaftlichen Akteure nur Kräfte im Raum. Endlose Zusammenstöße sind daher unvermeidlich. Die nackten Kräfte im Raum brauchen die Bekleidung durch geistige Mächte, um Frieden zu schaffen.

Konstruktion und Energie

Die obigen Ausführungen sind nicht nur theologisch, sondern vor allem auch soziologisch von Bedeutung. Ehrenberg legt stets großen Wert auf die geistige Durchdringung der Offenbarung in der östlichen Orthodoxie. Es scheint, dass Ost und West unterschiedliche Lösungen für die Vermittlung zwischen Gott und Mensch anbieten. Dies hängt mit der räumlichen Aufgabe zusammen, die sich die Kirche im Westen in Abgrenzung zum zeitlich orientierten Osten gestellt hat, und macht diese notwendig. Ehrenberg schließt sich Rosenstock-Huessys Interpretation der westlichen Geschichte an. Menschliche Konstruktionen, allgemeine Begriffe und Regelungen, wie sie im Kirchenrecht verankert sind, werden notwendig und unumgänglich, um eine einheitliche Herrschaft in der Gesellschaft einzuführen. Alle Sünden und Irrlehren des Westens lassen sich auf diese Notwendigkeit zurückführen.

Der Osten macht den umgekehrten Weg. Er bleibt erfahrungsorientiert und damit auch der von Ehrenberg favorisierten geschichtlichen und narrativen Entwicklung des Dogmas treuer, wie sie sich in den oben genannten theologischen Forderungen widerspiegelt. Dazu gehört auch seine Ablehnung des Filioque. Der Geist geht vom Vater durch den Sohn aus und inkarniert sich in der kirchlichen Gemeinschaft, die den Kern der Gesellschaft bildet. So geht die Bewegung Gottes auf den Menschen zu. So lernen wir Gott kennen, in seinem Wirken in der Geschichte: sein Wirken, seine Energien. Seit Palamas ist die Unterscheidung zwischen Essenz und Energie im Osten weit verbreitet. Gott ist in seiner Essenz für den Menschen unzugänglich. Er wohnt in einem unzugänglichen Licht (I Tim. 6: 16). Sein Wirken hingegen wird vom Menschen erfahren. Der Geist kommt zu uns durch die sich selbst verschenkende Liebe des Sohnes, und von ihm her nehmen wir die Güte des Vaters wahr (1 Korinther 12,4-6). Während der Westen versucht, sich Gott durch menschliche Konstruktionen und intellektuelle Spekulation anzunähern, versucht der Osten, das Wesen Gottes abzuschirmen und zieht die Vermittlung der Energien Gottes vor. Daher wird im Osten immer wieder das Problem diskutiert, ob Gottes Wirken an uns wirklich göttlich ist 38. Haben wir es bei dem Wirken Gottes, das wir erfahren, mit Gott selbst zu tun, und wenn ja, führt dies nicht zu einer Verdoppelung Gottes? Im Westen stellt sich die umgekehrte Frage, ob die menschlichen Konstruktionen den Gläubigen wirklich Gott selbst in seinem innersten Wesen durch einen Spiegel zeigen, und wenn nicht, führt das nicht zu einer Verdoppelung des Menschen, so wie im Osten die Gefahr einer Verdoppelung Gottes besteht?
Zur Verdeutlichung hier eine Skizze:

Osten Westen Gott

Was Niemandes Absicht ist, aber unmittelbar vorhanden ist, wird früher oder später unweigerlich zur Realität. Im Osten verschwindet Gott in seinem Wesen und im kirchlichen Ritual, und die Gesellschaft bleibt unorganisiert. So bleiben Gott und Mensch getrennt. Gottes Heiligkeit steht in direktem Gegensatz zu einer rauen Gesellschaft. Im Westen wird die Gesellschaft durch menschliche Konstruktion und Regulierung organisiert, aber sie wird immer menschlicher. So verschwindet Gott schließlich in einem deistischen und naturalistischen Glauben. Das Regelsystem, das Gottes Güte und Liebe widerspiegeln sollte, verselbständigt sich und wird zu einem anonymen Regelsystem. Infolgedessen wird die Gesellschaft zu einer Maschine und der Mensch zu einem Rädchen in ihr.

Naturalismus, Utilitarismus und Rationalismus

Die Gesellschaft wird zu einer Maschine - diese Entwicklung vollzog sich in zwei Phasen. Allgemeingültige Theologie und Rechtswissenschaft definierten im Mittelalter das Verhältnis zwischen Kirche und Staat und ebenso die Spielregeln der Bürger untereinander in ihren Gemeinschaften. Diese Gemeinschaften waren Klöster, Zünfte, Städte, Bruderschaften. Sie befreiten die Bürger von ihren familiären Bindungen und gaben ihnen im Gegenzug eine neue Familie in der Gemeinschaft. Diese Phase haben wir oben besprochen. Die zweite Phase besteht in der Entstehung der liberalen Nationalstaaten. Diese waren neben einer liberalen Staatsphilosophie auch geistig stark vom Protestantismus beeinflusst. Sowohl durch den Liberalismus als auch durch den Protestantismus wurden unternehmungslustige Personen wiederum aus den mittelalterlichen Gemeinschaften herausgelöst. Der Protestantismus, sowohl in seiner lutherischen als auch in seiner calvinistischen Form, konzentrierte sich auf die Gesellschaft und ersetzte die Gemeinschaften des Mittelalters weitgehend durch die handwerkliche Produktion der Unternehmerhäuser. Diese handwerklichen Produktionsstätten befanden sich zwar im Besitz einzelner Familien, aber in diesen Häusern, d. h. in Bauernhöfen, Schuhmachereien und anderen Handwerksbetrieben, einschließlich Handelshäusern, waren viele Arbeiter aus zahlreichen Familien beschäftigt 39. Dies war in der Zeit vor der Trennung von Haus und Arbeit. Die soziale Regulierung wurde der katholischen Kirche entzogen und in die Hände des Staates gelegt. Das Selbstverständnis des Staates hingegen wurde von einer utilitaristischen oder rationalistischen Staatsphilosophie bestimmt.

Letzteres geschah unter dem Einfluss des naturwissenschaftlichen Denkens und der Wiederentdeckung der Antike. In Analogie zu den kirchlichen Gesetzen, die im katholischen Kirchenrecht verankert sind, wurden in der naturwissenschaftlichen Forschung immer mehr sogenannte Naturgesetze entdeckt. Offenbar enthielt die Natur selbst ein Regelsystem, das logischer und quasi mathematischer Natur war. Wenn die gesellschaftlichen Gesetze auf solchen quasi-mathematischen und logischen Gesetzen beruhen würden, könnte die Konkurrenz zwischen protestantischen und katholischen Regierungen der Vergangenheit angehören, und damit auch die Religionskriege und alle anderen Konflikte, dachten viele. Und mit einem Schlag würden in einer solchen Zentralregierung, die die Gesellschaft nach allgemeingültigen Naturgesetzen regiert, alle Verwaltungsebenen, in denen das Modell der Kommunitäten, also Zünfte, Städte, Bruderschaften, der freien unternehmerischen Produktion im Wege stehen, abgeschafft werden. Dies war das utopische Ideal von Thomas More und anderen: eine reibungslos funktionierende, mechanische Gesellschaft. Damit wurde auch der Begriff der Natur mechanistisch und nicht mehr organisch-biologisch verstanden. Auch der Begriff der Wirklichkeit wurde in diesem Veränderungsprozess neu verstanden. Er bezeichnete nicht mehr das Wirken der Energien Gottes in der menschlichen Gesellschaft. Er bedeutete nun eine empirische Realität, die hypothetischen, von Menschen aufgestellten allgemeinen Naturgesetzen gehorchen kann oder nicht 40. Der Mensch wäre nun nicht mehr Sklave der Natur, sondern “befugter Richter” (Kant). Als solcher stellt der Mensch überprüfbare Hypothesen auf, die durch wiederholbare Experimente bestätigt oder widerlegt werden. Die Analogie zu den theologischen Auffassungen des Mittelalters besteht darin, dass die Wirklichkeit selbst (früher die Wirklichkeit Gottes) außerhalb der Erkenntnismöglichkeiten des Menschen bleibt. Die Analogie besteht aber auch darin, dass die konstruktivistische Erkenntnistätigkeit des Menschen eine brauchbare Vorstellung oder einen Suchentwurf von der (immer noch nicht erkennbaren) Realität außen aufstellt. Denn darauf zielen die Naturgesetze ab. Es geht nicht darum, zu zeigen, wie sie ist, sondern ob sie nach den etablierten Naturgesetzen funktioniert. Aus Fakten und Beobachtungen werden allgemeine Regeln abgeleitet, mit deren Hilfe dieser Vorgang vorhergesagt werden kann. Denn so kann man sich die Kräfte der Natur zunutze machen. Wie es da draußen “ist”, ist nicht zugänglich (das Ding an sich (Kant) oder die räumliche Ausbreitung (Descartes)) 41.

Diese empirische Naturwissenschaft in Verbindung mit einer liberalen Gesellschaft, die sich seit der Französischen Revolution auf den Aufbau wissenschaftlich geleiteter Großbetriebe konzentriert, hat der Hausproduktion ein Ende gesetzt und die für die heutige Zeit charakteristische Trennung von Haus und Arbeit eingeführt. Dies führte auch zu einer mechanistisch geprägten Ethik. Diese wurde von Spinoza vorbereitet und im kantischen Rationalismus und Utilitarismus von Bentham und anderen voll entwickelt. Hier werden das moralische Empfinden des Herzens und des Gewissens sowie die traditionellen Regeln der Kirche durch allgemeine quasi-mathematische Regeln ersetzt. Im Utilitarismus besteht diese Regel darin, das größte Glück für die größte Anzahl von Menschen anzustreben. Dieser Ansatz lässt sich in einer einfachen Kosten-Nutzen-Analyse ausarbeiten. In Kants Rationalismus der praktischen Vernunft besteht die allgemeine Regel in der Rationalität selbst, die sich nicht selbst widersprechen darf und daher Fairness, vor allem gerechtes Teilen, und Universalität erfordert. Diese allgemeinen Regeln funktionieren mehr oder weniger wie allgemeine Naturgesetze, so wie Spinoza sie für die Ethik mit der geometrischen Methode abzuleiten versuchte.

Das Europa, dem die russischen Denker im 19. und auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts begegneten, ist, daran sei erinnert, das Europa, in dem diese mechanistische Denkweise und Ethik noch vorherrschend waren. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig festzustellen, dass diese mechanistische, auf Naturgesetzen beruhende Weltanschauung nichts anderes ist als eine säkulare Fortsetzung des spekulativ-konstruktivistischen Kirchenrechts und der scholastischen Theologie.

Das Gesetz der Technik und die Grammatik der Sprache

Inzwischen hatten Wissenschaft und Technik die Gesellschaft grundlegend verändert. Die Fabrikproduktion brachte die Trennung von Arbeit und Wohnen mit sich, wodurch das Gleichgewicht zwischen einer protestantischen Gesellschaft und einer liberalen Regierung aufgehoben wurde. Die protestantische Gesellschaft konzentrierte sich auf Bildung und Professionalität. Die liberale Regierung und die liberalen Unternehmer neigten vor allem dazu, die Arbeit als eine von vielen Naturkräften einzusetzen und zu behandeln, während sie sie als frei verfügbar auf dem Markt einkauften. Auf diese Weise wurde die Mehrheit der arbeitenden Menschen zunehmend einer sozialen Maschinerie unterworfen. Man wurde zu einem Rädchen in der Produktion und zu einer Nummer in der Gesellschaft, entwurzelt und desorientiert. In der Konkurrenz zwischen diesen Regierungen und den so geführten Volkswirtschaften sahen die Regierungen im “Ausland” vor allem Märkte, und auch die Nationalstaaten nahmen sich gegenseitig nicht als etwas anderes wahr als Kräfte im Raum “draußen”. Man suchte nach Absatzmärkten und ließ sich von rationaler Zweckmäßigkeit leiten, ohne zu fragen, was das eigene Handeln für den anderen bedeutete 42. Diese Entwicklung kulminierte im Kladderadatsch (Marx) und Hexensabbat (Nietzsche) des Ersten Weltkriegs. Derselbe Krieg löste die Russische Revolution aus, die der Instrumentalisierung der Arbeit (in Russland des Bauernproletariats, das diese Instrumentalisierung nur in der Kriegsmaschinerie selbst in vollem Umfang erfuhr) durch eine Totalkalkulation der gesellschaftlichen Bedürfnisse und eine geplante Produktion zur Befriedigung dieser Bedürfnisse entgegenwirken wollte.

Rosenstock-Huessy stellte das folgende Gesetz der Technik auf: Technik vergrößert den Raum, verkürzt die Zeit und löst eine bestehende Gemeinschaft auf 43. Technologie bedeutet Größenvorteile, Mobilität, einschließlich sozialer Mobilität, Geschwindigkeit der Kommunikation und damit auch die Notwendigkeit und Möglichkeit, aus bestehenden Gemeinschaften auszusteigen. Dies hat zur Folge, dass sich traditionelle Gemeinschaften immer mehr auflösen. Die Entwurzelung großer Gruppen von Menschen aus ihren sozialen Bindungen ist die Ursache für die faschistische oder populistische Versuchung, den Ausgleich in der eigenen Wir-Gruppe, dem eigenen Beruf, der eigenen Nationalität oder Rasse zu suchen 44. Die Utopie einer technologiegeleiteten Gesellschaft ist in der Dystopie zweier Weltkriege untergegangen. Die Tatsache, dass Naturwissenschaft und Technik nicht automatisch zu Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand führen, disqualifiziert die Technik als solche nicht, bedeutet aber, dass Technik und Naturwissenschaft nicht führend sein können, sondern selbst Führung und Gegengewicht brauchen. Damit verabschiedet sich das 20. Jahrhundert von dem mechanistischen utopischen Denken, das mit Thomas More begann.

In unserer Zeit sprechen wir freilich weniger von einer mechanistischen Weltanschauung. Im digitalen Zeitalter sehen wir den Menschen eher als eine bloße Funktion in einem umfassenden System. Aber auch die Existenz als Funktion in einem Algorithmus oder in einem Protokoll wird der menschlichen Verantwortung nicht gerecht. Bis zu einem gewissen Grad ist diese funktionale Seite zwar auch Teil des Menschseins, aber wenn die gesamte Existenz davon ausgefüllt ist, verliert der Mensch seine Elastizität. Seine/ihre Verantwortung wird nicht mehr herausgefordert und so wird man zu einem geistigen Zwerg, einem engstirnigen Konsumenten, zu gehorsam, ängstlich. Für Rosenstock-Huessy besteht das Gegengewicht zu dieser - noch mechanistisch - reduzierten Menschlichkeit in der Sprache. Russische Philosophen wie Florenski und Berdjajew und andere sahen dieses Gegengewicht vor allem in der Seele, deren Kräfte in der östlichen Orthodoxie gerettet und gesichert wurden. Doch von diesem Ausgangspunkt aus bewegten sie sich aufeinander zu, denn für Rosenstock-Huessy ist nicht die Sprache als System die Antwort auf die mechanistisch gewordene Gesellschaft (also die Sprachauffassung des Strukturalismus), sondern die lebendige Sprache, die aus dem Herzen, aus der Seele gesprochen wird. Umgekehrt sahen die russischen Philosophen die Zeit gekommen, dass die Seele, die bisher in der Liturgie der östlichen Orthodoxie geborgen war, nun im sozialen Kraftfeld selbst zu Wort kommen sollte. Sowohl für Rosenstock-Huessy als auch für Florenski beginnt alle Sprache mit dem Imperativ. Florenski spricht vom göttlichen Ich, das den Menschen imperativisch als Du anspricht. So angesprochen, antworten die Angesprochenen als Wir, und so bewirkt die Sprache ein gegenseitiges Verstehen und eine neue Grundlage des Zusammenlebens. Rosenstock-Huessy sieht den Beginn der Sprache in dem Imperativ, der den Menschen als Du anspricht: Jetzt ist es am Menschen, zu antworten und Ich zu sagen. Im Dialog machen die Menschen Vorschläge und Gegenvorschläge, und dies ist nicht mehr nur ein intellektueller Prozess. Die Menschen werben auch umeinander, öffnen sich füreinander, übernehmen die Standpunkte des anderen, und so entsteht nicht so sehr ein abstraktes Verständnis, sondern ein Verständnis füreinander, so dass ein Wir 45 entsteht. Namen, Geschichten sind Mächte, die die Kräfte der Menschen beanspruchen, und es liegt an den Menschen, die auf das höhere Kommando hören, hier Ordnung zu schaffen und einen Weg zu wählen, miteinander in Einklang zu kommen und zum Handeln zu kommen. Es würde zu weit führen, diese Sprachphilosophie russischen und westlichen Stils hier näher zu erläutern. Aber der Einsatz und der Impetus sind derselbe. Der gemeinsame Nenner ist auch, dass Sprache als lebendige Rede, als rechte Rede, ein religiöses Ereignis inmitten einer vermeintlich säkularen Gesellschaft ist. Das Ringen um das rechte Wort und die Sensibilität für das rechte Wort werden nicht mehr nur in der kirchlichen Liturgie oder Predigt praktiziert, sondern dort, wo Menschen im gesellschaftlichen Kräftefeld die Welt der Zukunft gestalten. Damit beginnt das Zeitalter des Geistes, der aus der Seele spricht, die schon jenseitig ist, die schon in der Vollendung wohnt. Die Seele ist schon auf der anderen Seite, schon am Ende, und wir haben die gegenwärtige Situation nur verstanden, wenn wir nicht nur mit Ursache und Wirkung rechnen, sondern die gegenwärtige Situation als Zwischenschritt und Vorbereitung auf die Vollendung verstehen. Von der Vollendung her zieht der Sohn alle Dinge zu sich (Johannes 12,32). So wirkt der Geist durch den Sohn. Das gerade und wahre Wort muss inmitten des sozialen Kraftfeldes gefunden und gesprochen werden, wo die wirtschaftliche Produktion und die Gestaltung der Zukunft stattfinden. Im sozialen Kraftfeld fallen die Entscheidungen. Dort müssen sie auch fallen. Die Kirchen treten in den Hintergrund, sind aber dennoch auf diese Weise, aus diesem Hintergrund, orientierend präsent. Sie verkörpern die langjährige Tradition und lassen die Stimmen der Vergangenheit zu Wort kommen, aber die Entscheidung über den nächsten Schritt, die Kreativität, mit der eine neue Gesellschaft initiiert wird, fällt in das Feld, in dem die gesellschaftlichen Kräfte interagieren. Das ist der Ort, an dem sie ihre Bekleidung durch historische Mächte erhalten müssen, um nicht nackt aufeinander zu prallen, sondern den Beitrag des anderen anzuerkennen. Die Kirche und die kirchliche Tradition wirken auf der Distanz des Geistes.

Fazit: eine gemeinsame Mission für Ost und West

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden das lebendige Sprechen und die Grammatik der Sprache als Quelle gesellschaftlicher Orientierung entdeckt. An dieser Entdeckung waren sowohl russische als auch westliche Theologen und Philosophen beteiligt. Sie sahen in der entstehenden globalen Gesellschaft den Beginn des Zeitalters des Geistes. Für Ehrenberg, insbesondere in seinem Buch Die Heimkehr des Ketzers, bedeutet dies ein globales gegenseitiges (oder allseitiges) Erbe der Traditionen der jeweils anderen. Für Russland und Europa sollte dies laut Ehrenberg einerseits die Russifizierung Europas und andererseits die Europäisierung Russlands bedeuten. Die Russifizierung 46 Europas befreit das westliche Denken von der Instrumentalisierung des Menschen in der Sphäre der Arbeit und von einer rein rationalistisch-utilitaristischen Ethik im gesellschaftlichen Verkehr. In der Sowjetunion übernahm der wissenschaftliche Sozialismus diesen westlichen Ansatz und setzte ihn noch konsequenter um. Die östlich-orthodoxe Spiritualität aber legt einen Boden liebender Selbsthingabe unter die Existenz durch den Geist, der vom Vater ausgeht und durch den Sohn unter uns wirkt. Es ist jedoch an der Zeit, dass diese gläubige Erkenntnis aus den verborgenen Tiefen der Kirche in den öffentlichen Raum der Gesellschaft getragen wird. Dies kann geschehen, indem diese theologische Formulierung vom Geist, der vom Vater ausgeht und durch den Sohn zu uns kommt, aus dem geschlossenen Raum der kirchlichen Liturgie in das gesellschaftliche Leben getragen wird. Dann wird der Mensch in die Position des antwortenden Du versetzt und als Antwort auf den Appell der Liebe zu einem Wir geführt, das in gegenseitiger Verantwortung die Gesellschaft der Zukunft aufbaut 47. So weit ist es nicht, noch nicht - noch nicht im Osten, aber auch nicht im Westen.

Und doch hat sich in den rund hundert Jahren seit den Entdeckungen von Rosenstock-Huessy und Ehrenberg etwas verändert, denn es hat sich eine Ethik der Verantwortung und der gegenseitigen Kommunikation herausgebildet, die das immer noch vorherrschende instrumentelle Denken ergänzt. Der Appell an die Verantwortung und die gegenseitige Kommunikation wird oft dann laut, wenn eine Krise auftritt, die nicht mehr durch kühles Kalkül und Planung gelöst werden kann. Dann bleibt den Menschen nichts anderes übrig, als mit dem Räsonieren aufzuhören und miteinander zu reden.

Um die vorherrschende Instrumentalisierung im gesellschaftlichen Verkehr und in der Arbeit zu kompensieren, suchen die Menschen im Westen nach Selbstbestimmung und konzentrieren sich auf das individuelle Glück in der Sphäre der privaten und konsumtiven Existenz. Das Gleiche geschieht in Russland und vielen anderen “östlichen” Ländern. Kleine und verkürzte Menschen flüchten sich in eine Existenz als Konsumenten und Privatleute, im Osten nicht durch den internationalen Wettbewerb der Großkonzerne, sondern unter dem Einfluss eines alles beherrschenden Staates, der nicht, wie von Dostojewski gewünscht, zur Kirche, sondern zu einem zentral gesteuerten hierarchischen Großkonzern geworden ist. Westliche Institutionen, insbesondere eine offene Zivilgesellschaft des gegenseitigen Vertrauens, garantiert durch unabhängige Rechtsinstitutionen, das Erbe der westlichen Geschichte, leiden im Westen oft unter Verschleiß und führen im Osten meist ein Randdasein. Es ist der tapfere ukrainische Staat und die ukrainische Nation, die angesichts des hierarchischen russischen Regimes genau ihren Anteil an diesem westlichen Erbe aus der Zeit vor dem UdSSR 48 wiederbeleben.

Aber wenn die Sprache als Mittel der Verständigung und als Mittel zur Schaffung von Verständnis und Gleichzeitigkeit auf beiden Seiten ernster genommen worden wäre, hätte es diesen Konflikt nicht geben müssen. Dann hätte der Westen Russland in den 1990er Jahren möglicherweise nicht einseitig Liberalisierung und Marktkräfte aufgezwungen. Er hätte verstanden, dass dies in Russland, wo es eine Zivilgesellschaft des Vertrauens und der gegenseitigen Zusammenarbeit nicht gab, nur kontraproduktiv sein kann. Dies war der Fall, und das Ergebnis war die Kleptokratie von Putin und seinesgleichen. Russland hätte das westliche Erbe der Rechtsstaatlichkeit und der Zivilgesellschaft in einem langsameren Tempo übernehmen müssen. Wäre umgekehrt die Entdeckung der Sprache des Appells und der Antwort der Religion auch in Russland stärker in die Gesellschaft hineingetragen worden, wie es sich Florenski und Ehrenberg vorstellen, hätte Russland vielleicht nachgedacht und von seinem Versuch Abstand genommen, den ukrainischen Staat zu übernehmen. Wenn man den Mantel der Sprache abwirft, bleiben Nihilismus und Verlogenheit übrig. Putin und seinesgleichen tun nicht nur der Ukraine Gewalt an, sondern auch ihrer eigenen russischen Tradition. Sie haben sie in einen engstirnigen Nationalismus und Imperialismus verwandelt, der vom Schatz der Barmherzigkeit der orthodoxen Tradition abgekoppelt ist. Weder Russland noch der Westen hatten die nötige Größe, um diesem Konflikt zuvorzukommen und ihn abzuwenden.

Kleine und kurzlebige Menschen - darauf weist Rosenstock-Huessy immer wieder hin - gehen auf die Suche nach Wir-Verbindungen, entwurzelt und auf der Suche nach Identität. Doch sich selbst überlassen und ohne Inspiration suchen sie nun nicht das Wir der Vollendung, als Antwort auf den Ruf des göttlichen Ichs und in Nachahmung der göttlichen Du-Person, sondern sie leben in einem vergangenheitsorientierten Wir und greifen auf alte Mythen zurück. Wem der Mut für die Zukunft fehlt, der weicht immer wieder in die Vergangenheit aus. Diese Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die es nicht gibt, die nicht mehr möglich ist und die es eigentlich nie gegeben hat, ist der gemeinsame Nenner vieler Weltpolitiker und Bevölkerungen in Ost und West. Sie finden ihre Anhänger in mutlosen Menschen ohne Inspiration, die sich mit dem zufrieden geben, was das Schicksal ihnen zuwirft. In ihrer Phantasie sind sie allmächtig, und alles Recht ist immer auf ihrer Seite, und sie fühlen sich immer angegriffen, weil der andere die Ursache für das erlittene Leid ist.

Ist eine wirklich multipolare Weltgesellschaft möglich, in der die Gesellschaften nicht nur gleichgültig nebeneinander existieren, sondern voneinander lernen und die Perlen des gegenseitigen Erbes übernehmen 49? Rosenstock-Huessy spricht von einem mehrsprachigen Frieden 50. Damit meint er dasselbe wie Ehrenberg mit der Heimkehr der Ketzer: Die Kostbarkeiten der eigenen Tradition werden in das umfassende Netzwerk der Weltgesellschaft eingespeist und es findet ein Austausch statt. Gegen die Instrumentalisierung und Unterwerfung von entmündigten Menschen die von Tag zu Tag leben suchen sowohl Ehrenberg als auch Rosenstock-Huessy nach Menschen, die über ihren eigenen Leben hinausschauen können. Solche Menschen leben aus einer länger andauernden Geschichte und versuchen darüber hinaus, den nächsten Schritt zum Vollendung zu verkörpern. Sie leben aus der Inspiration einer Zeit vor ihnen, die sie als Erben verkörpern, und einer Zeit nach ihnen, die ebenfalls in ihrer Lebensweise Gestalt annimmt. So werden sie größer als sie waren, größer als Rädchen in der Maschine der Produktion und des Konsums, Menschen die von Tag zu Tag leben und nicht wissen, woher und wohin. Johannes nennt diese Überschreitung der eigenen Lebenszeit in seinem Evangelium immer “ewiges Leben”. Die Menschen werden zu Inkarnationen der gesamten Weltgeschichte und machen ihre Inspirationen zu Beiträgen für die Gesellschaft von morgen, im Konzert, in Reaktion auf und in Verbindung mit anderen Inspirationen, die zum Frieden beitragen. Die gegenwärtige Situation mit ihren Konflikten und Spannungen unterstreicht die Notwendigkeit dieser Aufgabe. Doch inmitten aller Entmutigung gibt es einen Trost: Das, was nötig ist, geschieht, denn das Werk des Geistes wird immer im Verborgenen vorbereitet. Das ist die Art und Weise, wie der Geist wirkt.

aus dem Mitgliederbrief 2024-08 Dieser Text in englischer oder niederländischer Sprache

Referenzen

  1. Ehrenberg, H., 1923., Östliches Christentum, Bd. I, II, Rosenzweig, F., 1921., Der Stern der Erlösung, Rosenstock-Huessy, E., 1920., Die Hochzeit des Krieges und der Revolution, und 1924 Angewandte Seelenkunde. 

  2. Rosenstock Huessy, E., 1924., Angewandte Seelenkunde: Ein programmatische Übersetzung, Darmstadt, Röther-Verlag. 

  3. Lossky, V., 2022. The Mystical Theology of the Eastern Church, Crux Press, p. 25 (first edition 1944). 

  4. Rosenstock-Huessy, Christ, Moses, Pharao, 23-2-2024. 

  5. Van Kapella - das ist eine Anspielung auf die Kappa von Martin von Tour, dem großen abendländischen Heiligen. Karl der Große versuchte, aus seinem Andenken Autorität abzuleiten. Siehe: Rosenstock–Huessy, E., Wittig, J., 1998. Die Furt der Franken und das Schisma, in Das Alter der Kirche, in Agenda, Münster, pp. 460-533, (Orig. 1928). 

  6. Die Synode von Nizäa im Jahr 787 befasste sich mit der Frage, ob Ikonen in der Kirche zulässig seien. Der Islam hat ein striktes Bilderverbot, und unter seinem Einfluss wurde die Frage aktuell, ob die Kirche nicht auch dieser Politik folgen sollte. 

  7. Rosenstock-Huessy, E., 1998, Ibid. 

  8. Rosenstock-Huessy, E., 1998, Ibid. Das Nizänische Glaubensbekenntnis wurde auf dem großen ersten Konzil der Kirche festgestellt, das 325 unter dem Vorsitz von Konstantin dem Großen tagte, der gerade zum Christentum übergetreten war. In diesem Glaubensbekenntnis, in dem die Kirche ihren Glauben zusammenfasst, findet sich die Formulierung, dass die Kirche unter anderem “… an den Heiligen Geist glaubt, der Herr ist und lebendig macht, der vom Vater (und dem Sohn) ausgeht, der zusammen mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird, der durch die Propheten gesprochen hat”. In der Fassung von 325 fehlt der Klammerzusatz “und der Sohn”. Diese Formulierung wollten die Hoftheologen Karls des Großen einfügen. 

  9. Rosenstock–Huessy, E., 1989. Die Europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, Moers, Brendow, p. 155, (Orig. 1931). 

  10. Rosenstock-Huessy, E 1963.Liturgisches Denken, p. 468, in Die Sprache des Menschengeschlecht, Bd. I, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg. 

  11. Rosenstock-Huessy, Ibid. 468. 

  12. Rosenstock-Huessy, Ibid. 475. 

  13. Rosenstock-Huessy, E., 1989, pp.169 vv. Es ist wichtig zu beachten, dass Städte auch von Bruderschaften regiert wurden. Alle Bürger der Stadt waren Mitglieder dieser Bruderschaft und leisteten einen Eid auf die so erlassenen Gesetze. 

  14. Rosenstock-Huessy, E., 1989, p.148. 

  15. Der besagte Text wird in den Statuten der Bruderschaften häufiger zitiert. Rosser, G., 2015. The Art of Solidarity in the Middle Ages – Guilds in England 1250-1550, Oxford, United Kingdom, p. 59. 

  16. Rosenstock-Huessy, E., 1998, pp. 38,39. 

  17. Greif, A. 2006. Family Structure, Institutions, and Growth: The Origins and Implications of Western Corporations, American Economic Review, 96 (2): 308-312. 

  18. Rosenstock-Huessy, Ibid., p. 41. 

  19. Rosenstock-Huessy, Ibid., p. 41. 

  20. Moore, R.I., 2000. The first European Revolution, 970-1215, Blackwell Publishing, Oxford, p.57. 

  21. Rosenstock-Huessy, Ibid., p. 45. 

  22. Rosenstock–Huessy, E., Wittig, J., 1998. Die Epochen des Kirchenrechts, pp.31-58, in Das Alter der Kirche Bd.II, in Agenda, Münster (Orig. 1928), p. 46. 

  23. Rosenstock-Huessy, Ibid., p. 58. 

  24. Rosenstock-Huessy, Ibid., p. 58. 

  25. Ehrenberg H., 1923. Östliches Christentum, 2Bd. Oskar Beck München. 

  26. Ibid. Bd. 1, p. 337. 

  27. Thon, N., 1986., Hans Ehrenbergs Auseinandersetzung mit dem “östlichen Christentum”, in Franz Rosenzweig en Hans Ehrenberg, Bericht einer Beziehung, Arnoldhainer Texte, Haag und Herchen, pp.150 e.v. 

  28. Ibid. Bd. 1, p. 344. 

  29. Ibid. Bd. 1, p. 336, zie ook: “Nur das politisch integrierte Russland in Europa, in der vollen Entfaltung seiner politischen Leidenschaften, schließt sich nun auch geistig an Europa an” p. 345. 

  30. Ibid. Bd. 1, p. 356 Ehrenberg sagt das über die Sovjet-Union. 

  31. Ibid. Bd. 1, p. 358. 

  32. Ehrenberg, H. 1920. Die Heimkehr des Ketzers – eine Wegweisung, Patmos Verlag, Würzburg, pp. 46 e.v. 

  33. Berdjajew, N., 1948., The Russian Idea, New York, MacMillan, (Orig. 1947), p. 128. 

  34. Ibid. 1923., p. 367. 

  35. Rosenstock-Huessy, 1989, p. 251. 

  36. Rosenstock-Huessy, 1920., Das Kapitel Die Tochter, pp.270-288. 

  37. Florenski, P., An den Wasserscheiden des Denkens, edition KONTEXT, pp. 76 e.v. 

  38. Melzer, F., 1973. Das Licht der Welt, Ev. Missionsverlag Stuttgart, p.52, weist darauf hin, dass Wirklichkeit ein Wort ist, das im Westen ebenfalls christliche Ursprünge hat, nämlich aus der Mystik als Übersetzung des lateinischen actualitas stammt. Es bezieht sich auf das Wirken Gottes. 

  39. Laslett, P., 2015. The World We Have Lost, Further Explored, Routledge, New York, (Original 1965). 

  40. In dieser scheinbar rein säkularen Betrachtung der Natur blieb ein wichtiges Element des Glaubens behalten. Denn man ließ sich nicht mehr von der chaotischen Welt in Panik versetzen, sondern wandte sich im Glauben furchtlos der scheinbar gespenstischen Welt zu und entdeckte dank dieses Glaubens eine Ordnung in ihr. Siehe Rosenstock-Huessy, E., 1964. In die Zahlensprache der Physik, in Die Sprache des Menschengeschlechts, Bd. II, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg, pp.221-276. 

  41. Rosenstock-Huessy, E. 1970. Speech and reality, Norwich, Argo Books, p. 26, 27: “Natural philosophy and natural science endeavor that the facts which we obtain through the senses about physical nature and its elements, may be proved, with the exception of space and its expansion by necessary reasoning without the authority of our impression.” Auf der Seite davor hat er Anselms theologische Regel für die Scholastik wiedergegeben, die sich die Naturwissenschaft als Vorbild für den Umgang mit der “Wirklichkeit” nimmt. “The science of theology with its organon logic, is based on one irreducible datum in experience, the Crucifixion; all the rest is given to free research and disputation.” 

  42. Zo Rosenstock-Huessy über den Opiumkrieg, den England zum Wohle der indischen Opiumbauern gegen China führte. Mit diesem Krieg setzte sich England angeblich für den Freihandel ein, der von China bedroht wurde, ohne die schädlichen Auswirkungen des Opiums auf das chinesische Volk zu berücksichtigen. Siehe Peace Corps, 1966, https://www.erhfund.org/search-the-works/ 26-2-2024. 

  43. Rosenstock-Huessy, E., 2001, Friedensbedingungen der planetarische Gesellschaft: zur Ökonomie der Zeit, Ed. Rudolf Hermeier, Agenda Verlag, pp.103-112. 

  44. Rosenstock-Huessy, E., 1924. Industrievolk, Carolus-Druckerei, Frankfurt, p. 38. 

  45. Rosenstock-Huessy, E., 1970. Articulated speech, pp.45 - 66, in Speech and Reality. 

  46. Natürlich ist mit Russifizierung in Ehrenbergs Sprache etwas ganz anderes gemeint als das, was das Regime in Russland mit der Russifizierung der ukrainischen Bürger und Gebiete bezweckt. 

  47. Kroesen J.O., 2015. Towards Planetary Society: the Institutionalization of Love in the work of Rosenstock-Huessy, Rosenzweig and Levinas, in Culture, Theory and Critique, Taylor and Francis 56:1, DOI: 10.1080/14735784.2014.995770, pp. 73-86. 

  48. Hrytsak weist darauf hin, dass Peter der Große mit seiner Zentralisierungs- und Reformpolitik die damals gängige Ideologie des europäischen aufgeklärten Despotismus übernahm, Yaroslav Hrytsak, Ukraine – The Forging of a Nation, Sphere, Londen, 2023, p.112. Es ist ein gutes Beispiel dafür, was schief gehen kann, wenn Institutionen linear von einem Kontext in einen anderen übernommen werden. Schließlich hatte der aufgeklärte Despotismus trotz seines Namens in Westeuropa immer noch ein ausreichendes Gegengewicht und schaffte deshalb die Rolle der unteren Behörden nicht ab, sondern machte sie zweitrangig. Dieselbe Politik bedeutete in Russland, wo es diese Selbstorganisation von unten noch nicht gab, etwas ganz anderes. 

  49. Sowohl Putin als auch Xi behaupten, eine multipolare Weltordnung anstreben zu wollen. Aber gerade sie sind Vertreter eines zentralistischen Staatsapparates, der sich noch nicht für den Dialog, die Interaktion mit der Zivilgesellschaft mit ihren vielen Akteuren geöffnet hat. Eine wirklich multipolare Gesellschaft erfordert Vielstimmigkeit sowohl innerhalb als auch zwischen den Staaten. 

  50. Rosenstock-Huessy, E., 1993. Mad Economics or Polyglot Peace, in Stimmstein 4, Talheimer, pp. 24 – 69.